Gerhard Jörder und Thomas Ostermeier im Gespräch
von Thomas Ostermeier und Gerhard Jörder
Erschienen in: backstage: OSTERMEIER (09/2014)
Assoziationen: Akteure Regie Schaubühne am Lehniner Platz
Herr Ostermeier, woher kommen Sie gerade?
Aus Venedig, dort haben wir mit Ibsens Volksfeind gastiert.
Und wohin gehen die nächsten Reisen?
Nach Zagreb, mit Tod in Venedig. Später im Jahr nach Südamerika, wieder mit Volksfeind, São Paulo und Buenos Aires. Mit dem gleichen Stück gastieren wir in New York, eine Woche lang. Dazwischen liegt noch Rom, Hedda Gabler. Fast hätte ich vergessen: St. Petersburg steht auch auf dem Plan.
Und in den Monaten zuvor waren Sie unter anderem in Lausanne und Lyon, in Montreal und Quebec … Es ist wirklich ein Wahnsinnsprogramm, das Sie und Ihr Haus, quer durch Länder und Kontinente, absolvieren: In jeder Saison ist die Schaubühne mit mehr als hundert Gastspielen unterwegs. Ich hab große Lust, mich mit Ihnen gleich zu Beginn unserer Gespräche darüber zu unterhalten – über diese erstaunlichen internationalen Aktivitäten der Schaubühne, die mir selbst erst bei den Vorbereitungen für dieses Buch im vollen Ausmaß bewusst wurden. Ich glaube, anderen ergeht es ganz genauso. Schließlich bietet die Schaubühne im Heimathafen Berlin ja trotz der unzähligen Gastspiele tagtäglich volles Programm, oft mehrere Aufführungen parallel. Gibt es überhaupt ein anderes deutsches Theater, das sich auch nur annähernd ein solches Auslandspensum aufgebürdet hat?
Da fallen mir nur Tanz-Compagnien ein: Pina Bausch, William Forsythe.
Einige Ihrer großen Ibsen-Inszenierungen, Hedda Gabler und Ein Volksfeind, aber auch Hamletmit Lars Eidinger touren durch die ganze Welt. Auch Sie selbst sind, wenn es nur geht, bei Gastspiel - reisen immer vor Ort. Bei so viel Präsenz und Repräsentanz der Schaubühne kann es nicht verwundern, dass die ZEIT Sie schon vor Jahren als „das Gesicht des modernen deutschen Theaters in der Welt“ bezeichnet hat. Erfüllt Sie das mit Stolz?
Nein, mit so einem Label hab ich eher Schwierigkeiten! Ich kann mich ganz gut selber einschätzen. Ich weiß, dass ich bisher noch nicht großartig Theatergeschichte geschrieben habe – wie etwa Marthaler, Castorf oder Schlingensief, die wichtige ästhetische Spuren hinterlassen haben. Die einzige ästhetische Spur, die meine bisherige Arbeit möglicherweise hinterlassen hat, ist, der neuen Bürgerlichkeit mit Aufführungen wie Nora, Hedda und Volksfeind ein Gesicht zu geben. Die glänzenden und designverliebten Oberflächen der Neuen Mitte werden, glaube ich, mit meinem Namen in Verbindung gebracht. Aber auch der durchgeknallte Hamlet mit der umgedrehten Krone auf dem Kopf. Dass ich im Ausland so erfolgreich bin, hat vor allem mit meiner Erzählweise zu tun. Sehr vieles von dem, was bei uns als absolut angesagte Avantgarde gilt, ist dem Ausland als maßgebliche Theaterästhetik doch gar nicht zu vermitteln. In Amerika und Großbritannien nennt man das gern Euro-Trash. Ich bin, wenn man so will, der kleine Bruder der Dekonstruktivisten: Wenn die großen Brüder alles eingerissen haben, muss einer ja die Scherben wieder aufsammeln und zusammensetzen – das mache ich. Ich dekonstruiere nicht, ich rekonstruiere. Und ich erzähle wieder Geschichten. Die an Narration orientierten Kulturen, die angelsächsischen zumal, überspringen eben einfach die Generation meiner großen Brüder, sie laden sie erst gar nicht ein – und knüpfen direkt bei mir an. Und so wird man (lacht) auf einmal zum Gesicht des deutschen Theaters.
Das leuchtet mir ein: Ihr erzählerischer Realismus ist weltweit verstehbar, während so manche deutsche Regietheater-Spezialität jenseits der Landesgrenzen auf Unverständnis stößt …
Die ganze Welt ist angelsächsisch geprägt, die Kinowelt lebt von Hollywood-Geschichten. Der nordamerikanische Roman ist eine wichtige Referenz im Literaturbetrieb. Und auch thematisch ist vieles von dem, woran sich etwa Castorf abarbeitet, Postsozialismus, DDR-Vergangenheit usw., kaum exportierbar. Aber die Rolle der Frau, die Frage nach der Familie, nach den Glücksversprechen unserer bürgerlichen Gesellschaft – das sind Themen, die überall interessieren.
Wann begannen Sie eigentlich mit Ihren Gastspielaktivitäten?
Ganz früh schon, noch in der Ausbildungszeit an der Schauspielschule „Ernst Busch“, 1995. Mit Alexander Bloks Die Unbekannte sind wir damals nach Frankreich gefahren. Wir waren eingeladen nach Dijon zum Festival en mai – dort habe ich meine ersten wichtigen Kontakte nach Frankreich geknüpft.
Zu Frankreich haben Sie ja eine ganz besondere Affinität. Hat das auch familiäre Gründe?
Meine Familie mütterlicherseits kommt aus dem Saarland, an der Grenze zu Lothringen. Meine Großeltern haben sich im Haushalt eines jüdischen Arztes in Metz kennengelernt. Mein Großvater, der dieses saarländische Französisch konnte, war der Chauffeur der Arztfamilie, meine Großmutter die femme de ménage – sie musste die Wäsche immer mit weißen Stoffhandschuhen aufhängen, das war eine legendäre Anekdote bei uns in der Familie.
Also waren Sie mit der französischen Sprache früh vertraut?
Nein, nein, die hab ich erst viel später gelernt! Ich komme nicht aus Verhältnissen, wo man mit so etwas aufwuchs.
Heute sind Sie in diesem Land fast wie daheim. Sie gastieren und inszenieren regelmäßig in Frankreich. Sie sind Präsident des Deutsch-Französischen Kulturrats und waren im September 2013 auch mit dabei beim Treffen der Präsidenten Gauck und Hollande in Oradour, dem Ort des SS-Massakers. Man hat Ihnen in Frankreich schon die verschiedensten Ehrungen und Auszeichnungen verliehen, unter anderem den Orden Officier des Arts et des Lettres. Man hat Ihnen die Direktion des Odéon-Theaters in Paris und der Comédie-Française angetragen und die Leitung nicht nur des Festivals von Avignon, wo Sie 2004 als Artiste associé aktiv waren, sondern auch des Festival d’Automne in Paris. Und die französischen Städte und Theater, man kann es nicht anders sagen, reißen sich um die Schaubühne. In Paris könnten Sie ja fast ein Abonnement auflegen.
Ja, wir haben dort Jahr für Jahr gut und gerne 20 000 Besucher. Und jenseits von Paris ist es nicht anders: Jedes große und kleine Theater, von oben in der Normandie bis runter nach Marseille, sie alle wollen uns mindestens einmal in der Spielzeit haben …
Warum lieben die Franzosen Ihr Theater so?
Ich glaube, das ist zum einen der große Respekt für die Narration, für diese realistische Erzählweise, zum anderen ihre Vorstellung oder (lacht) Illusion von Modernität. Die Franzosen empfinden unser Theater als sehr physisch, sehr radikal. Mir selbst werden immer Begriffe angehängt wie enfant terrible, provocateur, social engagé … Aber vor allem sind sie fasziniert von unseren Schauspielern.
Die Begeisterung für die Schaubühne – verweist sie umgekehrt auf Defizite im französischen Theater?
Ja, sicher! Das größte und zugleich banalste Defizit: Sie haben viel, viel weniger Geld als wir in Deutschland. Das heißt: Das gesamte Spektrum Bühnenbild, Ästhetik, der ständige Versuch, Formen zu finden und zu untersuchen, wie Räume das Verhalten von Schauspielern determinieren – das alles kann sich dort nicht entfalten, es gibt dafür keine Budgets und keine Werkstätten. Der zweite entscheidende Punkt: Wichtige Theaterentwicklungen, denken Sie an Peter Stein oder Frank Castorf, waren immer an ein Ensemble gebunden und daran, dass dieses Ensemble sich über Jahre entwickelt und eine eigene Sprache ausbildet. In Frankreich haben Sie eine riesige Landschaft von freien Compagnien, aber deren Innovationskraft sehe ich kaum. Nur wenn du ein festes Ensemble unterhältst, kannst du eine solche Identität aufbauen. Das gibt es nicht in Frankreich.
Überhaupt nicht?
Doch, an der Comédie-Française. Und dann auch bei Ariane Mnouchkine in der Cartoucherie. Dazu will ich gleich eines sagen: Nach meiner festen Überzeugung ist dies das bedeutendste Ensemble-Theater in Europa. Es gibt kein deutsches Staats- oder Stadttheater, das so perfekt als Ensemble funktioniert wie Mnouchkines Théâtre du Soleil! Es funktioniert als Theaterunternehmen – und nach wie vor auch als Theaterkommune.
Zahlen und Quoten sind bekanntlich kein Kriterium für Kunst – und doch sind die Besucherstatistiken der Schaubühne so beeindruckend, dass ich Sie doch noch einmal fragen will: Wie viele Zuschauer insgesamt erreicht die Schaubühne bei ihren Auslandseinsätzen?
Das sind, über den Daumen gepeilt, an die 80 000 Besucher im Jahr. Wir nehmen diesen Teil unserer Theaterarbeit eben extrem ernst. Sicher sehr viel ernster als jede andere deutschsprachige Bühne. Und etwas kommt hinzu, als Kritiker des Neoliberalismus dürfte ich das eigentlich gar nicht laut sagen: Wir sind ein extrem schlankes Unternehmen. Wir orientieren uns da an internationalen Truppen wie Jan Fabre oder Jan Lauwers & Needcompany. Das kommt gut an bei unseren Partnern.
Die Auslandsreisen sind für Ihr Haus, so verstehe ich das, nicht nur eine aparte Abwechslung, sondern konstitutiver Bestandteil der Theaterarbeit. Hat das finanzielle Gründe?
In der Tat. Die Schaubühne hat mittlerweile ihr Einnahmesoll mit Gastspielen bei zwei Millionen fest eingeschrieben. Anders könnten wir unseren Wirtschaftsplan auch gar nicht einhalten: Zwölf Millionen kriegen wir von der Stadt, bis zu zwei Millionen haben wir Einnahmen zuhause, dazu dann diese zwei Millionen Auslandseinnahmen. Wir haben also 16 Millionen insgesamt, und 25 Prozent davon sind Eigeneinnahmen – so viel hat sonst kein anderes öffentlich finanziertes Theater in Deutschland.
Aber die Finanzen sind doch nicht der einzige Grund?
Nein, natürlich nicht. Internationalität ist für mich eine absolute Selbstverständlichkeit, ich kann gar nicht anders denken. Das war schon klar, als ich hier antrat. Eine globalisierte Welt – das ist doch eigentlich ein schöner Gedanke! Er erinnert mich an den Traum von der internationalen Solidarität. Doch diese Idee ist beschmutzt von den Chicago Boys! Man darf die Globalisierung nicht allein der Ökonomie und den Ökonomen überlassen.
Haben Sie überhaupt keine Sorge, dass als Folge der kulturellen Globalisierung so etwas wie ein internationaler, weltkompatibler Kulturmix entstehen könnte? Es gibt ja heute schon Gruppen, die in jeder Hinsicht keinen Standort mehr haben und nur noch den Weltmarkt bedienen.
Ich kenne diesen Vorwurf und nehme ihn ernst. Aber wir machen keine globale Soße! Wir spielen in New York oder in Paris, das erstaunt ja viele, eine ganze Woche auf Deutsch! Mit uns kaufen sich die internationalen Festivals Berliner Identität. Der Volksfeind ist das beste Beispiel. Diese Hipster-Kultur, die sich vegan, engagiert, aufgeklärt und kritisch gibt und sich dann doch, wenn es hart auf hart geht, ins Private zurückzieht – diese Hipster- Kultur fokussiert sich exemplarisch in Berlin. Das Thema wird weltweit verstanden, weil sich die Lebenswelten angleichen.
Sie haben vom Geld und vom Programm gesprochen. Ich bin sicher, dass ein Drittes hinzukommt: Diese Reiseaktivität muss extrem wichtig sein für den emotionalen Haushalt der Schaubühne, des ganzen Ensembles, der einzelnen Schauspieler – und auch für Ihre eigene Motivation. Denn es ist doch offenkundig, dass Sie im Ausland weit mehr Erfolg haben als daheim, in Deutschland und in Berlin.
Ja, das stimmt. Als ich in der französischen Botschaft diesen Orden, von dem Sie sprachen, verliehen bekam, habe ich in der Dankesrede gesagt, und das gilt auch heute noch: Wenn der Erfolg im Ausland nicht gewesen wäre, hätte ich mit der Schaubühne aufgehört! Ich hätte diese Anfeindungen, vor allem in den Anfangsjahren, nicht ausgehalten. So viele Leute, die mir ans Bein pissen wollten, so viel Neid bei Kollegen und bei der Kritik.
Aber heute sind diese Neidstürme doch ausgestanden! Längst haben Sie auch in Berlin beim Publikum großen Erfolg, das Haus brummt, die Vorstellungen sind ausverkauft.
Und doch gibt es immer noch viele, die es wurmt, dass das Haus finanziell und mit seiner Auslastung so gut dasteht. Aber verstehen Sie mich nicht falsch: Frustriert bin ich hier keineswegs. Wenn wir von unseren Auslandserfolgen zurückkommen, dann ist da keine Spur von: Ach Gott, jetzt in Berlin ist wieder alles lau und flau, wo ist der Enthusiasmus von Paris oder Sidney oder New York? Nein, wir haben hier wirklich ein tolles, junges Publikum!
Aber Erfolg bemisst sich nun mal nicht nur an Auslastungszahlen, sondern auch am öffentlichen Echo. Es kann Sie doch nicht kalt lassen, wenn Ihr Hamlet, der überall auf der Welt vom Publikum wie von der Kritik gefeiert wird und Preise einheimst, von der Jury des Berliner Theatertreffens links liegen und von der Berliner Theaterkritik großenteils benörgelt wird.
Ach, wissen Sie, darauf haben wir uns in den vielen Jahren eingestellt: Nach der Premiere kommt die kalte Dusche, das weiß man schon vorher, das weiß auch das Ensemble, und so ducken wir uns eben zwei Tage lang weg. Dann ist das irgendwie überstanden, wir hoffen, dass uns das emotional nicht zu sehr angefasst hat – und freuen uns wieder auf unser Publikum.
Wie erklären Sie sich denn selbst die eklatante Differenz zwischen dem öffentlichen Echo drinnen und draußen? In Taormina hat man Ihnen den Europäischen Theaterpreis, in Venedig sogar den Goldenen Löwen für Ihr Lebenswerk verliehen – das könnte Ihnen hier so schnell nicht passieren. Ich will nicht glauben, dass man Ihnen schlicht den Erfolg neidet, so blöd ist die Kritik doch nicht. Hat die Tatsache, dass Sie als Regisseur im Ausland deutlich mehr Anerkennung finden als im eigenen Land, nicht vor allem mit den sehr spezifischen ästhetischen Diskursen des deutschsprachigen Theaters zu tun? Ich sag’s mal im Klartext: Ihre Art und Weise, politisch engagiertes, realistisches Theater zu machen, stößt bei großen Teilen der postdramatisch orientierten deutschen Kritik auf starke Vorbehalte.
Ja, das stimmt. Es gibt diese stillschweigenden, verfestigten, gar nicht mehr diskutierten Übereinkünfte im deutschen Kultur- und Feuilletonbetrieb. Meine Ästhetik ist einfach nicht angesagt, alles lineare, realistische Erzählen wird schlicht als TV-Realismus etikettiert und abgetan – und damit ist der Fall erledigt. Lieber beschäftigt man sich mit dem Mainstream einer längst epigonal gewordenen Postdramatik, als dass man sich mit meiner Theatersprache überhaupt auseinandersetzt, geschweige denn einmal darüber nachdenkt, warum sie außerhalb Deutschlands, bei der europäischen und internationalen Kritik, so viel mehr Ansehen findet als hier.
Das Thema wird uns noch begleiten. Auch ich glaube: Die deutsche Theaterkritik neigt dazu, alle realistischen Erzählweisen auf der Bühne undifferenziert in einen Topf zu mengen und pauschal als rückständig zu verwerfen. Allerdings hat die postdramatische Dogmatik inzwischen den Zenit überschritten, auch im Feuilleton. Eine letzte Frage zum Thema Auslandsreisen: Außer dass Ihre Schauspieler dort so viel Jubel abholen können – welche anderen Erfahrungen können sie bei diesen Gastspielen machen?
(...)
Aus S. 8-15.