Auftritt
Schiller-Theater Rudolstadt: Ein Kindskopf schreit nach Liebe
„Don Karlos“ von Friedrich Schiller – Regie Henriette Hörnigk, Bühne und Kostüme Henrike Engel, Sound und Video Bernd Bradler
von Michael Helbing
Assoziationen: Thüringen Theaterkritiken Henriette Hörnigk Friedrich Schiller Steffen Mensching Theater Rudolstadt

Nach der Pause, zu Beginn des vierten Aktes, womit zugleich der deutlich unaufgeräumtere und dennoch sehr viel bessere Teil dieses längeren Abends beginnt, bekommt die Marquisin von Mondecar doch noch ihr heiß ersehntes Inquisitionsgericht zu Gesicht. „Ja, aber nur in der Oper.“ Die Damen der Königin und diese mittendrin betrachten Verdis Autodafé-Szene aus „Don Carlo“. Worauf unter den Damen eine muntere, nahezu leidenschaftliche Theaterdebatte entflammt: Maximen und Reflexionen zur Schaubühne aus zwei berühmten Schiller-Reden („Wahrheit geht verloren durch Übertreibung“), durchsetzt mit solchen von Antonin Artaud oder Heiner Müller.
Sie fordern derart ein Theater, das uns wachrüttelt („Herz und Nerven“), und rütteln dabei schonmal an den Brettern dieses alten Bühnen- und komplett neuen Zuschauerhauses, die jetzt Schiller-Theater heißen: nach acht Jahren Interim also eine Wieder- und zugleich Neueröffnung im Schillerort Rudolstadt, wo „Don Karlos“ zuerst 1794 gastierte, mit Goethes Hoftheater aus dem nahen Weimar.
Hier, wo sie unter der Intendanz von Steffen Mensching das Theater mit dem alten Dichter und Denker immer noch als moralische Anstalt und Schule der praktischen Weisheit behaupten (siehe auch TdZ 9/2024), wo sie mit Realismus und Idealismus der Empfindung Raum geben mögen, ein Mensch zu sein, bringen sie das opulente Drama der großen Empfindsamkeit und kleinlichen Empfindlichkeiten neu an den Start. In dieser Inszenierung treffen, in Historie und Traditionen zitierenden Kostümen, konventionellere auf unkonventionellere Spiel- und Sprechweisen. Intrigensatte Machtkämpfe und Generationenkonflikte werden auch ästhetisch ausgetragen.
Im Zentrum gastiert eine Schauspielerin in der Titelrolle, die aus dem spanischen Infanten einen von nichts und niemandem gehaltenen Kinds- und Trotzkopf macht. Der ist ein Getriebener, der sich lange windet, bevor er sich wandelt. In ihm haben sie einen, auf den kann man nicht bauen. Mit dem ist kein Staat zu machen. Dieser fiebrige Heißsporn ruft nicht nach Freiheit, der schreit nach Liebe.
Lina Habicht spielt das grandios, allerdings so, als spiele sie eine andere Inszenierung und, mitunter, eine andere Figur. Das lässt häufiger mehr an Hamlet als an Karl denken: wie sie als er immer einen halben Meter neben sich steht, sich in Spott und Ironie flüchtet, wie es drinnen so sehr rebelliert, dass kein Kopf und kein Herz übrigbleiben, draußen eine Rebellion anzuzetteln.
Habicht motzt ihre Hosenrolle mit keinerlei Männlichkeitsgeste auf; so geht ihr keine Wahrheit durch Übertreibung verloren. Wie sie den hohen Ton des dramatischen Gedichts mit seiner stotternden Briefdramaturgie bewusst unterläuft, wild und widerborstig, und dabei doch eine große Spielhöhe erreicht (innerlich bewegt und beweglich), hat sie hier lange Zeit über beinahe exklusiv.
Dagegen fällt alles andere doch leider etwas ab, vor allem Philipp II. bei Markus Seidensticker, sonst eher als Komödiant eine Bank. Der unterläuft nicht den Ton, sondern die Rolle, die ihn mehr beherrscht als er sie. Das erreicht nie den König, das bleibt immer Bürgersmann. Klaudia Raabes Elisabeth hingegen ist eine Königin, aber keine heimliche Geliebte des Infanten, dessen Braut sie einst gewesen. Der fällt zwar in Aranjuez gleich mal über sie her, man knutscht später verstohlen in der Ecke. Aber sie strahlt ihm gegenüber, in Würde gefangen, doch nur (Stief-)Mütterliches aus.
Johannes Geißers Marquis Posa ist Karls ganzes Gegenteil. Der kann auf ihn bauen, sich sogar auf seinem Rücken tragen lassen. Dieser Posa will einer aus unseren Reihen sein, aus denen er vor den König tritt als kühler Kopf: zu kühl, um sich glaubhaft zu verrennen in seiner politischen Mission einer Befreiungsbewegung. Ein dunkler Ritter mit hellen Gedanken, bleibt er ganz der aufrechte, geradlinige, unbestechliche Kerl; eine Portion Verschlagenheit täte dem mal ganz gut.
Eine merkwürdige Wandlung durchläuft die Prinzessin Eboli der Anne Kies, die eine alternde, eigentlich zu alte Figur zeigt, einäugig nicht wie das dramatische, aber das historische Vorbild. Sie behauptet eine an Leib und Seele versehrte Frau, die bei Hofe zeitlebens Komödie spielen musste. Jetzt beginnt sie als die komische Alte, die erst, als beim Taktieren alle Felle wegschwimmen, ins tragische Fach wechselt. Je mehr sie am Boden liegt, umso mehr Eboli wird daraus.
Johannes Arpes Herzog Alba kommt als finsterer Comandante Franco daher. Bewegte Bilder aus dem spanischen Bürgerkrieg gibt es auch, später solche vom amtierenden Philipp VI., wie er 2024 gegen Schlamm abgeschirmt wird, den seine Bürger nach einer Flutkatastrophe in Valencia nach ihm warfen. Überhaupt spart die Inszenierung nicht mit allerlei spanischem Kolorit, wozu das Folkore-Tanzensemble Rudolstadts beiträgt. Die Darsteller aber beginnen: Die Reihe geschlossen, der Vorhang auch, treten und stampfen sie auf, mit Masken und Fächern, zu flamencotauglichen Klängen einer Filmmusik. Und wie für einen Film legt sich ein Soundtrack unter Szenen und dazwischen. So vor allem schaffen sie Atmosphäre, anders kaum. Bis zur Pause.
Danach aber überschlagen sich die Ereignisse wie auch die theatralen Mittel rund um Palast und Kloster, für die die Bühne kaum mehr als ein dreh- und fahrbares Haus braucht: drinnen Stufen einer Holzterrasse, Rutschstangen an der Seite. Damit öffnen und schließen sich Räume, Perspektivwechsel werden sinnbildlich. Zeitökonomisch läuft bald ein Live-Ticker übers Portal („Der König hat geweint“) und kürzt die lange Handlung etwas ab. Und aus Ideen werden zunehmend Menschen in aller Zerrissenheit und Bitterkeit, denen sich beim Denken und Fühlen zuschauen lässt.
Der Abend gönnt Karlos einen offenen Ausgang; womöglich hat sich Posa nicht umsonst geopfert. Und er birgt darüber hinaus auch insgesamt eine Hoffnung auf Wandlungsfähigkeit: die des Menschen und die des Theaters.
Erschienen am 18.9.2025