Theater der Zeit

Freie Szene

Unabhängige Geister

Das Kantoner Ensemble für modernen Tanz

von Yang Meiqi

Erschienen in: Theater der Zeit Spezial: China (12/2015)

Assoziationen: Tanz Akteure Asien

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Yang Meiqi ist eine berühmte chinesische Tanzpädagogin. Sie war Direktorin der Kantoner Tanzakademie und von 1992 bis 2000 Leiterin des Kantoner Ensembles für modernen Tanz. Im Jahr 1986 erhielt sie ein Stipendium des amerikanischen Asian Cultural Council und studierte in den USA moderne Kunst. Nach dieser Erfahrung beschloss sie, den modernen Tanz nach China zu bringen. Nach vielen anfänglichen Schwierigkeiten erreichte sie, dass 1987 in chinesisch-amerikanischer Zusammenarbeit ein vierjähriger Bachelorstudiengang Moderner Tanz an der Kantoner Tanzakademie eingerichtet wurde. 1991 schlossen die ersten Absolventen das Studium ab. So hat sie die ersten professionellen modernen Tänzer Chinas ausgebildet. Durch ihre weiteren Bemühungen wurde im Juni 1992 das erste Ensemble für modernen Tanz von der Provinzregierung in Kanton genehmigt und das Kantoner Ensemble für modernen Tanz gegründet.

1991 und 1992, das waren keine glücklichen Jahre. Der Staat fuhr Sparmaßnahmen, und von Regierungsseite entstanden im Prinzip keine neuen Organisationen. In dieser Zeit wurde das Kantoner Ensemble für modernen Tanz gegründet. Das Finanzministerium Kantons hielt sich ebenfalls an die strengen Sparmaßnahmen: Für alle Einrichtungen, Proben- und Wohnräume für Tänzer inbegriffen, wurden insgesamt eine Million RMB (ca. 140 000 Euro) zur Verfügung gestellt. Die jährlichen Subventionen betrugen 250 000 RMB (ca. 35 000 Euro), Lohn und Gagen für Mitarbeiter und Tänzer, Produktions- und Verwaltungskosten eingeschlossen. Drei Jahre später sollte gemäß der Reformpolitik der Regierung weiter über die Zukunft des Ensembles entschieden werden. Was sollten wir machen? Das Ensemble wieder auflösen? Wenn wir es erhalten wollten, blieb uns nichts anderes übrig, als zunächst alles zu akzeptieren.

Seit seiner Gründung war dem Kantoner Ensemble für modernen Tanz ein besonderes Schicksal beschieden, durch das es sich von jedem anderen chinesischen Tanzensemble, sei es klassischer Tanz, Volkstanz oder Ballett, unterschied. Was auch immer die anderen sagten, meine tiefe Überzeugung blieb unerschüttert. „Die Existenz allein ist schon ein Sieg“, das war unser Credo. Ich hoffte nur, dass uns diese Welt mehr Zeit zum Wachsen und mehr „tolerante“ Räume für Experimente geben würde!

Um die Unabhängigkeit des Ensembles zu bewahren und längerfristig seine Existenz und Entwicklung zu sichern, suchten wir in jenen Jahren unseren eigenen Weg: „Politisch müssen wir uns schützen, wirtschaftlich müssen wir uns erhalten können, künstlerisch müssen wir an unseren eigenen Dingen festhalten.“ Auch in der Struktur unterschieden wir uns von anderen Ensembles; als Erste führten wir das Engagementsystem für Darsteller und Mitarbeiter ein. Die Verträge wurden jedes Jahr, beruhend auf jeweils beiderseitiger Zustimmung, neu verhandelt, damit wurde das Ensemble demokratischer und gleichberechtigter.

Wir hielten immer an den hohen Idealen der Kunst fest und versuchten, Reinheit und Heiligkeit zu bewahren. Während andere Ensembles über Tageslöhne für Training und Proben diskutierten und so aus Kunst einen Geldhandel machten, nahm das Kantoner Ensemble für modernen Tanz weder an kommerziellen Aufführungen teil, noch stellte es sich als Begleittruppe für Stars zur Verfügung – und waren sie auch noch so berühmt und gab es noch so viel Geld dafür. Auch an politischen Feierlichkeiten nahmen wir möglichst selten teil, um Zusammenstöße zwischen künstlerischer Konzeption und Darstellung einerseits und Forderungen von offizieller Seite andererseits zu vermeiden. Wir kennen das chinesische politische System und die Ideologie sehr gut. Doch der Geist und das Prinzip künstlerischer Freiheit sind Werte, denen das Kantoner Ensemble für modernen Tanz treu bleibt. Wir respektieren jede unabhängige Überlegung der Choreografen und unterstützen sie in ihrer freien Wahl von Inhalten und Formen.

Nach der Gründung des Ensembles erhielten wir zahlreiche Einladungen und nahmen an Dutzenden internationalen Festivals in Frankreich, Deutschland, England, den USA, Südkorea und anderen Ländern teil. So wurden wir international immer bekannter. Zugleich ermutigten wir unsere Tänzer, an internationalen Wettbewerben in modernem Tanz teilzunehmen. Obwohl Kunst an sich nicht für Wettbewerbe geeignet ist, kann man nicht leugnen, dass Wettbewerbe Tänzern positive Impulse geben und sie zum Austausch mit anderen Tänzern anregen können. Noch mehr hofften wir darauf, dadurch mehr Anerkennung von der Regierung zu erhalten.

Von 1995 bis 2000 veranstaltete das Kantoner Ensemble für modernen Tanz dreimal das Internationale Festival für moderne Kunst und Theater; wir luden experimentelle Theatermacher aus verschiedenen Ländern ein, um sich mit experimentellen Künstlern aus China – aus Beijing, Shanghai, Kanton – auszutauschen und gemeinsam zu lernen. Inhalte des Festivals waren experimentelle Performances, Seminare über künstlerisches Arbeiten, Unterricht, Tanz in der freien Natur … Alle Künstler brachten brillanten Ideen und Arbeiten ein; ihre offenen und sensiblen Geister gaben den jungen Tänzern des Ensembles für modernen Tanz gedankliche Anregungen und Lebendigkeit.

In jener Zeit gingen wir in der Tat politische Risiken ein, erlebten unaussprechliche Widerstände und interessantes Chaos. Doch alle Künstler, die hierherkamen, konnten die Ehrlichkeit und Freude an diesem Ort spüren. Und den Respekt vor jedem Kunstwerk!

Das Kantoner Ensemble für modernen Tanz bringt jedes Jahr mindestens drei Produktionen heraus, davon sind manche Werke großer Meister und manche Neukompositionen der Tänzer selbst. Die Aufführungen finden im kleinen Theater des Ensembles statt, in dem etwa 100 Zuschauer Platz finden. Mit einigen großen, reifen Produktionen gingen wir auch auf Tournee und führten sie in den Theaterhäusern großer Städte auf sowie an Universitäten, um den modernen Tanz bekannt zu machen. Zugleich spielten wir auch kostenlos in armen Bergdörfern, auf dem Land und für die Armee.

Zu den Aufführungen kamen oft 2000 bis 3000 Bauern, viele dunkle Köpfe drängten sich schon über eine Stunde vor Beginn vor der frisch aufgebauten Bretterbühne. Sie starrten auf die Bühne, wo sich nie gesehene mutige Männer und Frauen in eng anliegenden Kostümen auf merkwürdige Art und Weise bewegten, die Augen voller Neugierde und Erstaunen, manchmal hielten sie sich die Hände vor den Mund und lachten heimlich. Sie blieben aber bis zum Ende der Vorstellung und wollten nicht gehen. Ich war mir nicht sicher, ob sie uns ernst nahmen. Dann trat der Dorfvorsteher auf die Bühne und forderte eine Zugabe von zwei Stunden, denn die traditionellen Musiktruppen, die sie früher eingeladen hatten, spielten meist bis Mitternacht. Ich wusste nicht, ob ich lachen oder weinen sollte.

Im Heft, das zum fünfjährigen Jubiläum des Kantoner Ensembles für modernen Tanz herausgegeben wurde, schrieb ich: „Die Entwicklung des modernen Tanzes in China ist schwer vorherzusagen. Ich möchte weder Geschichte noch Gesellschaft beschuldigen, doch ich finde, der Anfang kam zu spät. Vor zehn Jahren begannen wir mit der Ausbildung, doch gleichzeitig mussten wir uns ein neues Lebensumfeld schaffen, einen Kunstraum, der freies kreatives Schaffen erlaubt. Und daher waren Zusammenstöße und Diskussionen nicht zu vermeiden, Geduld und Toleranz gefordert.

Dinge müssen von Menschen gemacht werden, vom Versuch bis zur bewussten Wahl, vom Missverständnis bis zur völligen Hingabe, von der Praxis bis zur Erkenntnis. In diesem Prozess unablässiger Suche kommt nach und nach der eigene Weg zum Vorschein.

Wir sind Verfechter frei gewählter breiter Themen, solange sie aus der Wirklichkeit kommen, solange sie uns berühren; gesetz- und regelloser Formen, solange sie originell sind; traditioneller oder westlicher Stile, solange sie nach der künstlerischen Wahrheit streben. Wir wollen der Kunst ihr wahres Gesicht zurückgeben, das heißt, den unabhängigen Geist eines jeden zu respektieren und zu fördern, so dass zahllose individuelle Erfahrungen und Schöpfungen zu einem vielfältigen Gesamtcharakter werden; zugleich soll kein individueller Stil dominieren. In diesem künstlerischen Schaffen schreitet die Arbeit des modernen Tanzes in China unablässig voran, ohne sich an Vorlagen zu halten, ohne jemals zu ruhen!“

Bis heute halte ich diese Sätze für meine wahrsten und innersten Worte. //

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