Auftritt
Esslingen: Schillernder Totentanz
Württembergisches Landesbühne Esslingen: „Der große Hanussen“ von Stefan Heym (UA). Regie Klaus Hemmerle, Übersetzung, Stephan Wetzel, Bühne und Kostüme Frank Chamier
von Elisabeth Maier
Erschienen in: Theater der Zeit: Was soll das Theater jetzt tun? – Eine Umfrage (05/2022)
Assoziationen: Sprechtheater Theaterkritiken Baden-Württemberg Württembergische Landesbühne Esslingen

Kriegsangst und die Furcht vor geistiger Gleichschaltung verfolgten den Dichter Stefan Heym im Exil in Los Angeles. Diese Zeiterfahrung hat er 1941 in Los Angeles in seinem einzigen Theaterstück verarbeitet. Wie Adolf Hitler, der mit den Nationalsozialisten am 30. Januar 1933 die Macht ergriff, verführte der Hellseher Erik Jan Hanussen die Menschen – er soll unter anderem den Reichstagsbrand vorausgesehen haben. Der Magier hieß eigentlich Hermann Chajm Steinschneider und war jüdischer Herkunft. „Der große Hanussen“ hat der Regisseur Klaus Hemmerle im Schauspielhaus der Landesbühne Esslingen (WLB) uraufgeführt. Er treibt das Ensemble in einen Totentanz auf dem Vulkan der goldenen 1920er Jahre hinein. Gerade in Zeiten des Ukraine-Kriegs rückt das Thema beklemmend nah.
Es ist ein Glücksfall, dass die WLB das verschollene Drama des großen DDR-Schriftstellers und Kulturpolitikers Stefan Heym in Cambridge entdeckt hat. Der Germanist Christoph Grube, Bruder des Esslinger Intendanten Marcus Grube, hat das Stück bei seiner wissenschaftlichen Arbeit an der englischen Elite-Universität entdeckt. Heym hat das Stück in englischer Sprache geschrieben. Manches in der Übersetzung von Stephan Wetzel klingt schroff, hölzern. Die kantig gezeichneten Figuren haben das Ensemble vor Herausforderungen gestellt. Dennoch liegt in dem Stück großes inhaltliches Potenzial. Das fördert Hemmerles Regie zutage. Mit starken Soundcollagen von Felix Jeiter fließen die Übergänge in der kantig gebauten Szenenfolge ineinander. Hemmerle versucht nicht, dramaturgische Schwächen zu vertuschen. Vieles ist in dem Text zu ausschweifend erzählt. Dem Ensemble gelingt das schillernde Porträt einer unmenschlichen Zeit. Dass „Der große Hanussen“ erst jetzt von der Landesbühne entdeckt wird, verwundert.
Hemmerles Regie setzt auf starke Charakterporträts des Ensembles. „Ich bin zu einem geistigen Anführer einer ganzen Bewegung geworden, einer Bewegung hin zu einem tieferen Leben des Geistes und der Seele.“ Platte Behauptungen wie diese verkauft Marcus Michalski in der Titelrolle so elegant, dass ihm nicht nur die Schönen und Reichen der Großstadt Berlin folgen. Der linientreue Richter Moeller ist bei Daniel Großkämper ein klassischer Mitläufer. Im Nationalsozialismus verkommt die Justiz, einst Säule der demokratischen Gesellschaft, zum gleichgeschalteten Apparat – ebenso wie die Presse. Und auch Markus Michalik, der die Rolle des SA-Führers Graf Helldorf eine Spur zu wetterwendisch verkörpert, nennt sich seinen Freund.
Hanussen saugt Lügen auf wie Honig. In Marcus Michalskis kluger Rollenstudie offenbart sich ein Machtmensch, der Massen manipulieren will. So meißelt er Hanussens politische Rolle heraus. Bis zu seiner Ermordung durch die SA-Schergen war er ein glühender Mitläufer. In Frank Chamiers Bühne sind die Sessel und Stühle schräg angeschnitten. Im Bühnenbild gerät die Welt aus den Fugen. An der Bar steht Gesine Hannemann. Sie mixt Longdrinks und Cocktails für die illustre Gesellschaft. Mit zynischem Zwinkern kommentiert sie die verdeckten Recherchen des Journalisten Rakosch, der die Wahrheit über den Hellseher Hanussen herausfinden will. Felix Jeiter spielt einen Reporter, dessen Leidenschaft die Wahrheit ist. Am Ende bleibt ihm nur die Flucht. Längst hat der Gestapo-Emporkömmling Terboven in der Redaktion seiner Berliner Tageszeitung das Ruder übernommen. Benjamin Janssen ist ein aalglatter Karrierist, der sich die Macht krallt.
Als Schauspielerin, die nach oben will, heftet sich Franziska an Hanussens Ruhm. Dennoch zeichnet sie die junge Nathalie Imboden selbstbewusst und kämpferisch. In diese einzige weibliche Figur legt Heym die Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Als Conférencier führt Achim Hall durch die Handlung. Mit leisen, klaren Worten verkündet er den Untergang der Weimarer Republik mit ihrer abstoßenden Dekadenz. Trotz aller formalen Defizite ist Heyms Rückschau auf die Verfolgung durch die Nazis und den Weg einer Gesellschaft in Zerstörung und Krieg ein wichtiges Zeitstück. //