Auftritt
Deutsches Schauspielhaus Hamburg: Vampire im Klimaaktivismus
„Vampire’s Mountain“ von Philippe Quesne – Regie, Bühne und Kostüme Philippe Quesne, Mitarbeit Bühne Elodie Dauguet, Mitarbeit Kostüm Marie-Luise Otto
von Peter Helling
Assoziationen: Hamburg Theaterkritiken Philippe Quesne Schauspielhaus Hamburg
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Wenn sich der Vorhang öffnet, blickt man in einen nebligen Nadelwald: Die Illusion ist so perfekt, dass man nicht merkt, ob es modellierte Bäume sind, ein bemalter Prospekt oder tatsächlich ein atmender stiller Forst. Und diesen Wald betreten aus einem Loch im Bühnenboden der Reihe nach Wesen aus einer anderen Wirklichkeit. Vampire sind sie, das sieht man, sobald das Licht etwas hochfährt, eine Gruppe recht munterer Untoter mit imposanten Gebissen. Von fern dringt ein Choral von Bach, „Ach, wie flüchtig, ach wie nichtig“, aus einem altmodischen Tonbandgerät. Die Gruppe hievt einen Sarg aus der Unterbühne und erlaubt sich gleich am Anfang einen Spaß: Sie spielen einander schaurig-filmreife Auftritte vor. Ein Vampir füllt den Sarg mit Bühnennebel, von innen geht die Klappe auf, und heraus tritt ein anderer, stapft mit gefletschtem Gebiss auf das Publikum zu. Nur kurz, dann brechen alle in heiseres Gelächter aus: Sie haben einen Mordsspaß, „Vampir“ zu spielen und sind es doch selbst. Einer trägt eine abgenagte menschliche Hand mit sich herum als Partysnack. Regisseur Philippe Quesne erschafft mit seinem Ensemble, seinen Kostümen und seinem Bühnenentwurf eine surreale Welt, rabenschwarz-witzig, fast ohne Worte. Eine Welt der Vampire ohne einen einzigen Menschen: Die fehlen hier. So erscheinen die Vampire wie die letzten Überlebenden einer Katastrophe, notdürftig ernährt mittels einiger Blutkonserven. Wie lange die wohl noch reichen?
Die Vampirfamilie in cooler, eleganter Kleidung zwischen Rokoko-Zitat und Gothic-Look wirkt aufs Schönste amüsiert. Ihr Humor ist fürchterlich verlangsamt, ihre Pointen zünden in Zeitlupe, meistens nur mit Gesten und Mimik, etwa die Freude über eine besonders köstliche Darbietung eines anderen Familienmitglieds. Neben der ersten Prämisse, dass es in diesem Stück keine Hominiden mehr gibt außer in Form vergammelter Leichtenteile und Skelette, ist die zweite Prämisse: Diese Untoten sterben nicht. Sie haben Zeit. Und das ist natürlich gefundenes Fressen für einen Theaterkünstler wie Philippe Quesne, der seinen Abend verschwenderisch langsam aufbaut, gefüllt mit teils sinnigen, teils unsinnigen Scherzen und kleineren Aktionen der Vampire. Es ist schaurig-melancholische Bühnenkunst mit einem Ensemble, das wunderbar aufeinander eingespielt ist wie eine perfekt gestimmte Jazz-Formation. Alles wirkt improvisiert, leicht verschoben, und doch von einem sanften Rhythmus getragen. Und ja, man braucht beim Zuschauen Geduld. Da wird Samuel Beckett zitiert, auch Hamlet, da werden Choräle gesummt, der berühmte „Cold-Song“ von Henry Purcell angestimmt, Bettina Stucky rezitiert Lord Byron. Es sind die Restbestände einer romantischen Kulturtradition, deren Erfinder und Träger, die Menschen, längst Geschichte sind, und dieses Vakuum erzeugt eine seltsam zarte Tragikomik.
Dann verändert sich der Raum komplett, plötzlich verschwindet der Wald, und die Vampire stehen vor einem gleißend weiß-blauen Bergmassiv-Prospekt. Sie staunen, vergleichen ihre eigenen Zähne mit den gemalten Bergzacken und lachen wieder heiser. Sie spielen Skilift und Klettern am Seil, mimen künstliche Panik beim Blick in gähnende Abgründe. Ein Vampir (wundervoll täppisch: Samuel Weiss) stolpert in den Bühnengraben, respektive: eine Gletscherspalte, und klettert ohne Kopf heraus. Dies ist die dritte Prämisse dieses wundersamen Abends: Diese Wesen kennen keine Angst. Und damit wird natürlich alles albern und zitathaft-zauberhaft zugleich: Theater nämlich, Gaukelei. Und trotzdem, an einem Punkt scheinen selbst Vampire Panik zu bekommen: Als der gemalte Prospekt von oben heruntergelassen wird, das Bergmassiv wie in einem Meer zu versinken scheint, wird Sachiko Hara – sie spielt eine besonders gutgelaunte Vampirin – die Angst vor dem Klimawandel auf Japanisch in den Äther rufen. Diese Vampire sind die allerletzen Klimaaktivisten, wenn es Menschen längst nicht mehr gibt. Mit zwei weiteren Bühnenwechseln scheint sie der natürliche Lebensraum für Wesen, die nicht sterben können, aber „Sterben“ spielen. Im letzten Drittel geht dem langsamen Abend, der die Bühnenzeit anhält und aushebelt, die Luft aus. Da wird es lang, auch langatmig. Und doch gelingt diesem hochinspirierten Team, diesen Langsamkeitsvirtuosen auf der Bühne ein poetisches Theatererlebnis, das wie nebenbei die Krisen unserer Zeit in sich spiegelt. Ganz einfach, indem es uns – die Menschen – völlig negiert, nur imitiert. Das wirkt fast angenehm befreiend …
Erschienen am 21.10.2025