Theater der Zeit

Magazin

Theater Bautzen: Anamnese ostdeutscher Rebellionen

„Widerstand“ von Lukas Rietzschel – Regie Jan Jochymski, Dramaturgie Eveline Günther

von Michael Bartsch

Erschienen in: Theater der Zeit: Freie Szene – Occasions – Ereignisse im Raum (04/2023)

Assoziationen: Sachsen Theaterkritiken Deutsch-Sorbisches Volkstheater Bautzen

Maja Adler und Ralph Hensel in „Widerstand“, in der Regie von Jan Jochymski Foto: Miroslaw Nowotny
Maja Adler und Ralph Hensel in „Widerstand“, in der Regie von Jan JochymskiFoto: Miroslaw Nowotny

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Nach der Urfassung als Theaterfilm kommt Lukas Rietzschels „Widerstand“ nun auf die Bautzener Bühne.

Einen Tag vor der Bühnen-Uraufführung seines ersten Dramas „Widerstand“ in Bautzen saß Lukas Rietzschel einem Double seiner Hauptfigur bereits gegenüber. Nicht auf der Bühne, sondern in der Dresdner Frauenkirche zu einem Diskussionsversuch unter dem Titel „Wie viele Meinungen verträgt die Wirklichkeit?“. Nicht der entwurzelte, mühsam nach verbliebenen Halte-seilen aus der Vergangenheit suchende und Attentatsgedanken ausbrütende Vater Frank aus seinem Stück saß da neben ihm, aber ein Wesensähnlicher. Auch Schriftsteller Uwe Tellkamp befindet sich im Widerstand gegen so ziemlich alles, ignorierte lange alle Gesprächsansätze zugunsten mitgebrachter Knittelverse, wirkte von Verfolgungswahn besessen und von Hass zerfressen.

Der 26 Jahre jüngere Lukas Rietzschel trat in Dresden so auf, wie er sich seinen Figuren und dem Phänomen ostdeutschen Frustes in der ihm vertrauten Lausitz nähert. Fast schon pastoral wirkte der Endzwanziger, verbindlich und wägend. Jene „Verhältnisse“, von denen Brecht spricht und die eben nicht das Gute, Schöne und Wahre stimulieren, untersucht er einerseits mit abgeklärtem Blick, andererseits von Empathie geleitet. Diese Menschen in einem der „traurigen Orte zum Vorbeifahren“ sind auf der Bühne auch in ihren Ausbrüchen nahe, vertraute Mitmenschen.

Grundsatzkritik an Rietzschels Texten ließe sich höchstens dahingehend üben, dass er eigentlich der marxistisch-materialistischen These „das Sein bestimmt das Bewusstsein“ folgt. In „Widerstand“ folgen wachsende Renitenz, ja die Pläne zur Selbstjustiz scheinbar konsequent den Lebensbedingungen. Deren subjektiv möglicherweise verzerrte Wahrnehmung wird nicht angefragt. Oder doch in Person von Tochter Isabell, die nach dem Medizinstudium in Leipzig als Ärztin praktiziert und auf einen längeren Besuch heimgekehrt ist?

Stärker noch als die Zuschauer, die zunächst keine warnenden Signale wahrnehmen, bemerkt sie Veränderungen, eine latente Fremdheit in der Heimat. Belastungen scheinen zunächst nur aus der Familiensituation herzurühren. Denn „Vati“, wie sie Vater Frank liebevoll nennt, pflegt geduldig die todkranke Mutter. Unsichtbar wird diese hinter einer mitten auf der Bühne einsam platzierten Tür angesprochen, ein anrührender Einfall von Gastregisseur Jan Jochymski. Berührung und Nähe holt Frank sich bei seiner Physiotherapeutin Peggy, die ihn wirklich liebt und von einem gemeinsamen Leben träumt.

Nach und nach schleichen sich Hinweise auf die „Verhältnisse“ draußen ein, manchmal etwas klischeehaft das abgehängte flache Land assoziierend. Die Symptome kennt man aus Ostsachsen, wo der Autor im niederschlesischen Görlitz lebt, ebenso aus Südbrandenburg oder aus der Magdeburger Börde. Schon die weitgehend leere Bühne von Katharina Lorenz wirkt trostlos. Rechts vorn liegen die Schwellen einer demontierten Bahnlinie.

Vater Frank hat auf Versicherungsvertreter umlernen müssen, in der Nähe gibt es nur noch eine „Kuhfabrik“, über die man sich mit dem Spruch „Immerhin kein Schweinestall“ hinwegtröstet. Isabells Schulfreund Sebastian taucht als Paketzusteller und gestresster Multijobber auf.

Der Satz „Ich habe immer nur alles gehen sehen“ beschreibt die Stimmung. Die Hoffnung „Irgendwann sind wir hier vielleicht Speckgürtel“ erstickt am eigenen Sarkasmus. Auch das gegenseitige Vertrauen ist weg – Vati ist besorgt, dass die Tochter nicht ohne Pfefferspray aus dem Haus geht. Vergangenheitsverklärung ersetzt Optimismus: „Es gab mal eine Zeit, da war das Land der Motor!“

Dieser Frust und die daraus folgenden Ausbrüche deuten sich lange nicht unter den Familienproblemen an und überraschen, vielleicht eine kleine Schwäche der Regie oder des Ensemblespiels. Eine Ahnung von grummelndem Unheil beschlich den Zuschauer des ursprünglichen Leipziger Theaterfilms viel früher. Coronabedingt war dieser Film in einem noch hermetischer wirkenden Raum als die Bühne doch mehr als eine Ersatzlösung, lief auch beim Sächsischen Theatertreffen im vorigen Mai, leider nur im Beiprogramm. Autor Rietzschel räumt die filmischen Verstärkungseffekte ein, findet aber eben die überrumpelnden Ausbrüche auf der Bautzener Bühne wiederum drastischer gelungen.

Übergriffig versucht sich Sebastian plötzlich Isabell zu nähern, die als Ausweg aus der Ödnis hier erscheint. „Immer nur Krise, immer nur schlucken“, aus dieser Defensive wollen alle heraus. Ebenso schockierend wird endlich deutlich, was der liebevolle Vati und sein Freund und Polizist Steffen in der Garage aushecken. Es geht nicht nur verbal gegen Politiker, „die noch nie mit eigenen Händen gearbeitet haben“. Dem Innenminister wird anonym ein Plastikgewehr zugeschickt. „Ich will, dass die in Panik geraten“, erklärt der liebe Vati Frank und beschafft sich über Freund Steffen eine Armbrust. Sein Ziel sind nicht Ausländer oder Juden oder Zivilisten als Sündenböcke. „Wenn ich jemanden erschießen müsste, dann den Staat!“

Es regt sich im Deutsch-Sorbischen Volkstheater Bautzen auch angedeuteter Beifall nach solchen Hassausbrüchen. Auch nach einem Selbstzitat des Autors aus seinem ersten Roman: „Manchmal möchte ich auf alles einschlagen, richtig rein mit der Faust, bis alles blutet.“ Beim Anstehen an der Kasse spricht ein Besucher, der die Frauenkirchendiskussion tags zuvor am Stream verfolgte, von einer „Sternstunde“ Tellkamps. Der Autor kennt also seine Mitmenschen, hat den sprichwörtlichen Finger drauf.

Ralph Hensel als Vater Frank verdient besondere Erwähnung, weil er die Facetten der Figur zwischen traditioneller Wertbindung und Anarchie gut trifft. Nicht immer nachvollziehen kann man eine Verbindung zwischen der Szene und projizierten Collagen auf ein großes Hintergrund-Wandbild. Warum Polizist Steffen mit einem gesteuerten Rollpodium inclusive Pin-Up-Kalender auf die Bühne gefahren kommt, will sich nicht erschließen. In den eineinhalb Stunden aber steigt die Spannung stetig, allein schon durch die Frage, wie weit die beiden Garagenverschwörer gehen werden. Eine plausible Erklärungsvariante für die „Widerstand“ Rufe der Straße liefern Lukas Rietzschel und Bautzener Inszenierung allemal.

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