Theater der Zeit

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Auftritt

Tiroler Landestheater Innsbruck: Lawinen, gorpcore und Familien

„Verschwinden in Lawinen“ nach dem gleichnamigen Roman von Robert Prosser (UA) – Regie Mira Stadler, Bühne Jenny Schleif, Kostüme Monika Lechner, Musik Lan Sticker

von Lina Wölfel

Assoziationen: Theaterkritiken Österreich Tiroler Landestheater

Giftler im Lift: „Verschwinden in Lawinen“ nach dem gleichnamigen Roman von Robert Prosser, Regie Mira Stadler, Bühne Jenny Schleif, Kostüme Monika Lechner, Musik Lan Sticker. Foto Cordula Treml
Giftler im Lift: „Verschwinden in Lawinen“ nach dem gleichnamigen Roman von Robert Prosser, Regie Mira Stadler, Bühne Jenny Schleif, Kostüme Monika Lechner, Musik Lan StickerFoto: Cordula Treml

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Da kommt der Autor höchstpersönlich extra aus dem Tiroler Unterland zur zweiten Vorstellung nach Innsbruck und eine Reihe hinter mir hat eine, zu einer Schulklasse zugehörige, Gruppe Buben nichts Besseres zu tun, als sich darüber zu freuen, dass das Stück nur knapp 90 Minuten geht. Nicht weil sie Theater nicht mögen. Nein, weil 1. Spieltag der Europa League ist und der RB Salzburg spielt. Als sich wenige Minuten später aber das wellblecherne Haus dreht und Flo (Patrick Ljuboja) und Xaver (Florian Granzner) auftreten, ist die Aufmerksamkeit ganz auf der Bühne. Die beiden sehen aus, wie der neusten Werbung von Blue Tomato (einem Shop für Snow, Surf & Skate) entsprungen: weiße Salomon-Schuhe, eine gebatikte Zipper-Hose, cremefarbener Pulli und Patagonia-Weste (Kostüme Monika Lechner). Ja, das ist in – gorpcore. In ganz Innsbruck laufen so internationale Studierende & Traveller herum. Denn Bergsport ist inzwischen mehr als ein Hobby. Bergsport ist hip, ein Lifestyle, den man auch dann haben kann, wenn man keinen Bergsport betreibt.

„Ich hab gedacht, dass du mehr aus dir machst“, sagt die Mutter (Sara Nunius), „oder dass du zumindest abhaust aus dem Dorf.“ Im hiesigen Wirtshaus nennt man Xaver nur einen „Liftler und Giftler“. Er arbeitet mal bei der Bergwacht, mal steht er als Möchtegernschauspieler auf der Dorfbühne. Seine Schwester (Laetitia Toursarkissian) lacht ihn aus, wenn er wieder einmal erklärt, dass die Angst in der Lunge und das Verliebtsein in den Fingerspitzen sitzt – hat er in einem Buch über Konzepte und Theorien der Schauspielerei gelesen. Und dann ist da noch der Großvater (Stefan Riedl), der einige Jahre zuvor erst als verschollen galt und dann tot aufgefunden wurde, den er, Xaver, nicht rechtzeitig gefunden hatte, und nach dessen Tod seine Mutter endgültig zur Alkoholikerin wurde. Und so deckt ein Lawinenunglück, bei dem zwei Einheimische – Xavers Nichte und deren Freund – verschüttet werden, dysfunktionale Familienbeziehungen und alte Verletzungen zusammen mit der Frage auf, was eigentlich die Versprechen von der heilen Welt aus dem Hochglanztourismusprospekt mit der Dorfgemeinschaft im Ort machen. Da können auch die Jungs aus der Reihe hinter mir anknüpfen, wenn als Freizeitbeschäftigung vorgeschlagen wird, die Tourist:innen mit Steinen zu bewerfen.

Es ist also allerhand, was Prosser in seinem Roman verhandelt und Mira Stadler am Tiroler Landestheater als eher seichte, aber atmosphärische Inszenierung auf die Bühne bringt. Gemeinsam mit dem Musiker Lan Sticker tritt Prosser selbst immer wieder als eine Art Erzählfigur im Spoken-Word-Stil und Einsiedler/Heiler Mathoi auf. Er ist quasi die Personifizierung des Wissens, die Weisheit der Berge, der Ahnen, aus der Zeit der Mythen, Handleger und Blutstiller, bevor weiße Salomons und Patagonia-Westen die Berge überschwemmten. Das passt grundsätzlich gut zum sprach- und formgetriebenen Romantext und funktioniert als stilistisches Experiment vor allem dann gut, wenn es der Inszenierung eine besondere Atmosphäre verleiht. Zum Beispiel, als Xaver vom Regen spricht, der auf das Wellblechdach (Bühne Jenny Schleif) prasselt und wir genau das hören können. Es funktioniert vor allem dann nicht, wenn der Kontrast zur sonst eher klassischen Erzähl- und Spielweise des Abends einfach zu hoch ist. Genau hier zeigt sich auch das Problem des Abends: die Figuren können sich gar nicht recht entfalten. Allzu oft sprechen sie ihre Passagen ernst und geradezu ins Publikum und bleiben eher Entwürfe. Was in Folge der Verdichtung des Textes dazu führt, dass sowohl auf spielerischer als auch auf inhaltlicher Ebene die Zwischentöne flöten gehen. Da werden die Sätze besonders bedeutungsschwanger gesprochen und manche Gefühlsregungen so gekürzt, dass sie kaum nachvollziehbar sind. Die durchaus interessante Side-Story, dass Xaver sein Geld nicht nur am Lift, sondern auch durch illegale Viehschlachtungen in den umliegenden Dörfern verdient, wurde rausgestrichen. So zerfielen Text und Inhalt mitunter ins Fragment ihrer selbst.

Erschienen am 29.9.2025

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