Theater der Zeit

Editorial

Editorial

von Nathalie Eckstein

Erschienen in: Arbeitsbuch 2024: Werk-Stück II – Die neue Regie-Generation (07/2024)

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Das vorliegende Arbeitsbuch versammelt 20 Porträts einer neuen Generation von jungen Schauspielregisseur:innen. Sie arbeiten an großen Häusern, ihre Arbeiten werden zu großen Festivals eingeladen, teilweise leiten sie selbst Ensembles und Häuser – und das nicht nur in Deutschland, sondern im ganzen deutschsprachigen Raum. Und: Sie alle sind in den 1980er und Anfang der 1990er Jahre geboren.

In den vergangenen Jahren hat sich im Theater einiges getan. Es stand unter großen gesellschaftlichen wie historischen Belastungen – bis zur Zerreißprobe. Gleichzeitig hat es sich, das ist sicher die einzig allgemeine Feststellung, die sich ohne weiteres treffen lässt, diversifiziert. Das Theater ist weiblicher geworden, es ist migrantischer geworden und die Millennials, zu denen alle hier Vorgestellten gehören, arbeiten kollektiver. Sie haben sich in ihrer Praxis von der Idee der erfolgreichen Einzelkünstler:in mit Genie­anspruch verabschiedet. Deutschland ist nicht länger durch eine physische Mauer geteilt, das Internet hat das Aufwachsen selbstverständlich begleitet, die negativen Konsequenzen eines globalen Kapitalismus intensivieren sich unablässig. Und all das zeigt sich auch.

Als eine neue Generation waren sich Regisseur:innen niemals mehr der eigenen Verortung, der eigenen Position und damit auch der eigenen Privilegien bewusst. Denn nach wie vor geht mit dem Regieberuf ein Machtbegriff einher, doch dieses Arbeitsbuch zeigt, wie Macht und Verantwortung zusammenhängen und der Machtbegriff selbst auch subversiv verwendet werden kann.

Dazu hat sich auch das Verhältnis zum Text radikal verändert. Kanonische Texte werden nicht mehr unhinterfragt angenommen, sie werden von der Regie kommentiert, verändert, überschrieben, collagiert – wenn nicht die Regisseur:innen selbst schreiben.

So bezieht sich dieses Arbeitsbuch zwar auf „Stück-Werk I“, das 2003 bei Theater der Zeit erschien, aber die Prägungen, Erfahrungen und Arbeitsweisen, das ganze Feld des Theaters hat sich seither grundlegend verändert. Höchste Zeit also, die neue Generation erstmals so zusammengestellt in Porträts zu präsentieren.

Ein solches Arbeitsbuch kann immer nur eine Auswahl bieten, die selbst wieder Ausschlüsse produziert und weder als vollständig gelten kann, noch als kanonisch anzu­sehen ist. Auch soll diese Auswahl nicht als Bestenliste verstanden werden, sondern eher als eine Art Querschnitt. Die Positionen der Regisseur:innen sind so unterschiedlich wie ihre Inhalte und Motivationen. Sie arbeiten freischaffend, sind als Hausregisseur:innen einem Theater verbunden oder leiten als Schauspieldirektor:innen gar ein eigenes Ensemble. Auch das Alter soll nur als eine Wegmarke verstanden werden, nicht als Kriterium der Bewertung oder Beurteilung. So geht es immer auch um ihre Ausbildungen und Herkünfte, ihre Verortungen und Herangehensweisen. Alle Regisseur:innen haben von anderen gelernt, die vor ihnen da waren. So gibt hier mit „Stück-Werk II“ im Anschluss ans „Stück-Werk I“ auch eine Generation einer neuen den Staffelstab in die Hand.

Und so unterschiedlich die verschiedenen Positionen sind, so unterschiedlich werden sie hier auch vorgestellt. Längst ist der Gedanke überholt, aus einer objektiven Perspektive über Inszenierungen ebenso wie über Menschen berichten zu können. Längst arbeiten wir alle in dem Bewusstsein unserer jeweiligen Perspektive, die begrenzt ist. Das Arbeitsbuch versucht nicht nur, eine neue Generation der Regisseur:innen vorzustellen. Es versucht mehr noch, die je eigene Perspektive der Autor:innen produktiv zu machen und auf die Form des Porträts anzuwenden. So unterscheiden sich die Texte zu den einzelnen Regisseur:innen und nähern sich ihnen aus verschiedenen Blickwinkeln – einem wissenschaftlichen, einem journalistischen, einem des persönlichen Gesprächs, oder durch eine Infragestellung des Einzelporträts überhaupt. Es ist ein Arbeitsbuch der Eigenwilligkeiten geworden – in der Kunst wie im Sprechen darüber.

Ich bedanke mich bei allen Beteiligten für die schöne Zusammenarbeit und wünsche viel Freude und Anregung beim Blättern, Lesen und Entdecken.

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