Magazin
Entdecker und Ermutiger
Dem Intendanten und Regisseur Christoph Schroth zum 80. Geburtstag
von Gunnar Decker
Erschienen in: Theater der Zeit: Playtime! – Der Theatermacher Herbert Fritsch (05/2017)
Was ist das Volk und wie kann man für dieses ein intelligentes Theater machen? Das wurde zu einer der Christoph Schroth antreibenden Fragen, erst in Halle, dann in Schwerin und schließlich in Cottbus. Da nahm jemand den Anspruch der „gebildeten Nation“ unbedingt ernst, ernster als jene SED-Kulturpolitik, die das Thema der Nation mal favorisierte, mal tabuisierte. Schroth aber wusste, das Erbe der Geschichte bleibt einem politisch relevanten Theater aufgegeben, so oder so. Für ihn gab es immer eine gangbare Brücke zwischen Volkstheater und Avantgarde.
Als der junge Regisseur 1966 an das Landestheater Halle kam, war dies mit Horst Schönemann eine der wichtigsten Bühne der DDR, wenn es um Gegenwartsdramatik ging. Doch die Gegenwart war etwas, das nach dem 11. ZK-Plenum im Dezember 1965 nicht mehr in ungeschönter Widersprüchlichkeit in der Öffentlichkeit diskutiert werden sollte. In dem Jahr, als Schroth nach Halle kam, war bereits wieder schöne heile Welt, „sozialistische Menschengemeinschaft“ mit kleinen Schönheitsfehlern angesagt. Im Jahr zuvor war von Hermann Kant „Die Aula“ erschienen, das war für die SED das Buch der Stunde. Aber Schroth wollte einen anderen, aggressiveren Text zumindest parallel dazu inszenieren, Heiner Müllers „Der Bau“. Das passierte jedoch nicht, es blieb bei Schönemanns „Aula“-Inszenierung, und Schroth ergriff der Ekel vor dem, was sich hier abspielte: „Aber damals fand ich das richtig verlogen, alles amüsierte sich und schlug sich auf die Schenkel, so eine heile Welt und so humorvoll und alle Probleme lösbar – das war alles zu schön. Ich mochte diese Aufführung überhaupt nicht.“ Schroth prägt dann auch ein Wort für diese Art pseudokritischer Kunst: „Bestätigungstheater“.
Er sucht nach neuen Impulsen und findet sie bei Benno Besson an der Volksbühne. Hier inszeniert er dann 1972 Ulrich Plenzdorfs „Die neuen Leiden des jungen W.“. Als er 1974 Schauspieldirektor am Staatstheater Schwerin wird, beginnt eine Ära, die bis zur Wende andauern wird. Hier hat er die Möglichkeit, über einen längeren Zeitraum mit Gleichgesinnten eine eigene Form von intelligentem Volkstheater zu entwickeln. Der technische Direktor aus dieser späten DDR-Zeit, Joachim Kümmritz, erinnert sich heute immer noch mit Schrecken, in dem allerdings Bewunderung mitschwingt, an diese Zeit: Schroth holte immer mehr Leute, und er sollte sie alle bezahlen!
Wie Besson in Berlin versuchte Schroth die Spektakel-Form mit der des Autorentheaters zu verbinden. Die Reihe „Entdeckungen“ mit thematischen Schwerpunkten, zu denen neben Inszenierungen auch Lesungen neuer Texte und Zuschauergespräche gehörten, wurde geboren. Schwerin probte den Aufbruch in eine selbstbestimmte Art des Umgangs mit der eigenen Geschichte und galt plötzlich als intellektuelles Zentrum.
Zu Brigitte Reimanns „Franziska Linkerhand“ (1978 mit Angelika Waller) kamen bereits Zuschauer aus dem ganzen Land nach Schwerin, vor allem aber ein Jahr später zu den beiden Teilen des „Faust“, die legendär wurden. Warum? Weil hier mit der Pose des repräsentierenden Klassikers radikal gebrochen wurde. Der Intellektuelle Faust ist erstmals in der DDR-Aufführungsgeschichte ein zweifelhafter Typ, der ohne Mephisto als Ratgeber nichts wäre. Das, aber auch die bacchantischen Volksszenen, in denen sich die anarchistische Kraft von ungezügelten Massen zeigte, missfielen den örtlichen Funktionären. Doch Schroth war bereits eine Macht im Theaterland DDR, und der übliche Zensur-Spruch „So was wollen unsere Menschen nicht sehen“ verfing nicht mehr. Sie wollten es sehen!
Mit der Wende begann die Zeit der traumlosen Realsetzungen. Utopien schienen nicht mehr gefragt, ebenso wenig der Volkstheateransatz. Das zeigte sich, als Schroth nach der Wende als Regisseur ans Berliner Ensemble ging, wo er 1980 bereits von Michail Schatrow „Blaue Pferde auf rotem Gras“ auf die Bühne gebracht hatte, ein furios alle Grenzen sprengendes Zugleich von revolutionärem Happening und dessen kühler Demontage. Für diese Art mit Widersprüchen spielendem Theateransatz, der versuchte, mittels Ideologiekritik die Utopie als Traum vom anderen Leben wachzuhalten, war 1990 eine schlechte Zeit.
In Cottbus schließlich fand Schroth kurz darauf, immerhin ein Jahrzehnt lang, nochmals ein zweites Schwerin, einen Ort, den er wiederum mit seiner Handschrift zu prägen vermochte. Was in Schwerin die „Entdeckungen“ waren, wurden in Cottbus die „Zonenrandermutigungen“. Theater als Form gedacht, anders zu leben. Ein Überlebensmittel. //