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Am Reck

Das Internationale Sommerfestival auf Kampnagel in Hamburg bewegt sich virtuos und ohne Sicherheitsnetz zwischen gewagter Neuproduktion und etabliertem Programm

von Natalie Fingerhut

Erschienen in: Theater der Zeit: Der Auftrag – Lars-Ole Walburg und Sewan Latchinian (10/2015)

Assoziationen: Hamburg Freie Szene Akteure

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Welcome in der größten Eventbude des Sommers“, heißt es im Programmheft des diesjährigen Internationalen Sommerfestivals auf Kampnagel. Ein ironischer Kommentar zum meistdiskutierten Begriff dieses Frühjahrs, der frech die Stoßrichtung des Festivals karikiert. Denn einen „Eventschuppen“, wie ihn vermeintlich hellseherische Stimmen für die Volksbühne unter Castorf- Nachfolger Chris Dercon prophezeiten, findet man auf Kampnagel mit Sicherheit nicht. Die Produktionen und Installationen, die Festivalleiter András Siebold hier zu einem Programm fügte, zeugen von langjährigen Kooperationen und einer ordentlichen Portion Mut zum Wagnis.

Das Festival ist Gesamterlebnis über die Genregrenzen hinweg. Die Besucher können Installationen besuchen, im Festival- Avant-Garten diskutieren und am Kanalkran schaukeln. Gleichzeitig ist Kunst auf Kampnagel weit weg von der Eventkultur, vor der Claus Peymann warnt, sondern sie ist politisch auf eine präsente, unaufdringliche, aber nicht folgenlose Art. Die Reihe „This is not Greece“ beispielsweise beleuchtet die Finanzkrise aus griechischer Perspektive in Kunst, Philosophie, Film und Diskurs.

In der Migration Welcome Hall, einem Holznachbau der Walt Disney Concert Hall von Ausnahmearchitekt Frank O. Gehry, erprobt das Künstlerkollektiv Baltic Raw verschiedene Willkommenskulturen. Die Umgestaltung des Kanalspielhauses Flora, des letztjährigen Baltic-Raw-Projekts, brachte Kampnagel- Intendantin Amelie Deuflhard ein förmliches Ermittlungsverfahren ein. Sie hatte den Holznachbau der Roten Flora gemeinsam mit dem Künstlerkollektiv kurzerhand zur „EcoFavela Lampedusa Nord“ umgebaut, einem winterfesten Passivhaus für fünf (angeblich) illegale Flüchtlinge. Aufgrund einer Strafanzeige der AfD wurde ihr daraufhin „Beihilfe zum Verstoß gegen das Aufenthaltsrecht für Ausländer“ vorgeworfen. Deuflhard konterte bei einer offenen Diskussion mit AfD-Politiker Dirk Nockemann im Thalia Theater mit der Freiheit der Kunst. Das Ermittlungsverfahren läuft noch.

Insgesamt acht Eigen- und Koproduktionen gibt es 2015 zu sehen, davon fünf Uraufführungen. Es gehört zum Credo des Festivals, nicht nur erfolgreiche Produktionen einzuladen, sondern auch das Risiko einzugehen, das eine Neuproduktion mit sich bringt. Das kann klappen oder scheitern, und genau darin steckt der Reiz. Es wurden durchaus Erfolgsstücke der freien Szene eingeladen – wie beispielsweise Gob Squads „Western Society“ von 2013 –, aber es bleibt auch Raum für das Neue – gern als Kooperation, gern mit Künstlern, mit denen eine kontinuierliche Zusammenarbeit besteht.

Die Eröffnungsproduktion „Available Light“ ist eine Neufassung des gleichnamigen Avantgarde-Klassikers von 1983. Drei Kunstpioniere arbeiteten damals im Museum of Contemporary Art in Los Angeles zusammen: Minimal-Music-Komponist John Adams, Choreografin Lucinda Childs und Architekt Frank O. Gehry. Seine klaren, stufenartig hintereinanderliegenden Bühnenebenen teilen den Blick. Choreografin Lucinda Childs lässt zwei Tänzer auf der oberen Ebene agieren, während unten weitere neun zur schwingenden und drehenden Einheit eines Perpetuum mobile werden. Zeitversetzt kommen sie zu immer neuen Konstellationen in sich wiederholenden Schritt- und Drehfolgen zusammen.

In Kombination mit den minimalistischen elektronischen Klangflächen von John Adams hat diese Uhrwerk-ähnliche Präzision etwas Hypnotisch-Soghaftes. Doch wird das ewig Repetitive ohne Geschichte recht bald zur Monotonie. Da kann auch ein Musik- und Lichtwechsel im zweiten Teil keine spannende perspektivische Neuerung mehr bieten. Dennoch bleibt es eine reizvolle Idee, über 30 Jahre später das Remake einer Jahrhundertinszenierung live erleben zu dürfen – und festzustellen, dass das damals Avantgardistisch-Neue heute Gewohnheit geworden ist.

Ein großer Wurf des Festivals – in Kooperation mit dem HAU Hebbel am Ufer Berlin und dem Theater Basel – ist die Uraufführung „Bound to Hurt“, ein Grenzgang zwischen Musik, Performance und bildender Kunst. Video- und Installationskünstler Douglas Gordon inszeniert hier die Ausnahmeschauspielerin und Sängerin Ruth Rosenfeld in einem Albtraum zwischen Erotik und häuslicher Gewalt. Die Musik dazu steuerte der britische Komponist Philip Venables bei, der Songs zum Thema häusliche Gewalt zu verstörenden Ton- und Klangflächen arrangierte. Donna Summer, Eminem, Carole King lieferten die Vorlagen; im Laufe der Arbeit entstanden daraus Eigenkompositionen, da Venables die ursprünglichen Songs zersprengt. Das musikalisch herausragende deutsch-isländische Kammermusikensemble Adapter agiert neben der Bühne als Teil der Performance. Die Grenzüberschreiter der Neuen Musik treten dabei in einen fast intimen Dialog mit Ruth Rosenfeld, das Schlagwerk wird schon mal im wahrsten Sinne verprügelt.

Auf der Bühne braucht es nicht viel. Ein paar leere Weinflaschen, ein großes Leintuch, eine verknotete Lichterkette – und klug geführtes Licht. Sitzt das Publikum meist im Dunkeln, gerät es bei „Firestarter“ von The Prodigy in den grellen Fokus. Ein klares Zeichen, schließlich kann häusliche Gewalt durch Zusehen und Tatenlosigkeit des Umfelds zumeist unbehelligt bestehen. Zwischen diese gewaltvollen Momente mischt sich immer wieder das Zarte, nur die Bratsche und Rosenfeld, die den größten Teil des Abends in Nacktheit und Leintuch verbringt.

Der Abend findet seinen Abschluss in Henry Purcells „Cold Song“. Während Rosenfelds Stimme in Kaskaden nach oben klettert, schält sich langsam ein kleines Mädchen aus dem Weiß des Tuchs, ein kindliches Abbild Rosenfelds. Man sitzt im Dunkeln, wenn der letzte Ton verklingt, und spürt, wie die Kälte einem den Rücken hochkriecht. So bleibt es auch beim Publikumsgespräch im Anschluss, wenn Douglas Gordon sich am Boden liegend als Enfant terrible inszeniert, András Siebold nicht ausreden lässt und mit Philip Venables herumschmust. Ein Teil der Zuschauer verlässt kopfschüttelnd den Raum.

Dass Ur- und Erstaufführungen im Festivalumfeld natürlich Risiken bedeuten, zeigt „Schönheitsabend“ des Performanceduos Florentina Holzinger und Vincent Riebeek. Siebold kündigt die beiden als „provokantestes Performanceduo“ der heutigen Zeit an. Das Stück komme direkt von seiner Uraufführung bei ImPulsTanz Wien, man habe es also vor Festivalbeginn nicht ansehen können. Fast scheint es, als entschuldige er sich sicherheitshalber vorab für die Orientalismus-kritische Neuinterpretation des Scheherazade-Märchens. Holzinger als Sultansgattin Sobeide tanzt zunächst ein klassisches Duett mit ihrem gut gebauten Lieblingssklaven. Bald gibt es Bühnennebel, die Kostüme werden abgeworfen, und es geht ab ans Reck, wo es Poledance-mäßig ans Eingemachte geht. Holzinger schnallt sich einen beeindruckenden Plastikdildo um, auf dem sich Riebeek tatsächlich niederlässt. So provokativ das sein soll, so leer, abstrakt und ohne Reiz bleibt die explizite Sexualität auf der Bühne.

So ist das mit dem Sommerfestival. Man könnte viel über all die guten Stücke schreiben, die man gesehen hat, und auch über die nicht so guten. Über Tom Strombergs „Rausch“-Serie beispielsweise, 2015 in der „Versione Italiana da Giancarlo“ im Hinterzimmer des Eckitalieners mit den beiden Selig-Musikern Jan Plewka und Leo Schmidthals. Ein etwas anderer, rauschhafter Familienliederabend. Oder über die dramaturgisch etwas missglückte Uraufführung „Das Bauchrednertreffen“ von Gisèle Vienne, Dennis Cooper und dem Puppentheater Halle. Aber wie eingangs erwähnt: Hier wartet „Avantgarde für alle“, wie Siebold im Vorwort des Programmheftes schreibt, das Neue, nicht das Bewährte. Kein Mainstream, volles Risiko. Funktioniert ausgezeichnet. //

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