Theater der Zeit

II. Auftreten in Raum und Zeit

Suspendierung des Auftritts

Erschienen in: Recherchen 115: Auftreten – Wege auf die Bühne (11/2014)

Assoziationen: Schauspiel Dramaturgie Wissenschaft

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Immer wieder, bei Shakespeare, bei Calderon füllen Kämpfe den letzten Akt und Könige, Prinzen, Knappen und Gefolge ‚treten fliehend auf‘. Der Augenblick, da sie Zuschauern sichtbar werden, lässt sie einhalten. Der Flucht der dramatischen Personen gebietet die Szene halt.503

Das Folgende versteht sich als Beitrag zur Erkundung des Auftritts, jenes physischen Vorgangs, der zugleich ein symbolischer ist, der kaum thematisiert, der kaum gesehen wird, weil er am Rande der Szene, auf der Schwelle zu ihr statthat, weil er als Voraussetzung von Szene und szenischer Darstellung dieser nicht vollständig angehört und nicht in diese inkludiert werden kann, doch schreibt er sich ins theatrale Geschehen ein. Die Suspendierung des Auftritts betrifft alle seine Dimensionen, da er einerseits als theatraler ein physischer Vorgang des Vor- und Übertritts ist, während im Auftritt zugleich ein symbolischer Vorgang statthaben muss, damit es sich um den einer dramatischen Figur gehandelt haben wird – und nicht vielmehr irgendetwas anderes, unbestimmbares. Es geht im Folgenden auch um die Suspendierung des Auftritts im Sinne dieses symbolischen Vorgangs der Figuration des Eintritts und der Unterbrechung, die der Vor- und Auftritt auf die Bühne für die dramatische Szene ist. Zugleich wird gezeigt, dass der Auftritt ‚selbst‘ untrennbar von seiner Suspension ist.

I.

Ausgehen möchte ich von Lulu, die sowohl in Frank Wedekinds Theaterstück Lulu. Erdgeist wie auch in Georg Wilhelm Pabsts Film Die Büchse der Pandora den Auftritt zu einer Aufführung jenes Theaterstücks verweigert, das Alwa mit Lulu in verschiedenen Tanzrollen, die vor allem durch vielfaches Umkleiden hergestellt werden, herausgebracht hat. Diese Verweigerung, die Weigerung Lulus vor den Augen der Verlobten Dr. Schöns aufzutreten, ist in Wedekinds Stück Teil der dramatischen Handlung. Es thematisiert die Verweigerung des Auftritts nur, nicht aber hat diese selbst statt. Denn es zeigt – statt des Auftritts im Spiel (im Spiel) und statt der leerbleibenden Bühne von Alwas Theaterstück in Wedekinds Stück – die Backstage, die selbst zur Bühne für eine andere Szene wird. Dies: außerhalb der Szene ‚eine Szene machen‘, ist hier das Thema.504 In G. W. Pabsts Film Die Büchse der Pandora von 1929 geschieht etwas anderes: Die auch für den Plot des Films zentrale Szene im Theater, der „dritte Akt“ des Filmes, stellt Lulu in einer die Medien thematisierenden Ausprägung vor, die das andere Medium, das Theater, ebenso verhandelt wie den Darstellungsmodus von Filmbildern. Pabst setzt das offstage des Theaters ins Bild, wo die Handlungsstränge sich verschränken und in Lulus Weigerung aufzutreten eine Verknotung erfahren. Aber er macht nicht die Backstage, in der Lulu den Auftritt verweigernd verbliebe, zur Bühne, sondern führt jene „Rückseite“ vor,505 die alle Auftritte und damit alle Bühnenhandlung ermöglichte – im „editing“ und „cross-cutting between the effervescence and mounting chaos on- and back-stage“, das die Filmhandlung orchestriert.506 Der Film thematisiert das für das Theater konstitutive Off/On, die Grenze, die eine Schwelle ist, die in der Bewegung, die zum Auftritt werden soll, überschritten wird, indem er die die Bühnenschwelle kreuzenden und querenden Bewegungen als unlesbare ins Bild setzt.

Die filmische Theaterszene ist eine metamediale Szene, aber die Relation von Filmbildern zur Theaterszene wäre als „the critique of theatre in the spirit of the cinema“, wie Elsässer sie auffasst,507 nicht zureichend begriffen. Denn das Spektakulöse, das das Kino auszeichne und das dieses gegen das Theater anführe, gehört dem Theater selbst an, zumal hier eine Revue mit raschen und vor allem auch reihenweisen Auf- und Abtritten zur Aufführung kommt, die nicht in der dramatischen Konstitution von Charakteren und Handlung aufgefangen und eingefasst sind. Die Filmbilder, die die Perspektive der Theaterzuschauer und damit auch jene Rahmung versagen, die die Bühne einfasst, setzen sich selbst ins Verhältnis zu den konstitutiven Rahmenbedingungen des Theaters, die durch den Auftritt und dessen Protokolle gedolmetscht werden, zur Bühne als begrenztem Raum des Sehens und des Zu-sehen-Gebens, auf den die Zuschauer im Theater durch die Trennung von ihm bezogen sind. Durch diesen Vorenthalt wird am Theater selbst – gegen jenen Rahmen, der das Drama wäre,508 den der Film vermeidet – dessen Charakter der Schaustellung akzentuiert. An der Schwelle zur Bühne wird der ansonsten heruntergespielte Aufwand merklich, der betrieben werden muss, damit Personen auf der Bühne erscheinen, kommen die Bedingungen des theatralen Zu-sehen-gegeben-Seins, das jenseits dieser Schwelle statthaben würde, in den Blick. Zugleich wird das offstage als vielfach gestaffelte Schwellenzone vorgestellt, als multiple uneinsehbare Räume –, aus denen sich alles Geschehen auf der Bühne in jenen Bewegungen, die auf der Szene innehalten, speist, indem deren „Teile“ zum kinematographischen Raum „zusammen finden“509.

Die Grenze, die die Bühne durch den Ausschluss negativ konstituiert, die im dramatischen Theater als solche nicht sichtbar werden kann, sondern im ‚szenischen Raum‘ durch den Auftritt figuriert wird, wird hier im Übergang markiert, wenn die Visier-Masken der in Serie über die Bühnenschwelle entsendeten römischen Legionäre heruntergeklappt werden, und als ein Übergang kenntlich, indem auf das künftige ‚Vor-Ort‘-Sein vorgegriffen wird. Was jede onstage-Szene allererst möglich macht, geben die kinematographischen Bilder als Bewegungen kreuz und quer über die konstitutive Grenze der und zur Bühne zu sehen: aufgelöst in die Bewegungen der Körper. Denn diese werden nicht zu jenen ganzen Körpern, deren Gestalt den Auftritt im dramatischen Theater figuriert, sondern sie kreuzen unscharf und partiell das Filmbild, in Bewegungen, die zuweilen durch Kulissen akzentuiert werden, die zerlegend, partialisierend als Trennwände und Schirme durchs Sichtfeld getragen werden. Als wilder Wechsel an der Schwelle off-/onstage wird in Szene gesetzt, was Poetiken des dramatischen Auftritts in die Konstitution von Charakteren überführt sehen wollen. Den Auftritt auf der Bühne von deren Rückräumen her vorenthaltend machen die Filmbilder, ihr editing und crosscutting, den Übergang, das Passieren der Schwelle selbst sichtbar: als ein hier nicht finalisiertes zwischen off-/onstage.

Abb. 1: Georg Wilhelm Pabst: Die Büchse der Pandora, 1929

Aber die Theaterbühne ‚selbst‘ ist als der Raum, in dessen Begrenzung die dramatische Handlung entfaltet wird, in dessen vermeintlich ‚Inneren‘, das ausschließend begrenzt, durch das Drama gerahmt, sich (in sich) schließen soll, auf ihre Grenze und damit ihr konstitutives Außen bezogen und derart in sich entzweit und in sich gedoppelt.

[E]verything that takes place on stage relates, constitutively, to what has taken and will take place off-stage […]. Every speech on stage is already an echo of itself and a response to other parts, inscribed elsewhere […].510

So ist, was im dramatischen Theater in jedem Auftritt Person soll geworden sein, „never just on the stage but always somewhere else as well“511. Alles ‚hier‘ auf der Bühne ist wie diese mit sich entzweit, denn alles Geschehen ‚jetzt und hier‘, ‚vor Ort‘,512 ist an das Ausgeschlossene anderswo verwiesen, gespalten in sich selbst: „split between […] both here and everywhere“513, zwischen – und sowohl hier und überall (anderswo). Dieser Rückbezug des Hier, dieses mit sich nicht identischen Orts aufs Irgendwoanders wird durch jeden Übertritt über die Schwelle, der einen strukturell Fremden in den Rahmen der Bühne bringt, merklich: Dieses Anderswo schleppt er ein, und dieser Bezug schleppt ihm gleichsam nach. Aber die Rückbindung (in) der Bewegung wird gekappt, sie wird auf der Szene figuriert, eine dramatische Person etabliert.514 Da der Auftritt als Übertritt über die Schwelle eine potentielle Störung der dramatischen Handlung ist, da er an deren negative Konstitution durch die Grenzsetzung erinnert und diese an das Ausgeschlossene, die ‚Rückseite‘ des Geschehens onstage bindet, muss seine Unterbrechung im Sinne der dramatischen Integration möglichst umgehend schon im Auftritt vergessen gemacht werden. Das dramatisch Konstituierte ist aber zugleich durchquert von der abgeschnittenen Beziehung auf das durch die Rahmung so sehr ausgeschiedene wie vorausgesetzte Off – irgendwoanders.

Die filmische Mise en Scène des verweigerten Auftritts ist demnach metatheatral, insofern sie das physische Passieren der Schwelle nicht im dramatischen Auftritt einer in sich geschlossenen menschenähnlichen Gestalt figuriert und derart, mit der Unlesbarkeit dessen, was die Bilder kreuzt, die Randbedingungen des Theaters thematisiert. Dabei wird umgekehrt der ganz andere Charakter des On/Off der Filmbilder als vom Körper abgelöstes Konstrukt durch Einstellung und Schnitt kenntlich.515 Sehen und Gesehenwerden koinzidieren im Akt der Darstellung durch „editing, point of view shots, framing“, die den unverorteten Blick des (Film-)Zuschauers in Ambiguitäten ‚zwischen‘ (aus-)machen.516 Zum Emblem dessen macht Pabsts Film die kinematographische Lulu als Effekt der “many different systems that […] this film [develops] for splitting perception, in order to create hesitation, indeterminacy, or ambiguity“517.

Metatheatrale Auskunft vom Auftritt kann nicht nur das andere Medium, sondern kann auch das Geschehen auf der Theaterbühne geben, obwohl dieses sich damit auf jene medialen Randbedingungen des eigenen Mediums bezieht, die vor allen Darstellungen im Medium liegen und von diesen selbst verstellt würden.

II.

Auch an meinem nächsten Beispiel lässt sich beobachten, was eine Verweigerung des Auftritts genannt werden kann, genauer handelt es sich um dessen nicht finite Verzögerung. Christoph Marthalers Theaterarbeiten wie der an der Volksbühne Berlin seit Januar 1993 gezeigte berühmte Patriotische Abend: Murx den Europäer! Murx ihn! Murx ihn! Murx ihn! Murx ihn ab! geben metatheatrale Auskunft vom Auftritt, indem sie vorenthalten, „was man bei dem dramatischen Theater den Auftritt heißt“518. Sie machen das „sich nicht Vollendende des Auftritts“, von dem Samuel Weber spricht,519 selbst wahrnehmbar. Der Auftritt, der das theatrale Geschehen ermöglicht, der ihm vorausgeht und der sich als symbolischer Akt doch in ihm vollziehen wird und dramatisch vollenden müsste, wird so auf-gehalten, dass dessen Vollendet- oder Abgeschlossensein vorenthalten ist. Das sich Vollendende des Auftritts selbst ist gar nicht ablösbar vom, fällt gar zusammen mit dem „sich nicht Vollendende[n] des Auftritts“ in dem Verzug, der der Auftritt als Vollzug im Vollzug ist, und als der er in Marthalers Theaterarbeiten wahrnehmbar wird.

Einer bekannten Erzählung zufolge geht das Theater als spezifische Anordnung aus einem Akt hervor, der anfänglich schon so physisch wie symbolisch ist: dem Vor- als Heraustreten eines Sprechers aus dem Chor, durch das dieser als einzelner sich vor diesem exponiert, ein physisches Herauslösen und ein symbolischer Bruch, ein Vorkommnis oder Ereignis.520 Derart wird der Raum des Theaters in der griechischen Antike eröffnet, und zugleich wird und bleibt dieser Zeit-Raum an den nichtbinären, nie endgültigen Bruch, an dieses nie abgeschlossene Vorkommnis gebunden.521 Er ist markiert durch die liminale Anwesenheit des Chors als Zeuge dessen, was gesprochen und gehört wird, und Spiegel der Hörenden und Sehenden im Theater. Stellt dieser Her-Vortritt das Modell des Auftritts, so wird dieses (nicht abgeschlossene) Ereignis als wiederholbares gedacht.522 Auf der Theaterbühne erfährt der Auftritt als Vor- und Heraustreten – seit der klassischen Moderne des europäischen Westens – eine mise en abyme: Er wird im Bühnengeschehen wiederholt und die Schwelle zwischen Off und On in den Schauraum hineingefaltet. So etwa in Brechts Lehrstück Die Maßnahme. Während aber in diesem wie in ähnlichen Fällen der Übergang zum Auftritt einer Dramatis Persona, etwa durch das Anlegen einer Maske, markiert ist, lassen dagegen die Theaterarbeiten Marthalers, bei denen alle Beteiligten durchgängig „eine ‚chorische‘ Präsenz“ behalten,523 gänzlich ungewiss und machen vielmehr fraglich, wo die Schwelle zum Auftritt aus dem Chor liegt oder gelegen haben wird, wo, und sei es temporär und stets auf dem Rückzug, und sogar ob eine dramatische Person sich konstituiert haben wird. Statt gesicherte Begrenzungen und deren versichernde Rahmungen vorzufinden, die dies, versteht sich, nie bleiben können, haben wir es mit auf der Schwelle verzögerten Übergängen und mit multiplen Zonen des Übergangs zu tun. So gibt Murx den Europäer! ein Geschehen zu sehen, von dem stets fraglich bleibt, ob überhaupt oder inwiefern so etwas wie dramatische Handlung überhaupt sich ausbilden wird. Es kommt vor in Murx den Europäer!, dass jemand auf der Bühne etwas sagt, das heißt – versteht sich – zitiert, was als Skript vorausgeht, was wiederholt wurde auf einer Vielzahl von Proben und wiederholt werden wird bei einer Vielzahl von weiteren Aufführungen. Es gibt auf der Bühne (aber ist das ein szenischer Raum?), wo auch irgendwas (aber was ist das?) zu sehen ist, Stimmen zu hören, die zitieren. Das ist gerade beim dramatischen Theater üblich. Der Bezug auf vorgängige und nachlaufende Rede: anderswo, wird hier aber – spezifisch – ausdrücklich, weil gegenwärtig zu hören ist, was als anonymes Gerede überall, aber stets anderswo zirkuliert. Es geschieht, dass eine Stimme verlauten lässt: „nur die Wurst hat zwei“524. Aber wer spricht? Kommt hier ein/e Sprecher/-in (von etwas) vor? Wenn etwas gemeint sein sollte, wenn etwas verstanden wird, setzt dies einen identifizierbaren Mund voraus, der spricht, das lesbare Gesicht eines Sprechers, an das die Rede zurückgebunden wird, auf das von dieser rückgeschlossen wird und das das zu Vernehmende (wie dessen Faktum) zu plausibilisieren hat. Wenn (denn) Personen auf der Bühne von Murx den Europäer! sprechen werden, so handelt es sich um jeweilige Verkörperungen für Zitationen, für die Fiktion eines der Rede vorausgesetzten Sprechers, als Mund und Gesicht für die zitierten umlaufenden Reden, das deren Verstehbarkeit vorstellen soll.

Die zitierende Rede, die in einer anderen Zeit Gesprochenes, an einem anderen Ort Verzeichnetes im Hier und Jetzt des theatralen Geschehens vergegenwärtigt, ist eine Exzitation,525 ein Vorkommnis. Lyotard expliziert dies mit einer anderen Szene: „[M]an zitiert jemanden vor das Gericht. Man veranlaßt den Zitierten, aus der Dunkelheit […] herauszutreten, man läßt ihn ins Licht […] treten.“ „Hier stößt man offenbar auf die reine Tautologie des Ereignisses: es kommt vor.“526 Es handelt sich um dasEreignis, das das Vor-Kommen als solches ist. Wie bereits erinnert, soll es das Vor- als Heraustreten eines Sprechers aus dem Chor, der damit als einzelner Sprecher sich in körperlicher Präsenz vor diesem exponiert, gewesen sein, das im Bruch, im Ausgang aus dem Kult, durch den Riss oder im Abstand einen anderen Raum und eine andere Zeit des Theaters er-öffnet habe.527 Das Vor-Kommnis, das Ereignis als Unterbrechung, irreduzibel für integrierende Fortsetzungen, den Riss und das Öffnen gibt es aber nicht als solches, als leeres und reines Vorkommnis, vielmehr tritt immer etwas oder jemand auf. Das Vorkommnis erhält ein Gesicht, die Figur für den Riss im Vortritt und anstelle des Bruchs. Dem anderswoher – aus einem anderen Ort der Toten oder (der bloß jetzt, hier) Abwesenden, aus der Gestaltlosigkeit – Hervor-Gerufenen (oder Exzitierten) wird ein Gesicht verliehen, eine Person fingiert, durch deren Mund es jetzt und hier spreche; so ist die rhetorische Figur der Prosopopöie bestimmt.528 Es handelt sich um die Figur, die Fiktion einer Person, die die Rede des (anderswoher) Exzitierten auf der gegenwärtigen Szene aufführt und figuriert. „Die sprechende Person ist die anwesende Person par excellence“, so Hans-Thies Lehmann,529 aber das Gesicht für eine Stimme ist Fiktion. Es ist eine Hervorbringung kraft der Sprache und deren Figuration, die zu unserer Beruhigung durch die Menschenähnlichkeit des verliehenen Gesichts stabilisiert wird. Das Gesicht der Rede auf der Szene ist keineswegs durch den anwesenden Schauspielerkörper auf der Bühne gegeben, sondern ist als Auftrittsfigur für die gegenwärtige Redeszene ein nachträglicher, metaleptischer Effekt der Figuration der zitierend exzitierenden Rede. Das die Verständlichkeit der Rede figurierende Gesicht wird als der gegenwärtigen Rede vorausgehendes, als deren ‚Ursprung‘ rückwirkend hervorgebracht, indem die Rede metaphorisch aufgefasst und „aus den Strukturen des Prädikats ein Analogieschluss auf die Absicht des [vor dem Gesagten vorausgesetzten, B. M.] Subjekts“ gezogen wird.530 Das tun wir gewöhnlich und dazu, sowohl was als auch wie gesprochen wird zu verstehen, indem metaphorisch ein vorausgesetzter Sprecher erschlossen wird, setzen auch die Zuschauer/-innen von Murx den Europäer! stets wieder an.531 Die Instituierung von Personae der Rede, die zu hören ist, kommt aber bei Murx den Europäer! zu keinem Abschluss. Meist bleibt es, neben dem mehr oder weniger formierten chorischen Singen oder Sprechen, beim monologischen Aufsagen (oder Singen),532 während Dialoge, die das Modell des Dramas stellen, in denen die einsam-exponierende Rede durch ihre Beantwortung, so fehl diese auch gehe, als personale, eine gleiche Gegenwart teilende aufgefasst wäre, hier allenfalls in wenigen Wortwechseln und nur ansatzweise auszumachen wären.533 Die Einsetzung von dramatischen Personen wird vorgeführt, dadurch dass sie vollzogen wird, ohne sich resultathaft vollendet und personal verfestigt zu haben. So wird das Vor-Kommen des einzelnen Sprechers, das allen gezeigten Vorgängen vorgängige Vorkommen selbst zum theatralen Vorkommnis. Die den Auftritt, den es nicht als reines Vorkommnis gibt, bestimmende Spannung zwischen leerem Ereignis534 und dessen Figuration durch ein lesbares Gesicht wird nicht resultierend aufgelöst.

Derart hat der das dramatische Theater bestimmende Auftritt nicht statt, oder es bleibt – im Aufhalt des Abschlusses seines Sichvollendens, des Verwandelns des „Geschehen[s] des Unterbrechens in einen Zustand“ – beim „unmittelbar sich nicht Vollendende[n] des Auftritts“535. Marthalers Theaterarbeiten führen eine nicht finite Verzögerung vor, ein Zögern auf der Schwelle (statt der „Grenze“, so Benjamin, eine „Zone“ des Übergangs536), die unbestimmbar überall als Off/On im Bühnenraum liegt, der nicht als szenischer Raum (vermeintlich) von innen ab-geschlossen ist.537 Kein ‚Anfang‘ (von etwas) wird gesetzt.538 Kein reiner Innenraum wird durch dessen abscheidende Begrenzung, gegen das (dadurch) zum Heterogenen, Ungestalten Erklärte, konstituiert worden sein.539 Anna Viebrocks „Theaterraum schließt seine Wirklichkeit nicht als Gebilde, das aus dem Nichts entspringt, ab“540. Der Schauraum für Murx den Europäer! ist kein geschlossener homogener szenischer Raum541 der durch den Rahmen (des Dramas) bestimmten Gegebenheiten, die durch die „Hierarchien des dramatischen Raums (Ort des Gesichts, der bedeutsamen Geste, der Konfrontation der Antagonisten)“ ‚zentriert‘ und erschlossen wären.542 Er setzt sich vielmehr zusammen aus Spuren vergangener Geschehnisse und solcher, auf die in einer unbestimmten Erwartung als ausstehende vorgegriffen ist. Ist das homogene Zeitmaß der Uhr hier (offensichtlich) ausgesetzt.543 Dieser Zeit-Raum, zu dem es kein Außen im Sinne der binären Scheidung, die zugleich den geregelten Bezug des Inneren aufs Außen und die konventionalisierte Integration des von außerhalb Kommenden im/als Auftritt von etwas/jemand müsste ermöglichen können, gibt, ist derart unbestimmt, potentiell überall in den Zitaten und Spuren in sich gespalten, von sich selbst verschieden, anderswohin bezogen.544 In ihn sind unbestimmte Zeiten der Vernutzungen eingezogen mit den diverse Zeiten speichernden und sie einschleppenden, unter anderem auch aus dem faktischen Off des Theaters, der Volksbühne bezogenen Ausstattungsstücken.545 Es ist ein ‚undichter‘ Raum der Stimmen und Schälle;546 in ihn tragen sich die theatralen Randbedingungen ein, wenn das Geschehen hier und jetzt durch von außen eingegebene Trötensignale regiert wird, die auf der Bühne den allen Auftritten vorgängigen Anruf, den im weitläufigen Off des Theaters ergehenden Einruf, in einer Verkehrung, als Signale zum Abtreten erinnern.547 Seine Grenzen sind unreguliert durchlässig – wie die Wände des Hauses der Fama:548 Alle möglichen Reden und Gesänge aus einem diffusen nie gegenwärtiggesichtigen Gerede unbestimmt anderswo können in ihn eingehen bzw. einzitiert werden. Dieser Klangraum der von (nicht gestalthaft-geschlossenen) Körpern gelösten ‚verräumlichten‘ Stimmen, deren ‚Ursprünge‘ und Identitäten entzogen, unbestimmt in/von sich selbst verschoben sind, ist ein Warteraum statt (vor und nach dem) des szenischen Raums.

Einerseits wird in Murx den Europäer! – wie und anders als in Pabsts Büchse der Pandora – der ansonsten heruntergespielte Aufwand merklich, der betrieben werden muss, damit Personen auf der Bühne erscheinen, hier: der symbolische Aufwand, der gewöhnlich unbemerkt betrieben und durch seinen Effekt verstellt wird, damit dramatische Personen aufgetreten sein werden – und nicht irgendetwas Unlesbares, der dramatischen Handlung Fremdes. (Wo die den Auftritt in den Rahmen des Dramatischen reintegrierende Figuration suspendiert ist, bleiben die im theatralen Auftritt notwendig exponierten ‚dummen‘ Körper, die in Murx den Europäer! fallend, zusammensackend, erregt, extra vorgeführt werden.) Sie verzögernd aushaltend werden jene Operationen merklich, durch die die Rede einer Persona zugerechnet wird, die rückwirkend fingiert wird, um ‚gesichtig‘ Verständlichkeit zu sichern, durch die derart exzitierend aus dem umlaufenden diffusen Gerede eine lesbare dramatische Person hervorgebracht wird. Die Ankunft des Auftritts wird im Vollzug, die diese ist, weit gedehnt und als Vorgang, der die den exzitierenden Reden vorausgesetzten Personen nachträglich konstituiert haben wird, auf- und ausgehalten. Im Auftritt, der die zitierte Rede je ist oder macht, ist das ‚Gesicht‘, unter dessen Figur sie verstanden wird, von der künstlichen Maske, als die es kenntlich wird, durchkreuzt.549 Die eigene ‚Stimme mit Gesicht‘, als die das gegenwärtig zu Hörende aufgefasst werden soll, ist durchzogen von der Spur des Nichteigenen,550 von jenem Anderen, von dem die exzitierende Rede her-kommt und dem sie – von sich selbst verschieden – verhaftet ist. Derart verhält sich jedes aktualisierende Redeereignis zu einem Anderswo anderer Reden, der gestaltlosen Potentialität des Gesagten und Sagbaren.

So lässt Murx den Europäer! andererseits das mithören, was der Hintergrund jeden Auftritts ist, von dem dieser sich nicht lösen kann. Das Verhältnis zum Chor, also die imBruch des Vorkommens ungelöste Bindung an den Chor bestimmt (überhaupt) das Zum-Sprecher-Werden auf der Szene.551 Der Chor der Reden der vielen, der unbestimmten anderen ist der Fond des Vortretenden, dessen Auftritt figuriert wird, wobei in Murx den Europäer! das Sichablösen oder -abheben, die Scheidung der Kontur vom Fond oder der Figur vom Grund nicht durchgesetzt ist. Indem der symbolische Vorgang, der aus dem physischen Akt, der Bedingung der Möglichkeit allen theatralen ‚Vor-Ort‘-Seins ist, einen dramatischen Auftritt macht, als nichtfinalisierter Prozess ausgehalten ist, behält der Auftritt als Hervortreten einer Person seinen Bezug zu den Schatten der Möglichkeiten, von denen diese in ihrer aktualisierenden Bestimmtheit sich lösen und die sie (als eine geschlossene Gestalt) verstellen würde. Marthalers Theater führt vor, dass alles Geschehen ‚vor Ort‘ auf einen anderen gestaltlosen Raum bezogen ist, den des diffusen Geredes. Alle Personen ‚vor Ort‘ sind begleitet von den Schatten möglicher Reden und Leben als ihrem unentscheidbar tiefen Hintergrund oder ihrer Randzone als „unerschöpflicher Reserve“552. Denn das Sprechen und Singen ‚hier und jetzt‘ wird sich nicht endgültig abgelöst haben von ihrem Hintergrund des anonym zirkulierenden vielstimmigen Geredes, jenes Gemurmels, aus dem die Reden (zu-)gekommen sein werden, die wir zuschreiben und damit singuläre Sprecher mit Gesicht ausweisen oder, genauer, exzitierend hervorbringen. Die Personen bleiben virtuell (Nicht-Personen), nicht gelöst von den sie schattenhaft begleitenden, potentiellen, diffus vielzähligen, anderen Sprechern.553

Die in Murx den Europäer! aufgehaltene und in ihrer Suspendierung beobachtbare Fiktion des dramatischen Auftritts, der sich vollendend eine dramatische Person etabliere, spricht in René Polleschs Schmeiß dein Ego weg! Dr. Jacques Duval (oder Martin Wuttke) wie folgt an:

M: […] Das Sprechen hier kann man weiter als Projektionen irgendwelcher Körper zulassen oder es kann als Sprechen als Stimme hier, von hier bis hier gesehen werden, das versucht, den Körper zu exponieren und nicht zu projizieren. Dieses Sprechen hier verweist auf niemanden der spricht. Wer spricht denn hier?554

Es bleibt immer fraglich, wer hier jetzt spricht: Dr. Jacques Duval oder Martin Wuttke?555 (Für Schmeiß dein Ego weg! gibt es ein Personenverzeichnis, das zugleich der Besetzungszettel der Aufführung an der Volksbühne ist, während für Polleschs JFK die Schauspieler, aber keine Dramatis Personae verzeichnet sind.) Etwas später macht der Chor die Vorhaltung: „Du willst doch hier wieder nur, dass sich Subjektivität konstituiert, und Personen an denen die Erfüllung von Moral gelingen kann“.556

III.

Wie sich wohl herumgesprochen hat, realisiert René Polleschs seit Januar 2011 an der Volksbühne Berlin aufgeführte Theaterarbeit Schmeiß dein Ego weg! die legendäre, das dramatische Theater modellierende, fiktiv den Bühnenraum gegen die Zuschauer abschließende vierte Wand. Jene Wand, Mauer oder Vorhang, die Diderot Schauspielern, Dichtern und Zuschauern gleichermaßen zu fingieren empfahl, damit sich in dem derart als geschlossen vorgestellten szenischen Raum eine in sich von innen abgeschlossene Darstellung entfalten könne, die die (nur) illusionäre Teilhabe der Zuschauer an jenem Charakter, um den die dramatische Darstellung von innen geordnet sein solle, dadurch ermögliche, dass alle potentiellen kontingenten Störungen durch die hier und jetzt gegenwärtigen (Schauspieler-) Körper oder andere, die das Hier-und-Jetzt-im-Theater-Sitzen hervorbringen könnte, ausgeschlossen wären.557 Diese vierte Wand, die explizit als eine „Redewendung“, eine Figur, die eigentlich etwas anderes meinte, ausgewiesen wird, ist hier wortwörtlich realisiert,558 in hölzerner Ausführung mit denselben Holzpaneelen, die alle Wände des Zuschauerraumes der Volksbühne decken und nun rundum laufend auch die Bühne verstellen.

M: […] Sie haben doch bestimmt von der vierten Wand gehört? […] Sie war etwas, das bis zu einem bestimmten Zeitpunkt gar nicht existierte. Es war sogar eher ein Begriff für etwas das ausgerechnet nicht existierte. Man sprach von etwas und nannte etwas die vierte Wand und meinte damit, dass sie eigentlich nicht existierte.559

Diese wörtlichnehmende Fehlrealisierung einer Redensart tut nun alles andere als die Geschlossenheit der Darstellung, ungestört durch ihre medialen Bedingungen, zu gewährleisten.560 Sie ist eine groteske Verkörperung figürlicher Rede: der aktiven Verleugnung, die die Rahmung der dramatischen Szene als deren (vermeintlich innere) Schließung vollzieht; ihr installativer Witz macht die Figürlichkeit kenntlich. Die mit der redensartlichen Wand gemeinte projektive Teilhabe der Zuschauer wird durchkreuzt und durch die Realisierung verlegt; das wird angesprochen als:

[der] Sinn […] den ihr [T.s, B. M.] Beruf nun einmal darstellte. Dass man etwas sah und es meinte einen. Es meinte die im Zuschauerraum. Es ging um eine Ähnlichkeit. Aber welche Ähnlichkeit sollte eine vierte Wand darstellen? Wen sollten die Zuschauer darin sehen […]? Am Rande welcher Darstellbarkeit war man angekommen, wenn die vierte Wand, die nie ein Körper war, plötzlich einer wurde?561

Verlegt ist jede, und sei es noch so projektive, Menschenähnlichkeit und mit dieser das aufgerufene Modell darstellender Verkörperung, die als dessen Ausdruck ein Innerliches zugänglich mache. Das versperrte Geschehen onstage, das hinter der fiktiven vierten Wand im Modus der ein Wiedererkennen ermöglichenden Einfühlung zugänglich sein sollte, wird in dieser Theaterinstallation supplementär, im anderen Medium der Videodirektübertragung aus anderen Räumen zu sehen gegeben. Das ist eine apparative Anordnung, die man aus dem Theater seit vielen Jahrzehnten562 und von fast allen Arbeiten Polleschs kennt, sie hat dennoch hier eine spezifische Pointe. Eröffnend wird die videoapparative Vorrichtung im Stück selbst, eine Art Science-Fiction, die zweihundert oder dreihundert Jahre nach der sogenannten Entdeckung der realisierten vierten Wand spiele, thematisiert. „Miss Peterson“ oder „Christine Groß“ wendet sich aus dem mit einem auffälligen Art-déco-Rahmen versehenen Videobild heraus, um die Videoübertragung fiktiv zu historisieren:

Abb. 2: René Pollesch: Schmeiß dein Ego weg!, Volksbühne Berlin, 2011

T: Vor hunderten von Jahren etwa, gab es ein sehr altes ein wirklich altes Instrument, mit dem man versuchte die vierte Wand zu überwinden. Ich weiß nicht, ob das heute noch funktioniert! Hier ist es!563

Mag es zunächst so scheinen, als werde mit den medientechnischen Vorrichtungen Diderots Anweisung an den Zuschauer, das Theater zu vergessen und „im Theater“ zu sehen, als ob er „gleichsam vor einem Vorhang steht, auf welchem ein Zauberer verschiedene Tableaux eines nach dem anderen“ projiziert,564 präzise ausgeführt, so verstellen doch die außen übertragenen Videobilder gerade jene inneren Bilder, die Diderot zufolge der Einbildungskraft des Zuschauers aufgehen sollten (die sympathetisch mit der des Dichters kommuniziere).565 Der die dramatische Rahmung doppelnde Rahmen der Guckkastenbühne ist hier durch den ausgedehnten ornamentalen Rahmen des ‚Ausblicks‘ supplementiert, ersetzt und remarkierend interpretiert. Er ruft das Fenster der Nautilus auf, des U-Boots von Jules Vernes Kapitän Nemo, das – so zumal die erste Verfilmung von Vingt mille lieues sous les mers 1916 in expliziter medialer Selbstthematisierung – den geschützten Blick in wunderbare, sonst dem Blick entzogene Welten ermögliche566 (daher wohl werden wir durch diesen Video-Bilder-Rahmen auch irgendwann in eine Unterwasserwelt hinaussehen, in der neben Fischen auch M. schwimmt). Die Ab-Wendung aus der vermeintlich dargestellten Redeszene (mit M.), mit der sich T. aus der Szene im Rahmen herauswendet, ist, versteht sich, eine parekbasis, die Diderot um der Illusion der Abgeschlossenheit willen streng untersagte, die sich „Hier“ auf die (neuen) Bedingungen der (Un-)Möglichkeit des gegenwärtigen Zeigens selbst richtet. Sie führt zugleich vor, dass trotz aller Gerahmtheit kein Tableau zu sehen gegeben wird, das von innen her zu selbstidentischer Präsenz und Ganzheit geschlossen sei, sondern das Dargestellte vielmehr im Vollzug des Zeigens sich konstituieren wird und daher durch irgendetwas (wodurch dieses sich realisiert) jederzeit sowohl vervollständigt als auch verschoben, unterbrochen oder zerstreut werden kann.567

Zwar öffnet die Videoübertragung ein Fenster der Sichtbarkeit in einen anderen, der Sichtbarkeit entzogenen Raum, wie die Teichoskopie oder Mauerschau dies im verbalen Anschluss und Eintrag des off-scenae in die Szene tut. Aber als apparative Teichoskopie ist die Videoeinspielung keineswegs nur bzw. gerade keine Ausweitung von Präsenz, die einem auf der Bühne nie erfüllbaren Präsenzverlangen nachkomme.568 Die Übertragung setzt wie und als eine Teichoskopie das Off, dessen Entzogenheit sie überwinde. In diesem Falle wird das vormalige On, die theatrale Szene, sowohl als Off als auch ins Off gesetzt. Eine Steigerung und Ausweitung von Sichtbarkeit kann zwar zunächst diagnostiziert werden: Durch die Übertragungen werden andere Räume der Sicht zugänglich, nicht nur der Raum hinter der realisierten vierten Wand, die ehemalige Szene, die zum ab-geschlossenen entzogenen Raum geworden ist, sondern ebenso der, der hinter der ehemaligen Bühnenrückwand läge, und weitere Räume und weitere Wände, die sich im Rückraum staffeln. Wo wäre hier das Off? Wohin wird es verlegt? Wird es (immer weiter) nach hinten verschoben? (Per [vermeintlicher] Live-Video-Übertragung bekommen wir als ‚letzte Grenze‘ eine Kulissenwand zu sehen, durch deren Tür höchst zeremoniell einzeln die Mitglieder des Chors eingelassen und begrüßt werden.) Oder rückt das Off nicht vielmehr nach vorne und nimmt (vor der Bühnenrückwand) hinter der ehemals redensartlichen vierten Wand das vormalige onstage ein? Oder ist es überall? Und das heißt nirgends? Denn die vermeintliche Video-Live(?)-Übertragung aus dem Off des verstellten Raumes entfernt das Gezeigte in einer rückwärtigen Staffelung von Räumen; von (mehreren) beweglichen Kameras, zerlegt und zusammengesetzt, lassen die Bilder des elektronischen Mediums dieses trotz dessen Live-Appeals569 ungewissen Zeiten und Räumen angehören.570

Die Videoübertragung hat als Teichoskopie, als die sie inszeniert ist, selbst Teil am Entzug von Sichtbarkeit (indem sie auf Abwesendes bezieht). Angewiesen auf einen Screen, auf dem ihre Bilder erscheinen, führt sie (als Groteske) aus, was das diderotsche Konzept des bürgerlichen Dramas als Abfolge zauberisch projizierter Tableaus impliziert: „Die Theaterszene als Bild verstellt den Schauplatz der Darstellung“571, und gerade derart solle sie, so das antitheatrale Phantasma, die umfassende imaginäre Teilhabe (an den Charakteren) ermöglichen. Im Falle von Polleschs JFK liegt anfänglich eine semitransparente Membran als Screen für die Videoübertragung über der Bühne, die die Sicht auf die Bühne sperrt572 – allerdings noch sehen lässt, dass sie leer ist, dass hier die Darbietung jetzt nicht statthat. Die Übertragung aus jenem Off, das ehemals der Inbegriff des onstage war, wird vorgestellt zwar als Kompensation für einen durch die realisierte fiktive vierte Wand besorgten Sichtentzug, als „ein Instrument um das Geschehen darin sichtbar zu machen“573; aber sie entzieht und sperrt selbst jenen ‚Ort‘, der „Schauplatz der Darstellung“ gewesen sein soll, durchquert und spaltet diesen (der selbst in sich entzweit ist). Sie markiert die Sperrung, wenn und indem sie sie – außen – kompensiert. Durchs Supplement einer medientechnisch ausgeführten Teichoskopie wird das theatrale Sehen (selbst) neu ‚zu sehen‘ gegeben, indem die Relation von Sichtbarkeit, Darstellung und An-/Abwesendem neu organisiert wird.

Abb. 3: René Pollesch: JFK, Deutsches Theater Berlin, 2009

Die realisierte vierte Wand lässt rückwirkend ‚verstehen‘, dass es gerade auch auf der Szene, hinter der eigentlich etwas anderes meinenden figürlichen vierten Wand, Auftritte, die als theatrale stets auch physische Akte sind, nicht gab, denn, so T.: „Für ihren Körper war es ja keine so große Veränderung. Aber seine Abwesenheit hatte sich durch die vierte Wand ein für allemal manifestiert.“574 Wenn der dramatische Auftritt (je) vollendet wäre, so müsste er die kontingente Physis, die er doch stets auch auf die Bühne bringen muss, durch ihre Figuration als verständlichen Körper in der Darstellung der Dramatis Persona vergessen gemacht haben. Die fiktive vierte Wand ‚spricht‘ davon, dass das Drama den ‚dummen Körper‘ ausschließt, ihn durch die Fiktionen aller Beteiligten durch die ausdrucksvolle Gestalt vergessen zu machen habe. Das von Schmeiß dein Ego weg! so witzig wie ernsthaft ‚neu‘ installierte Dispositiv der theatralen Sichtbarkeit erkundet demgegenüber den Auftritt, indem es physische Exposition und Bild entkoppelt und demnach den das dramatische Theater organisierenden Auftritt dissoziiert. Das theatrale Zeigen entledigt sich des Bildes als des Inbegriffs (oder Paradigmas) des vermeintlich gestalthaften Zusammenhangs von Körper und Verständlichkeit.

Abb. 4: René Pollesch: Schmeiß dein Ego weg!, Volksbühne Berlin, 2011

Das wird ausgeführt, wenn Schmeiß dein Ego weg! doch noch Schauspielerkörper onstage bringt, wenn die grotesk realisierte fiktive vierte Wand von Dr. Jacques Duval oder Martin Wuttke durchbrochen wird mit den Worten: „Das Innere geht nicht mehr! (kommt raus).“575 „Raus“, das ist in der Redeweise der Backstage die Aufforderung zu dem, was sich im Blick der Zuschauer als dramatischer Auftritt ausnehmen sollte. Aber hier behauptet sich nicht ‚jemand‘ auf der Bühne, sondern „raus“ führt aufs Proszenium, einen Schwellenraum, wo die Relation von innen und außen, die Grenze des szenischen Raums und der Figuration dramatischer Entitäten verhandelt wurde. Eine weitere Öffnung eines der Holzpaneele wird als zweite Tür ‚Wetterhäuschen‘-Auf-/Abtritte (so die treffende Prägung von Juliane Vogel) ermöglichen. Sie ist Vehikel der Verhinderung der Dialogszene, wie in klamottigen Komödien, wie sie etwa Polleschs JFK einzitiert, oftmals die vielen Türen, auch Schranktüren und Fenster genutzt werden, damit immer jemand falsch oder nicht rauskommt oder der andere, der gerade abgegangen ist, schon immer und stets erneut verpasst wird … Wenn M. deklariert: „[E]s gibt keine innere Schönheit! Wir müssen raus! Du kannst nicht hier hinten spielen. Schluß mit der inneren Schönheit!“576, so ist nicht der Ausdruck eines Innerlichen gemeint, sondern ist es auf die Äußerlichkeit angelegt, als die das, was vermeintlich Darstellung von etwas wäre, selbst zu nehmen ist;

sieh doch endlich mal was da vor dir liegt. Ich, das hier! Da ist nichts eingeschlossen, irgend ein Gefangener der raus will. Nein, das was du hier siehst ist die Seele. Die springt dir doch geradezu ins Gesicht.577

Der sogenannte innere Wert ist, wie in der entschieden verschiebenden Zitation des Modells der ausdrucksvollen Gestalt oder des Gesichts angeführt wird, nicht dahinter, ist vielmehr wie bei einem Geldschein „die 100 Euro“ draufgedruckt: „An einem knittrigen Geldschein sieht [daher, B. M.] auch nur jeder die Seele“, „niemand sieht das Papier“. „Und das ist das Verbrechen an den sogenannten hinfälligen Körpern.“578 „Nein! [exklamiert der Chor, B. M.] Hört endlich auf, nur die inneren Werte zu sehen! Hört auf, das zu sehen, was draufgedruckt ist.“579 Das Modell der darstellenden Verkörperung als das der in der ‚ausdrucksvollen Gestalt‘ oder dem Gesicht figurierten verständlichen, ganzen und in sich geschlossenen dramatischen Darstellung eines Innern, die die illusionäre unmittelbare Teilhabe am Dargestellten ermöglichen muss, ist derart zu grotesker Kenntlichkeit gebracht. Die Fiktion einer vierten Wand und die Verstellung der kontingenten Physis, des „hinfälligen Körpers“ („in allen Körpern“) durch die Gestalt, die als Ausdruck von Innerlichkeit verstehbar wäre und die Äußerlichkeit von Darstellung zu transzendieren anweist, fallen zusammen.580 In so komischer wie verzweifelter Insistenz wird hier versucht, dieses Modell abzuräumen: „[M.:] [D]u würdest gerne von dem Kratzen an deinem Körper auf ein Inneres schließen, und dir ein Drama erzählen, das du für dein Leben hältst, ja, ich weiß. Aber es gibt kein Drama. Die Seele ist der Körper und der ist draußen.“581

Das betrifft den dramatischen Auftritt, der als theatraler nicht umhin kann, die kontingente Physis auf die Bühne zu bringen, der aber der Auftritt dessen wird geworden sein müssen, was durch Figuration dem Rahmen, der das Drama ist, dessen Ab-Geschlossenheit die Fiktion der vierten Wand vorzustellen hatte, integriert und dabei als dramatische Person fingiert wurde. Das Konstrukt des Auftritts, dessen potentiell disparate Prozessualität durch die vermeintlich gegebene, in sich abgeschlossene dramatische Person vergessen gemacht wäre, ist hier dissoziert. Hier manifestieren sich Energien, die nicht zur vermeintlichen Ganzheit der Darstellung eingefasst sind, auch und gerade nicht im darstellenden als verständlichem ‚sprechenden Körper‘. Der Körper des in diese Anordnung – in der fiktiven Welt des Stücks gerade aus dem Kälteschlaf – geholten Dr. Jacques Duval (oder Martin Wuttke) ist ein wild gestikulierender; ‚Zappeln‘ wird das immer wieder genannt. Aber, so M.:

Ich zappele doch gar nicht, das ist nur eine nicht-artikulierende Äußerung. Ich will hier nicht den Eindruck einer abgeschlossenen Sache erwecken, sondern von dem, was genau das Gegenteil von etwas Geschlossenem und Abgeschlossenem ist. Wenn wir also annehmen, dass es so etwas gäbe, etwas vollkommen in sich, an sich Geschlossenes, dann würde ich sagen: das ist kein Körper. Kann etwas überhaupt Körper sein in so einer geschlossenen Welt?582

Die disparate Multidirektionalität ist in keiner projektiven Gestalt auf- oder einzufassen („Dieses Sprechen hier verweist auf niemanden der spricht. Wer spricht denn hier?“583); und auch der sprechende Körper wird „als das Außerhalb-von-sich-sein“, als „Aufbruch der Körper in alle Körper“ exponiert.584

Polleschs Schmeiß dein Ego weg!, ein installativer Kommentar jener theatralen Seh- und Darstellungsanordnung, die ein On in der gerahmt stabilisierten Abscheidung, im negativen Bezug aufs Off konstituierte, löst mit der supplementären Videoübertragung jene imaginären Bilder, die (Diderot zufolge als Abfolge von in sich abgeschlossenen Tableaus) für die dramatische Geschlossenheit und für das verstehende Hören und Sehen einstehen sollen, vom Theater ab585 und stellt dies vor, indem die Bilder nach außen verlegt, als Zutat gegeben werden. Auf dem sperrenden Schirm, auf den Polleschs JFK anfänglich die Zuschauerblicke als auf eine Kinoleinwand treffen lässt, erscheint eine Art Fernsehreportage aus rückwärtigen/verstellten Räumen. Die ersten Worte aus dieser Zone lauten:

[J:] Ich habe sehr rätselhafte Nachbarn. Sie stehen oft vor Türen herum mit einem Manuskript in den Händen, so als würden sie gleich eintreten, oder sie überlegen es sich lange, rauchen noch eine Zigarette und haben vor lauter Ungeduld, diesen Ort zu verlassen, einen Koffer in der Hand. Ich komme sie manchmal besuchen. Sie stehen dann vor ihrer Türschwelle und scheinen zu zögern, was aber nichts mit mir zu tun hat. […] Sie haben scheinbar Dienstboten, die ihnen die Dinge reichen, die sie so brauchen, einen Koffer, eine Zigarette …586

Durch videoapparative Teichoskopie wird auch hier eingespielt, was ins Off gesetzt wird, ein Theater, das sich auf der ‚Rückseite‘ dessen aufhält, was das Drama ausschließend-rahmend ermöglicht, das einen Auf-ent-halt nimmt, der den Bühnenauftritt aufhält, verzögert oder verpasst:

[F:] (Impro) Ich steh an der Tür mit meinem Koffer. Zigarette in dem Mund, so steh ich hier Stunden. Meine Kollegin schaut mich an, sie wünscht mir viel Glück. Ich sage: Das wird schon, ich zieh an der Zigarette und warte. Auf mein Stichwort. Ich glaub, ich hab’s verpasst. Kein Drama, denk ich mir. […] Sie sagt: Nein, da war es doch! Wirklich? Sie schüttelt Kopf, sagt: Ja, ja, ja, ja, ja, ja, das wars, geh raus, du musst raus. Ich bleib einfach stehen und zieh an meiner Zigarette. Setz mich noch mal aufs Sofa, sag: dann geh du doch raus, das war doch dein Stichwort! […] Na gut, ich nehme meinen Koffer, ich geh zu der Tür. Sie macht mir die Tür auf und ich geh raus … geh raus.587

Vorgegeben wird auch hier, es handle sich um eine Live-Übertragung von jetzt, gleichzeitig, aber anderswo agierenden Körpern und Sprechern/-innen. Aber JFK lässt wie Schmeiß dein Ego weg! unentscheidbar, ob das, was wir hören, jetzt, wenn auch nicht hier (jedenfalls nicht hier: ‚vor Ort‘) statthat: in jenem Jetzt, das (in der theatralen Anordnung) von Zuschauern und Schauspielern geteilt wird. Was wir sehen und hören, könnte nicht nur überall (anderswo) statthaben, sondern auch in jeder vorausliegenden Zeit aufgezeichnet und gespeichert worden sein. Hier, auf der Bühne, die wir noch durchscheinen sehen, ist weder jetzt noch zuvor ein Wort verlautet, keinesfalls kann ein „Stichwort“ schon gefallen sein, sie ist leer. Umgekehrt wird durch die Bilder der beweglichen Videokameras die vormalige Backstage als unbestimmt entfernter (nicht hier, aber potentiell überall) und in sich gebrochener multipler Raum zusammengesetzt. Wenn, irgendwann, ‚jetzt‘, die Tür zur Bühne geöffnet wird, gibt die als Screen fungierende Membran den Blick auf die Bühne, den durch eine Kulissenwand markierten Raum frei, in dem Moment, in dem, wie es sich gehört, der Akteur (F.) die Schwelle zum szenischen Raum überschreitet, der Bühnenauftritt ‚vor Ort‘ aus- und aufgeführt wird. Ist das/hier/jetzt ein Auftritt gewesen?588 Oder wird nicht vielmehr einer zitiert? Denn ‚aufgetreten‘ wird hier im Rahmen, ins Bühnenbild des innerhalb von JFK aufgeführten Stücks, offenbar irgendeine boulevardeske Klamotte, nicht in den Rahmen und die Bühne von JFK – wo immer diese auch seien, jedenfalls anderswo, wenn es denn einen Rahmen und eine Szene für JFK überhaupt gibt.

Abb. 5: René Pollesch: JFK, Deutsches Theater Berlin, 2009

Betrachten wir JFK, einen Fall für eine Vielzahl von vergleichbaren Anordnungen, von Schmeiß dein Ego weg! her, dann wird als Analogon zur für Schmeiß dein Ego weg! realisierten fiktiven vierten Wand im Falle von JFK die Bühnenrückwand erkennbar, die den szenischen Raum begrenzt und nach hinten abschließt, und den Rückraum, das rückwärtige Off abschirmte, die hier durch die medientechnische Teichoskopie überwunden oder perforiert wird.589 Diese Wand, der den traditionellen Darstellungsund Auftrittsraum abscheidend bestimmende Schirm gegen den Rückraum, die zugleich die Stelle(n) der Schwelle(n), des geregegelten Zu- und Auftritts angibt, rückt, (unter anderem) Mickey-Mouse-bedruckt, in die Funktion der Ver- und Zustellung, des Entzugs der Sichtbarkeit, den die Videoübertragung kompensierte, bzw. der Zerteilung des Sichzeigenden und des sichtbar Dargestellten. Die dem gegenwärtigen Theater geläufige supplementäre Video-Live-Übertragung aus rückwärtigen Räumen wird als Teichoskopie ausgeprägt, die die durch diese zugänglichen (anderen) Räume (auch das traditionelle On) als und ins Off einer unbestimmten An-/Abwesenheit setzt und derart die das Theater ausmachende Relation von sichtbarer Darstellung und Abwesenheit verhandelt. Die durch die medientechnische Teichoskopie sowohl eingespielte wie als Off gesetzte Zone fügt sich nicht den binären Scheidungen des Vorher-nachher oder des Entweder-oder – weder im Falle von JFK, wo diese die vormalige Backstage einzunehmen scheint, die durch das technische Medium in eine ungewisse Nichtgegenwart gerückt und als merkwürdige Zwischen- und Übergangszone verhandelt wird, noch in dem von Schmeiß dein Ego weg!, wo diese das ehemalige On des szenischen Raums einbezogen hat, wie alle möglichen, irgendwann, irgendwo liegenden Räume. In dieser Zone ist und bleibt immer fraglich, wer hier spricht. Sie ist als Zwischenzone ungerahmt, ein Warteraum, aber auch ein Raum, den Kräfte bestimmen und durchlaufen, die nicht (nur) in den dramatischen Rahmen hineinziehen, die vielmehr (auch) an diese Zone und in dieser auch binden können, und insofern ein diffuser Raum unbestimmten (Zwischen-)Aufenthalts,590 der in dieser Hinsicht zu den Zeit-Räumen von Marthalers Theaterarbeiten eine Beziehung unterhält.

An- oder eingespielt ist ‚vor Ort‘ dessen Randzone als ‚unerschöpfliche‘, weil unbestimmte Reserve. Die für Schmeiß dein Ego weg! hölzern durch die Fortsetzung der Wandverkleidung als Verstellung des theatralen Orts und Geschehens realisierte fiktive vierte Wand macht alle den Zuschauerraum verkleidenden Wandpaneele verdächtig, latente Ons in unbestimmten Offs, latente unerschöpfliche Reserveräume zu ver-bergen. Die Verdeckung des vormaligen Schauplatzes der Darstellung steht ein für die durch jede aktual werdende Darstellung ausgeschlossene und verstellte Potentialität möglichen Geschehens, das diese je als deren Schatten begleitet, bzw. für die Virtualität, in der alles theatral Dargestellte verbleibt, solange das theatrale Geschehen fortgeht und solange es im Zurück- und Vorausverweis an andere mögliche Gestalten und Zeit-Räume hervorgebracht wird.

Das als solches konturlose Zwischenreich stellt jene Zwiespältigkeit vor, die das onstage, die Bühne ‚selbst‘ bestimmt, die durch Grenzsetzung konstituiert in sich entzweit ist.591 Das ‚Vor-Ort‘ des Theaters selbst hat keine mit sich selbst identische Präsenz, weil es in jedem seiner Momente an jene Bewegung rückgebunden ist, die es von der ausgeschlossenen Rückseite aus speist und die umgekehrt, damit es sich als homogener Raum in sich abschließe, dementiert wird, weil es dadurch an das Off, von diesem sich ab-scheidend und absetzend, als an das es negativ konstituierende Außen gebunden und insofern in sich/von sich geschieden ist.592 Zum einen ist derart der szenische, traditionelle Auftrittsraum selbst als Zwischen- und Wartezone ausgewiesen: nicht ab-geschlossen, unentschieden zwischen innen und außen, dissoziiert, verteilt und zusammengesetzt, ein Schwellenraum, auf unvorhersehbare Weise potentiell überall vom On/Off durchfurcht. Zum anderen gibt es in dieser Zone ohne gesicherte Grenze, unbestimmt in und von sich geschieden, keinen dramatischen ‚Auftritt‘, nicht jene ‚Präsenz‘, die als vermeintliche gestalthafte Einheit ‚vor Ort‘ von Körpern, Sichtbarkeit und Intelligibilität, als Zusammenfall von theatralem Ort, Ereignis und dramatischer Figuration vorgestellt wurde. Theater ist nicht die Präsenz von etwas Sinnvollem in darstellender Verkörperung, in dem dieses sichtbaren Ausdruck gewänne, sondern, was jetzt und hier sich zeigt, ist inkommensurabel mit einem Sinn, der vom Geschehen hervorgebracht wie damit zugleich aufgeschoben wird, der, weil er je noch aus der Zukunft zukommen müsste, hier und jetzt aussteht. Der Auftritt, der als komplexes Konstrukt vom dramatischen Theater vorausgesetzt ist, der dieses organisiert, und dessen Konstruktcharakter durch die Schließung des Rahmens des Dramas vollendend vergessen gemacht wäre, wird in den hier beigezogenen Theaterarbeiten suspendiert – an jenen Vorgang der „Ankunft“, der mit der zeitlichen Erstreckung des theatralen Geschehens zusammenfällt.593 Er wird kenntlich, indem er dissoziiert und das Bild vom Theater gelöst wird; das geschieht auch durch den versuchsweisen Umbau des Theaters.

503 Benjamin, Walter: [Einbahnstraße], in: ders.: Werke und NachlaßKritische Gesamtausgabe, Bd. 8, hrsg. v. Detlev Schöttker, Frankfurt a. M. 2009, S. 77.

504 Wedekind, Frank: Lulu. Erdgeist, Die Büchse der Pandora, hrsg. v. Erhard Weidl, Stuttgart 1989, 3. Aufzug, S. 56–74, insbes. S. 67–70.

505 Vgl. Bazin, André: Was ist Film?, hrsg. v. Robert Fischer, aus dem Franz. von Robert Fischer und Anna Düpee, Berlin 2004, darin: „Theater und Film“, S. 162–216. Zur „Rückseite“ des Theaters, das nach dem Modell des Rahmens zu denken sei ebd., S. 189 f. und S. 191 f., während der Film „prinzipiell jede Begrenzung der Handlung verneint“, dessen Leinwand vielmehr „Abdeckung“ (cache) ist, „die nur einen Teil des Geschehens sehen lässt“ (ebd., S. 192; vgl. ebd., S. 208).

506 Vgl. Elsässer, Thomas: „Lulu and the meter man: Pabst’s Pandora’s Box (1929)“, in: Rentschler, Eric (Hrsg.): German Film and Literature. Adaptions and Transformations, New York/London 1986, S. 40–59, hier S. 50.

507 „[T]he order of the spectacle […] appears in Pandora’s Box as the critique of theater in the spirit of the cinema, this time […] focused […] on mise-en-scène.“ (Ebd., S. 49) Vorgetragen wird damit ein antidramatisches Gegenkonzept für den Film.

508 Zum „Drama als Rahmen“ vgl. Lehmann, Hans-Thies: Postdramatisches Theater, Frankfurt a. M. 1999, S. 289.

509 Zum Raum, in dessen „Gewebe“ die Filmkamera eindringt, und „dessen Teile sich nach einem neuen Gesetze zusammenfinden“ vgl. Benjamin: [Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit], in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 1, hrsg. v. Rolf Tiedemann, Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a. M. 1972, S. 471–508, hier S. 495 f., 500 f. und (erste Fassung) S. 457–461. Ulrike Haß erläutert dies als ein Überschreiten der Bühnenrampe durch die Kamera, die „sich vom Proszeniumsbogen löst“, in den Raum (der theatralen Bühne) einschneide, andersartige Nähen und Fernen schafft. (Haß, Ulrike: „Elemente einer Theorie der Begegnung: Theater, Film“, in: Brandstetter, Gabriele/Finter, Helga/Weßendorf, Markus (Hrsg.): Grenzgänge. Das Theater und die anderen Künste, Tübingen 1998, S. 55–63, hier S. 60 f.)

510 Weber, Samuel: „The Incontinent Plot (Hamlet)“, in: Horn, Eva/Menke, Bettine/Menke, Christoph (Hrsg.): Literatur als Philosophie – Philosophie als Literatur, München 2006, S. 233–252, hier S. 236.

511 Das kennzeichnet dramatische Personen wie Gespenster, so Weber: „The Incontinent Plot (Hamlet)”, S. 237. Vgl. ders.: Theatricality as Medium, New York 2004, S. 185–189, mit Bezug auf Shakespeares Hamlet, I.5, V. 155–159. Die Geistererscheinungen weisen die Medialität des Theaters, seine zeitliche und räumliche Bestimmtheit aus (vgl. ebd., S. 185 f.; Benjamin: [Ursprung des deutschen Trauerspiels], in ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 1, S. 203–430, hier S. 313 ff.), und zwar, indem das theaterinduzierte Gespenst die Gegenwart, deren Gleichzeitigkeit mit sich selbst und dessen Vorher und Nachher zweifelhaft macht (Derrida, Jacques: Marx’ Gespenster. Der Staat der Schuld, die Trauerarbeit und die neue Internationale, Frankfurt a. M. 2004, S. 61 f., 75 ff.).

512 Vgl. Weber: „Vor Ort. Theater im Zeitalter der Medien“, in: Brandstetter/Finter/Weßendorf (Hrsg.): Grenzgänge, S. 31–51.

513 Weber: „The Incontinent Plot (Hamlet)“, S. 237.

514 Der theatrale ‚Ort‘ ist, so Weber: „Vor Ort“, S. 33 f., „indem die Kontinuität von Raum und Bewegung mehr oder weniger gewaltsam abgebrochen wird“; er „besteht in und als diese Abgebrochenheit“. Daher ist er (und das gilt auch für die Person) „nicht allein das stabile Resultat der Unterbrechung“, sondern „immer an das Geschehen des Unterbrechens, des Suspendierens gebunden“. Vgl. Menke, Bettine: „On/Off“, in diesem Band.

515 „The cinema […] is never what is shown: it is always also what the shown implies or demands in the way of the not-shown or not-seen.“ (Elsässer: „Lulu and the meter man“, S. 54) Das Filmbild ist nach Bazin als cache (statt als cadre) aufzufassen. Vgl. Deleuze, Gilles: Das Bewegungs-Bild. Kino 1, Frankfurt a. M. 1997, S. 31–34. Zur Relation von Einstellung und Montage vgl. ebd., S. 38 ff. und 44.

516 Elsässer: „Lulu and the meter man“, S. 52.

517 Ebd., S. 54. Das kinematographische Off oder hors-champs wird zum Zwischenraum der Bilder werden. Vgl. Deleuze: Das Zeit-Bild. Kino 2, Frankfurt a. M. 1991, S. 233–236, 353 f., 356 f.

518 Weber: „Vor Ort“, S. 45.

519 Ebd.; vgl. ebd. S. 46.

520 Lehmann: Theater und Mythos. Die Konstitution des Subjekts im Diskurs der antiken Tragödie, Stuttgart 1991, S. 40 f., 44–50, 54, 58 f., 62; vgl. ders.: Postdramatisches Theater, S. 361.

521 Das Theater ist im Ausgang – von der ‚Präsenz‘, so Nancy, Jean-Luc: „Theaterereignis“, in: Müller-Schöll, Nikolaus (Hrsg.): Ereignis. Eine fundamentale Kategorie der Zeiterfahrung. Anspruch und Aporien, Bielefeld 2003, S. 323–330.

522 Zur Wiederholung vgl. Lehmann: Das Politische Schreiben, Berlin 2002, S. 349.

523 „Das System von Auftritten und Abgängen war für das dramatische Theater kennzeichnend. Wird dagegen eine ‚chorische‘ Präsenz aller Beteiligten gewählt, bei der auch die gerade nicht aktiven Spieler auf der Bühne verbleiben, so erscheinen alle als sozialer Chor.“ (Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 238; vgl. S. 233). Vgl. Philipsen, Bart: „Staying Alive. Christoph Marthalers Riesenbutzbach. Eine Dauerkolonie als post-melodramatisches ‚Spiel vor Traurigen‘“, in: Eschkötter, Daniel/Menke, Bettine/Schäfer, Armin (Hrsg.): Das Melodram. Ein Medienbastard, Berlin 2013, S. 245–266, hier S. 246 f.

524 Andernorts habe ich das zitierend Gesprochene und Gesungene in Hinsicht der Zitationalität näher betrachtet: Menke: „Vorkommnisse des Zitierens, Stimmen – Gemurmel. Zu Marthalers ‚Murx den Europäer! Murx ihn! Murx ihn! Murx ihn! Murx ihn ab‘“, in: Roussel, Martin (Hrsg.): Kreativität des Findens. Figurationen des Zitats, München 2011, S. 259–280, hier S. 262–265, 269–289, 274–279, insbes. S. 264 f. und 276.

525 So kann an Quintilians Bestimmung der rhetorischen Figur der Prosopopöie (Quintilian, Marcus Fabius: Institutio Oratoria/Ausbildung zum Redner. Zwölf Bücher, Bd. 2, hrsg. und übersetzt v. Helmut Rahn, Darmstadt 1975, S. 29–31) angeschlossen werden. Vgl. Menke: Prosopopoiia. Stimme und Text bei Brentano, Hoffmann, Kleist und Kafka, München 2000, S. 137 f., 147–150; dies.: „Stimmen/Gemurmel: Aufpfropfungen, Exzitationen, Szenen in Marthalers Murx den Europäer!“, in: Wirth, Uwe (Hrsg.): Impfen, Pfropfen, Transplantieren (= Wege der Kulturforschung 2), Berlin 2011, S. 173–195, hier S. 179–187; dies.: „Vorkommnisse des Zitierens“, S. 263–270, S. 273.

526 Lyotard, Jean-François: „Emma“, in: Gumbrecht, Hans Ulrich/Pfeiffer, Karl Ludwig (Hrsg.): Paradoxien, Dissonanzen, Zusammenbrüche. Situationen offener Epistemologie, Frankfurt a. M. 1991, S. 671–708, hier S. 671.

527 Nancy: „Theaterereignis“, S. 323 ff., 330. „Fremd und ‚un-heimlich‘ bleibt dieser andere Bezirk, so dass die Bühne etwas vom Hades behält: hier gehen Geister um. […] Die Bühne ist eine andere Welt mit einer eigenen oder keiner ‚Zeit‘.“ (Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 361)

528 Von excitatio, d. i. die Erregung und das Herausrufen dessen, was in persona auftritt, also durch die Prosopopöie sprechen gemacht wird, spricht Quintilian: Institutio Oratoria, S. 29–31.

529 Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 275. „Der privilegierte Ort der menschlichen Stimme war im Theater stets gesichert.“ (Ebd., S. 277)

530 Man, Paul de: „Semiologie und Rhetorik“, in: ders.: Allegorien des Lesens, Frankfurt a. M. 1988, S. 31–51, hier S. 49.

531 Lehmann zufolge „interessiere“ eine „Gestalt“, die die Bühne betritt, „weil der Rahmen der Bühne […], der visuellen Konstellation der Szene sie ausstellt. Die eigentümliche Spannung, mit der sie betrachtet wird, ist die Neu-Gier auf eine bevorstehende (und ausbleibende) Erklärung“ (Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 442 f.); daher bleibt die Integration in die – wie die Verfertigung der – Rahmung unabgeschlossen: im Aufschub (ebd., S. 443).

532 Der Monolog ist (wie dessen Komplement, das chorische Sprechen) „basales Theater-Modell“ als „Kommunikation“ im Theater (Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 232; vgl. ders.: Theater und Mythos, S. 44–50).

533 Zu den Sprechakten in Murx den Europäer! vgl. Menke: „Vorkommnisse des Zitierens“, S. 271 f., S. 261 f.

534 Das ist das ‚es gibt‘ (Nancys), jedem Etwas, das gegeben wäre, vorgängig, das das „Theater als Möglichkeitsraum“ ‚eröffne‘, vgl. Lehmann: Das Politische Schreiben, S. 368.

535 Weber: „Vor Ort“, S. 45 f. und 34.

536 Benjamin: [Das Passagen-Werk], in: ders. Gesammelte Schriften, Bd. 5.1, S. 618 [O 2a, 1].

537 Wenn Marthalers Theaterarbeiten bestimmt seien durch die „Raumqualität ‚Innen/kein Außen‘“ (Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 301), so ist doch auch das Innen kein in sich abgeschlossenes.

538 Er muss einerseits schon vor-aus-liegen, wenn Zuschauer beginnen ihre Plätze einzunehmen. Und andererseits müsste er irgendwann statthaben, während sie murmelnd auf den Beginn warten – und doch werden sie nie dabei gewesen sein –, irgendwann zwischen nichtssagendem Stimmengewirr vor der Bühne und in unverortbar, un-/hörbar einsetzenden Stimmen auf der Bühne, einsetzenden Resten eines „-lühén/“; selbst nachträglich kann kein Einsatz identifiziert werden.

539 So argumentiert Weber: „Vor Ort“, S. 33 f. zum theatralen ‚Ort‘ überhaupt, der „von seiner eigentlichen Herkunft“ „abgeschnitten“ zuständlich stabilisiert wird, noch das „das Abschneiden [der Bewegung] als Bewegung abschneidet“, doch kein stabiles Resultat geworden sein wird, sondern an die Abschneidung gebunden bleibt.

540 „[D]as konkrete, reale Theater bleibt sichtbar und verschwindet nicht in einer Illusionsbildung.“ (Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 301)

541 Die Fragilität der „Diskretion“ des Raums – durch den ‚szenischen‘ – wird durch die Vorschrift der ungebrochenen „Kette der Szenen“ bezeichnet, damit nicht „einen Moment lang […] der Raum selbst zu sehen ist“ (Juliane Vogel: „Raptus. Eröffnungsfiguren von Drama und Oper des 18. Jahrhunderts“, in: DVjs 83 (2009), H. 4, S. 507–20, hier S. 508).

542 Der „vom Subjekt-Ich disponierte[ ] Raum“ ‚fällt aus‘, so Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 301.

543 Bekanntlich sind die Zeiger der großen an der Rückwand angebrachten Uhr stehengeblieben, die zusammen mit dem Werbespruch: „Damit die Zeit nicht stehenbleibt“, als Zitat nicht nur oder nicht so sehr eines überholten Marxismus, sondern des Flughafens Tempelhof erläutert wird (Anna Viebrock im Gespräch in: Masuch, Bettina (Hrsg.): Anna Viebrock – Bühnen/Räume. Damit die Zeit nicht stehenbleibt, Berlin 2000, o. S.). Zu den vielfachen nichthierarchisierbaren zitationellen greffes vgl. Menke: „Vorkommnisse des Zitierens“, S. 269 f.

544 ‚Vor Ort‘ hat statt, was nie mit sich identisch, sondern in sich: zwischen Off/On, gespalten ist; „etwas – ein Ereignis, ein Verlauf, ein Ding oder ein Mensch – findet nie allein dort statt, wo es sich jeweils befindet, sondern zugleich auch hors-là, zugleich auch da-draußen, anderswo, an einem anderen Schauplatz“ (Weber: „Vor Ort“, S. 35).

545 Der Theaterraum ist „auf seine Vorgeschichte“, „die Zeit der Produktion, der Inszenierungsarbeit selbst“ geöffnet: „So splittert sich der einst homogene Zeit-Raum des dramatischen Theaters in heterogene Aspekte auf. Die Sache des Zuschauerblicks ist es zwischen ihnen sehend, erinnernd und reflektierend hin und her zu wechseln“ (Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 301).

546 Was gegenwärtig zu hören ist, kommt aus dem Schauraum selbst, aber auch aus dem, durch regelmäßiges rasselndes Klappenöffnen (bzw. -schließen) von einem blaubekittelten Akteur bedienten Heizkessel rechts neben der Bühne, aus dem Feuerofen schallen (gegen Ende) mit großem Chor „Brüder, zur Sonne, zur Freiheit“, „Auferstanden aus Ruinen“, „Im schönsten Wiesengrunde“. So manifestiert sich bei diesem Patriotischen Abend akustisch das obscenae.

547 In einen angeschlossenen, durch eine offenbar gleichfalls von außen gesteuerte Schiebetür sich öffnenden Waschraum. Der Abtritt ist explizit genug als Ab-ort diesem Theaterraum angeschlossen: mit zwei mit den bekannten, hinter jeder Bühne ebenso wie in den Zuschauerräumen vorhandenen Notausgangsschildern bezeichneten Türen, die (wie der regulierende Anruf „Männerklo!“ explizit macht) unterschieden seien: die Schranke/barre anzeigen.

548 In Ovids Metamorphosen, Lateinisch/Deutsch, hrsg. und übersetzt v. Michael von Albrecht, Stuttgart 1994, Buch XII, S. 635, V. 39–55. Vgl. Menke: „Vorkommnisse des Zitierens“, S. 277 ff.

549 Vgl. Lehmann: Theater und Mythos, S. 102. Zur Abhebung des Stimm-Körpers von der „sprechenden Person“ beim Maskensprecher wie beim Chor vgl. ders.: Postdramatisches Theater, S. 235 f.

550 Vgl. Derrida: Die Stimme und das Phänomen. Einführung in das Problem des Zeichens in der Phänomenologie Husserls, aus dem Franz. von Hans-Dieter Grondeck, Frankfurt a. M. 2003.

551 Haß: „Woher kommt der Chor“, in: Maske und Kothurn 58 (2012), H. 1, S. 13–39, hier insbes. S. 13 f. und 27.

552 So in Bezug aufs Gehör und den Schallraum Derrida: „Tympanon“, in: ders.: Randgänge der Philosophie, Wien 1999, S. 13–27, hier S. 24.

553 Das Theater ist „Möglichkeitsraum“, so Lehmann: Das Politische Schreiben, S. 368, oder wird „als Schattenspiel der Möglichkeiten“ aufgefasst: „Aus einer ‚wirkliche[n] Gestalt‘ ist also eine Schar von Geistern geworden.“ (Weber: „Vor Ort“, S. 41 f.) „Die Gestalt ist in ihrer Präsenz dennoch – abwesend. Soll man sagen: virtuelle?“; denn sie ist, so Lehmann, theatral nur durch „ihre konstitutive Virtualität“, in Vor- und Rückgriffen, in denen sie konstituiert wird und aufgeschoben bleibt: „Die Theatergestalt hat eine Realität immer nur in der Ankunft, nicht in der Anwesenheit.“ (Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 442 f.)

554 Pollesch, René: Schmeiß dein Ego weg! Textbuch, Reinbek b. H., S. 13. Diese Frage wird bei Pollesch nicht zuletzt dadurch dringlich, dass die „ganz fremde und ganz künstliche Sprache akademischer Texte“ durch die Münder der auf der Bühne in der ersten Person Sprechenden geht (Diederichsen, Diedrich: „Maggies Agentur“, in: Pollesch, René: Prater-Saga, hrsg. v. Aenne Quiñones, Berlin 2007, S. 7–19, hier S. 13). „Die Texte werden zuweilen einfach von einer Sprecherin an den nächsten weitergereicht. Entweder so, dass der Aufgreifende mit einem ‚Ja, genau‘ zu seiner weiterführenden Rede anhebt. Also noch im Dialog und so, als wären es doch zwei, die hier Kulturtheorie verzapfen. Dann wieder so, als sei es alles ein Oberstübchen, in das die Regie geschaltet hat und aus dem sie Sätze überträgt.“ (Diederichsen: „Denn sie wissen, was sie nicht leben wollen. René Polleschs kulturtheoretisches Theater erfindet die Serienkunst neu“, in: Theater heute 43 (2002), H. 3, S. 56–63, hier S. 58)

555 „[S]tets in der Schwebe zu halten, ob die Schauspieler etwaigen Personen eines Dramas entsprechen“, sei eine der „Regeln“ (Diederichsen: „Denn sie wissen, was sie nicht leben wollen“, S. 58; ders.: „Maggies Agentur“, S. 15). Die Frage „Wer spricht?“ wird weiter akzentuiert durch die bei fast allen Theaterarbeiten Polleschs sichtbare: ‚auftretende‘ Souffleuse, die den Sprechpart übernimmt, wo immer das ‚nötig‘ oder gewünscht ist. Vgl. Diederichsen: „Denn sie wissen, was sie nicht leben wollen“, S. 59; Brandl-Risi, Bettina: „‚Ich bin nicht bei mir, ich bin außer mir‘. Die Virtuosen und die Imperfekten bei René Pollesch“, in: Roselt, Jens/Weiler, Christel (Hrsg.): Schauspielen heute. Die Bildung des Menschen in den performativen Künsten, Bielefeld 2011, S. 137–155, hier S. 138 f., 141 f., 145.

556 Pollesch: Schmeiß dein Ego weg!, S. 17.

557 „Man denke also, sowohl während dem Schreiben als während dem Spielen, an den Zuschauer ebenso wenig, als ob gar keiner da wäre. Man stelle sich an dem äußersten Rande der Bühne eine große Mauer vor, durch die das Parterre abgesondert wird. Man spiele, als ob der Vorhang nicht aufgezogen würde.“ (Diderot, Denis: [Von der dramatischen Dichtkunst], in: ders.: Ästhetische Schriften, Bd.1, hrsg. v. Friedrich Bassenge, Berlin/Weimar 1967, S. 239–333, hier S. 284; die Empfehlung an die Zuschauer ebd., S. 324)

558 Pollesch: Schmeiß dein Ego weg!, S. 4 f. „[C:] […] Man hatte zwar die vierte Wand erfunden, aber sie war nur rhetorisch. Es gab sie nicht wirklich. Man meinte etwas ganz anderes damit. Und mit einem mal wurde Ernst damit gemacht.“ (Ebd., S. 5)

559 Ebd., S. 4.

560 Der Absorption des Blicks durch die Imagination entspricht die Integration des Auftritts im Tableau, als das Diderot zufolge die Szene aufzufassen wäre, während der Auftritt den ‚inneren Bestand‘ und die Illusion der geschlossenen Einheit stören müsste (vgl. Diderot: Von der dramatischen Dichtkunst, S. 324 ff. u. ö.; dazu Fried, Michael: Absorption and Theatricality. Painting and Beholder in the Age of Diderot, Berkeley/Los Angeles/London 1980, S. 1–5, 71–105, 107–160).

561 Pollesch: Schmeiß dein Ego weg!, S. 4 f.

562 Zur Geschichte der Mediennutzung, zunächst (seit den zwanziger Jahren) des Films, dann elektronischer Bilder, die die Bühne erweitern, und zu deren Theatralisierung vgl. Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 416–425.

563 Pollesch: Schmeiß dein Ego weg!, S. 1.

564 Diderot: Von der dramatischen Dichtkunst, S. 324.

565 Ebd., S. 325.

566 Der Film unter der Regie von S. Panton stellt sein Medium aus, im Paratext die filmische Technik der Brüder Williamson als „secret of under-water-photography“, dann mit Kapitän Nemos’ „my magic window“, das zu sehen ermögliche, „[what] you might think God never intended us to see“; „only cristal plates protect us“. Dieses zunächst der Glasscheibe eines Aquariums in einer Verkehrung entsprechende Schaufenster ist mit einem voluminösen, vielfältig gerafften (Theater-)Vorhang ausgestattet; das U-Boot aber entspricht der Filmkamera, die ‚ins Gewebe‘ des Raums einschneide (Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, S. 495 f., 457 ff.).

567 Gegen das Tableaumodell führt Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 365 f. an: Im Theater kommen „Bedeutungen stets in einer temporalen Erstreckung zur Darstellung, so daß einiges schon versinkt, während neue Momente sich eben erst ankündigen“; derart „löst die sinnstiftende Kraft Rahmung auf, zerstreut permanent die Konstruktionen“.

568 In diesem Sinne aber, als Versuch simultane Präsenz, präsentische Simultaneität herzustellen, fasst Koch „den Film beim Theater“ auf. (Koch, Gertrud: „Was wird Film, was wird Theater gewesen sein?“, unveröffentlichtes Manuskript (2011), S. 5 und 10; engl. publiziert: “What Will Have Been Film, what Theater? On the Presence of Moving Images in Theater”, in: Screen Dynamics. Mapping the Borders of Cinema, hrsg. v. Gertrud Koch, Volker Pantenburg, Simon Rothöhler (= FilmmuseumSynemaPublikationen 15), Wien 2012, S. 126–136)

569 Dieses ist spezifisch für das elektronische Bildmedium (nicht den Film); die übertragenen Bilder lassen sehen, was simultan in the making ist: Die Aufnahmegeräte und deren Bediener sind, wie in allen entsprechenden Theaterarbeiten von Pollesch, sichtbar.

570 Koch zufolge wird „die Videoübertragung […] zum Medium der Simultanität von Räumen […]. Sie werden zu Blickräumen, die vom off und on der Kamera konstituiert werden“ (Koch: „Was wird Film, was wird Theater gewesen sein?“, S.10). Lehmann zufolge handelt es sich bei der theatralen Nutzung der Videobilder dagegen nicht um „Anpassung an […] das Phantasma der grenzenlosen elektronischen Verfügung und Übertragung von Zeiträumen und Raumzeiten“, sondern um „unvorhersehbare Verschaltungen und Konnexionen der Wahrnehmung“ (Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 297 f.; vgl. ebd., S. 440–43).

571 Heeg, Günther: „Szenen“, in: Bosse, Heinrich/Renner, Ursula (Hrsg.): Literaturwissenschaft – Einführung in ein Sprachspiel, Freiburg i. Br. 1999, S. 269–251, hier S. 261; vgl. dagegen zur „antiken Szene“ als „Erscheinung des gegenwärtig Abwesenden“, in der „Relation zum Abwesenden“ „fundiert“, ebd., S. 253 ff.

572 JFK macht mit einer Art Vorspann auf der Leinwand den „Theatersaal […] zum Kinosaal“ (Koch: „Was wird Film, was wird Theater gewesen sein?“, S. 7). Aber während im Kinosaal Zuschauer Filme sehen, indem sie das Dispositiv dieses Sehens übersehen, ist hier der Screen als Teil der Sicht- und Raumanordnung selbst thematisch.

573 Pollesch: Schmeiß dein Ego weg!, S. 1.

574 Pollesch: Schmeiß dein Ego weg!, S. 4. Mit der sogenannten „leibhaftige[n] Präsenz des Schauspielers“ auf dem Theater meint dagegen der Filmwissenschaftler Bazin sich herumschlagen zu müssen, die zwar „vom Film in Frage gestellt“ werde, die er aber dennoch dem Theater nicht vorbehalten sein lassen will (Bazin: Was ist Film?, S. 183 ff. und 188 f.).

575 Pollesch: Schmeiß dein Ego weg!, S. 9.

576 Ebd., S.11.

577 Ebd.

578 „M: ja, genau! Das war dein Äußeres, das was ich Seele nennen würde. Das hier! Nicht das Äußere als das Gefängnis einer Seele. Nein! Die Seele selber, die hier draußen ist. Diese Verdrehung ist doch interessant, dass alle, die von deinem Äußeren reden, von etwas reden, was eigentlich die inneren Werte sind. Die inneren draufgedruckten Werte, wie bei einem Geldschein. Man sieht immer nur die zwanzig Euro und niemand sieht das Papier.“ (Ebd., S. 10 f.) „Chor: Wenn du zu mir sagst, du liebst nicht nur meinen Körper, sondern auch was Inneres, was alterslos ist, wie die Seele und das Herz, dann frage ich mich, warum ich diesen Satz nicht als zutiefst unmenschlich empfinde. Er übergeht völlig das, was vor dir steht, die Seele, das Werden, die Toten. Alle Körper denen gemeinsam ist, dass sie verletzbar sind.“ (Ebd., S. 17)

579 Ebd., S. 23.

580 Explizit, wo C. deklariert, ihm nicht zu unterliegen: „[I]ch hab immer nur dein Äußeres geliebt. […] Ich musste nicht durch eine miese Wand hindurch auf etwas sehen. Nein, ich konnte wie bei einem Geldschein ganz genau sehen, dass du das Papier bist, und das[,] was sonst für die Menschen so wertvoll ist, das Draufgedruckte, der innere Wert, das musstest du nicht dauernd bestätigen, das hab’ ich ja gar nicht vor Augen.“ (Ebd., S. 10)

581 Ebd., S. 4; das wird wiederholt ebd., S. 29.

582 Ebd., S. 8.

583 „T: Sie zappeln schon wieder herum. / M: nein, ich zapple nicht. Das Sprechen hier kann man weiter als Projektionen irgendwelcher Körper zulassen oder es kann als Sprechen als Stimme hier, von hier bis hier gesehen werden, das versucht, den Körper zu exponieren und nicht zu projizieren. Dieses Sprechen hier verweist auf niemanden der spricht. Wer spricht denn hier? Du musst nur mal genau hinsehn, dann kannst du es sehen. / [D]as hier ist die Stimme und das Sprechen ist genau hier […]. Die Projektion reicht nämlich nirgendwohin, sie berührt nicht, sie rührt an keine Stelle, während das Sprechen, dass [!] versucht den Körper zu exponieren, hier sehr wohl an den Körper rührt. Sie sehen das hier gerade während ich spreche. Dieses Sprechen rührt an den Körper. Wenigstens an meinen.“ (Ebd., S. 13 f.)

584 Ebd., S. 20 und 17. „[N]icht mehr das Leben, sondern unsere Körper, das wollten wir, unsere Körper, und das heißt […] den Tod! […] [D]ie Körper dulden, die Toten da vor uns.“ (Ebd., S. 29; vgl. ebd., S. 27).

585 Oder, so Koch, das Theater habe diese an den „Film“ „verloren“: „die Fähigkeit der Illudierung in der Fiktion“ (Koch: „Was wird Film, was wird Theater gewesen sein?“, S. 10).

586 Pollesch: JFK, Textbuch, Reinbek b. H., S. 2 f.

587 Ebd., S. 4. Dass es sich um „Impro“ handelt, unterstreicht das mündliche Event; dessen Verhältnis zum Skript wird auch durch Auftrennung und markierte Zusammensetzung von hörbarer Stimme des Schauspielers und stumm sprechender Schauspielerin ausgetragen: „[S]agt: Ja, ja, […]“, eine Art Playback oder Synchronsprechen in the act.

588 In den Worten F.s: „[I]ch geh raus. Ich gehe zum Bett […] und setz mich dahin, ich denke kurz nach und schau mir das Publikum an. … Plötzlich fällt mir ein: meine Freundin ist ja da. Sie findet es nicht gut, wenn ich Frauen auf der Bühne küsse, da gibt es nachher wieder eine Szene zuhause.“ (Ebd.) Hier schließt keine fiktive vierte Wand die Bühne, und hier ist an Lulus ‚Szene‘ zu denken.

589 Eine umgekehrte Installation kennzeichnete Polleschs Liebe ist kälter als das Kapital, wo „die Darsteller beim Abgehen von der Bühne durch die Türen auf ein Filmset gelangen“: „Es gibt kein backstage mehr, keine Rückzugsmöglichkeit, sie bleiben einem fremden Blick ausgesetzt, den Zuschauern im Theater, der Kamera oder auch beiden zugleich.“ (Primavesi, Patrick: „Schauspielen (das gab es doch mal) bei René Pollesch“, in: Roselt/Weiler (Hrsg.): Schauspielen heute, S. 157–176, hier S. 169) Das Sichtbare hat einen „zwischen Bühne und Filmset gespaltene[n] Ort“ (ebd.), aber zugleich wird den Schauspielern die Backstage entzogen: „Das war doch einmal Tradition, dass man von der Bühne abgeht und dann war man in der Wirklichkeit.“ (Pollesch: Liebe ist kälter als das Kapital, zitiert nach ebd.) „Der Film, der da hinter der Bühne gedreht werden soll, heißt […]: ‚CDU – unsere Welt ist die Richtige‘.“ (Ebd., S. 170)

590 „Eines Tages nahm meine Nachbarin wieder den Koffer dieses netten Herrn entgegen. Und anstatt sich auf ihren Weg zu machen mit dem Script in ihrer Hand oder im Kopf, hielt sie kurz inne und sprach mit dem Feuerwehrmann, für den sie sich schon länger interessierte. – und tausend Leute da draußen vor ihrer Tür warteten auf ihren Auftritt.“ (Pollesch: JFK, S. 3) „[F:] Und sie hier. Mit dem Feuerwehrmann! (zeigt auf K) Jetzt hat sie schon wieder den Auftritt verpasst.“ „Sie muss sich doch nicht dauernd mit dem Drama beschäftigen, dass sie ihren Auftritt verpasst hat. Die 1000 Zuschauer können sich doch auch (mal kurz) mit was anderem beschäftigen!“ (Ebd., S. 25)

591 Das wird in JFK als ein sehr komisches Sichüben in einem „Leben im Selbstwiderspruch“, das in dieser Zone statthabe, verhandelt: „Diese komischen Leute/Nachbarn hier […]. Was machen die denn da, frag ich mich oft. Mit ihren Manuskripten in den Händen, und wie sie sich um ihre Freundin im Publikum, und um eine Geliebte, die im Script steht, gleichzeitig kümmern.“ (Ebd., S. 9) Die Scheidung zwischen dramatischem fremdem Leben und Wirklichkeit wird unhaltbar. „F: […] Dem Schicksal ist nur zu begegnen mit einem anderen Manuskript. Wenn wir eben nicht dem folgen, was unser Leben ist. Damit du da jetzt zur Tür reinkommst und wir uns begegnen, brauchen wir beide ein verfehltes Leben. Das führt uns zusammen. Und kein authentisches. Keine Leben, die die unseren sind.“ (Ebd., S. 24; vgl. ebd., S. 20 und 10) Fast alle Sätze sind zugleich metatheatral (vgl. ebd., S. 27).

592 So Weber: „Vor Ort“; vgl. Menke: „On/Off“, in diesem Band.

593 So Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 443. Auch Weber zufolge macht das theatrale ‚Vor-Ort‘ aus, „vor einer Erfüllung zu stehen, die zugleich sein Anfang und Ende wäre“ (Weber: „Vor Ort“, S. 34).

 

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