Theater der Zeit

III Mit Sprache handeln

Sätze über Sätze

von Horst Hawemann

Erschienen in: Recherchen 108: Horst Hawemann – Leben üben – Improvisationen und Notate (03/2014)

Assoziationen: Schauspiel

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Es ist wichtig, Sätze in der Arbeit auch mal wörtlich zu nehmen, pur zu nehmen als Möglichkeit des Ausdrucks.

Da kommt was auf mich zu.

Das haut mich um.

Das ist umwerfend.

Ich muss die Dinge in die Hand nehmen.

Ich hab dich so satt.

Was heißt das? Welche Vorgänge haben dazu geführt? Wie sieht das aus? Wie geht’s weiter?

Nicht bebildern, sondern den stark verdichteten Ausdruck wieder aufdröseln, wieder aufmachen. Bei Shakespeare z. B. kann man im Wörtlich-Nehmen große Szenen finden. „Beim Wort nehmen.“, das ist auch so ein Satz. „Ich nehme dich beim Wort“: Wie macht man das? Was ist das? Oder: „Das ist noch nicht das letzte Wort.“ Einfach mal anhalten und fragen: Was ist das letzte Wort? Ein Satz, der überhaupt keine Fragen erzeugt, ist sowieso ein dämlicher. Da muss kein Fragezeichen am Satzende stehen.

Ein weiteres Beispiel: „Es geht mit mir zu Ende.“ Wie viel Zeit brauche ich für die Darstellung dieses Satzes. Was ist das „Es“? Befragen, spielerisch befragen. Nicht inhaltlich erklären. Das ist manchmal müßig. Weil jeder sagen wird: „Es geht zu Ende. Weiß ich.“ Oder: „Ich verstehe, was damit gemeint ist.“ Aber wie geht das vor sich? Wie handelt das? Was ist das für ein Vorgang? Das Wort wieder in Handlung umsetzen oder das verdichtete Bild wieder zu einer Landschaft machen – das ist das, was außerordentlich hilft.

Und dann sagt man vielleicht „Sein oder nicht sein. Das ist hier die Frage“ ganz anders. Nämlich nicht so sehr nach der Attraktion dieses viel benutzten Monologes suchend, sondern im Sinne von: „Was ist los? ,Sein oder nicht sein. Das ist hier die Frage“, versteh ich nicht.“. Versteht kein Mensch beim ersten Hören. Sie tun alle bloß so.

Was ist also „nicht sein“? Darüber gibt es viele Kapitel in philosophischen Werken. Kann ein Schauspieler das alles zeigen? Nein. Aber er kann zeigen: Versteh ich nicht! Deshalb hab ich eine Frage. Das kann er als szenischen Vorgang zeigen. Stellen wir uns vor: Der Schauspieler ist allein auf der Bühne. Es ist ein Monolog. Natürlich gucken ihm da Leute zu. Er kann etwas tun, was er mit einem Partner nie machen würde. Auch wenn bisher niemand im Stück mit den Zuschauern geredet hat, kann er zum Publikum gehen und sagen: „Jetzt kommt mein Monolog: ‚Sein oder nicht sein. Das ist hier die Frage‘ – den kennen Sie …“. Er kann dabei den Hosenschlitz zumachen oder ein Pferd füttern. Es ist ein Monolog!

Sätze muss man unbedingt aus der Handlung heraus entstehen lassen, man muss sie „handeln“ und gucken, wo sie „weiterhandeln“. Sätze eines Autors sind immer Zitate. Sie werden nie zum Eigentum des Spielers. Die Sätze des improvisierenden Spielers hingegen sind sein Eigentum. Es gibt immer ein Davor, Dabei und Danach. Man handelt zu Sätzen hin, handelt mit ihnen und entwickelt sie weiter. Bei einem guten Text ist der folgende Satz immer ein entwickelter. Gute Sätze verdichten Handlungen. Man muss sie „entdichten“, befragen und über das Handeln sinnlich machen.

Ein Beispiel. „Ich verstehe die Welt nicht mehr.“ Wie ist dieser Satz entstanden? Wo bin ich mit ihm angekommen? Wie sieht die Welt danach aus? Schließlich halte ich mich ja noch in ihr auf. Liegt es an der Welt, dass ich sie nicht verstehe oder an mir? Brachte mich eine Situation zu diesem Satz oder eine Fülle von Ereignissen? Wie endgültig ist er? Ist es nur ein Zwischendurchseufzer oder eine erdrückende Summe von Erfahrungen? Muss ich allein damit fertig werden oder habe ich Partner? Wenn ich Partner habe, macht dieser Satz andere Sätze nötig. Er kann nicht allein bleiben. Er wird Teil eines Dialoges.

Also: Der Darsteller sucht nach dem Weg zu diesem Satz, er erhandelt ihn szenisch, was besser ist, als ihn nur zu begründen. Daraus ergeben sich Folgen. Der Satz wird dramatisch, weil er – ausgesprochen – öffentlich wird. Er musste gesagt werden, weil es einen Grund gab, ihn nicht mehr zu verschweigen.

Übung: Der schöne Satz

Man nimmt einen Satz. Schön, wenn es ein Satz ist, der nicht aus dem normalen Sprachgebrauch kommt.

Zum Beispiel Shakespeare: „Lass mich den Löwen auch noch spielen.“ Oder: „Es ist hübsch, ein Türpfosten zu sein.“

Diese Sätze werben. Sie interessieren und sie machen Lust.

Jetzt schlägt man einem Spieler vor: Geh doch mal auf den Korridor und versuch, dich diesem Satz anzunähern. Was muss gehandelt werden, was muss geschehen, dass du zu diesem Satz kommst? Was möchtest du anstellen, damit dieser Satz entsteht? Was ist davor? Wie läuft einer, der irgendwann sagen wird: „Es ist hübsch, ein Türpfosten zu sein“? Welche Stimmung hat so einer, welches Problem, welchen Konflikt? Der Satz ist ja da. Er muss ihn sich nicht ausdenken. Er interessiert. Er ist merkwürdig. Er hat einen Spielreiz. Nicht der Spielleiter trainiert oder übt den Spieler dahin, sondern er sagt: Versuch mal, dich diesem Satz anzunähern. Ohne Worte. Wie kommst du zu diesem Satz?

Das ist eine erstaunliche Übung, weil sie ohne große Aufforderung zum Handeln reizt, nach Gründen zum Handeln sucht und in den Gründen fürs Handeln auch den Grund für den Satz findet. Natürlich ist es bei diesem Annäherungsweg verboten, andere Worte zu benutzen. Der vorgeschlagene Satz verweist auf andere Mittel, obwohl als Ziel die Sprache und das Sprechen stehen. Man überlässt es dem Spieler, wie er zu diesem Satz kommt, d. h. er findet diesen Satz. Erfunden ist er schon. Oder er entdeckt diesen Satz und er entdeckt den Weg, der zu ihm führen kann.

Diese Übung ist vielfach zu verwenden, je nachdem was der Spielleiter erreichen will. Man kann den Satz „Ich will nicht mehr die Ente spielen“ nehmen, wenn er thematisch passt. Man kann diese Übung aber auch ganz zielorientiert einsetzen, z. B. bei einem Aufenthalt auf einer Probe einen Spieler wegschicken mit der Aufgabe: Wie kommst du zu diesem Satz, und zwar nicht über Sätze und nicht über Worte, sondern über die andern Mittel?

Man kann die Übung auch mit zwei Sätzen machen. Zwei Spieler gehen raus. Ob sie da draußen spielen oder sich bereden, ist nicht so wichtig. Die Frage könnte sein: Wie komme ich von dem Satz „Will nicht mehr Fische putzen und Teller. Freiheit. Freiheit. Freiheit!“ zu dem Satz „Die Wolken sehen aus, als würden sie Dörtchen Lakenweißer heißen.“ (Shakespeare)? Wie kommen zwei Spieler zu diesen Sätzen? Einzeln? Oder finden sie einen Dialog? Da ist ein großer Weg dazwischen, den muss man gehen. Wie arbeiten sie sich dahin? Die Aufgabe ist also: Zu einem Satz hinhandeln! Damit hat man das Gestaltungsmittel und das Ausdrucksmittel Sprache erst mal eingeführt. Man arbeitet zuerst mit vorgegebenen Sätzen. Der Nebeneffekt ist, dass die Spieler bemerken, dass zwischen den Sätzen Raum ist, auch wenn diese hintereinander gesprochen werden. Sie werden erkennen, dass auch in den Sätzen Raum und Zeit ist.

Eine weitere Entwicklung der Übung: Man schlägt einen Dichtersatz vor. Es kann sogar ein berühmter sein. Der Darsteller macht sich auf den Weg zu diesem Satz, schafft sich Umstände mit deren handelnder Unterstützung er den Satz erreicht. Das darf dauern. Dieser Vorgang bringt szenisches Verständnis für einen „großen“ Satz, er führt an den Dichter heran und schafft Zugang, später auch Verständnis, für einen „fremden“ Satz. Eine solche Umwegetüde unterstützt die szenische Arbeit an einem Stück, das sich nicht auf die Erfahrungswelt der Spieler stützen kann.

Beispiele für Narrensätze (Shakespeare):

„Rassle nach Herzenslust! Spei Feuer! Flute Regen!“

„Der Narr hat Gelenke, aber nicht – sich zu verbeugen.“

„Ein Narr schlägt nicht, er wird geschlagen.“

Jeder dieser ungewöhnlichen Sätze braucht eine besondere Aufmerksamkeit. Es ist wichtig, sich im Satz aufzuhalten – nicht nur davor und danach. Er ist zwar fertig auf dem Papier, aber er entsteht auf der Bühne. Für den Weg zum Narrensatz braucht es eine gewisse Zeit und eine Vorbereitung. Es ist eine Aufgabe für den nächsten Tag, denn so schnell versteht man einen Narren nicht…

Nummer: Einen Satz bewegen oder Müller ist ein guter Kollege

Man sagt: „Müller ist ein guter Kollege.“

Und jetzt soll der Darsteller immer ein neues Wort in diesen Satz einbringen.

Müller ist ein sehr guter Kollege.

Müller ist ein außerordentlicher sehr guter Kollege.

Er überlegt also, wie er in einer gewissen sprachlichen Logik solche Wörter einführen kann.

Unser Müller ist ein außerordentlicher sehr guter Kollege.

Unser aller Müller ist ein außerordentlicher sehr guter Kollege.

Unser aller Herr Müller ist bestimmt ein außerordentlicher sehr guter Kollege …

Man bewegt diesen Satz und erfährt spielerisch die Bedeutung des einzelnen Wortes. Das macht der Spieler selbst.

Jetzt kann von außen zugearbeitet werden. Da ruft einer von außen rein (das ist jetzt sehr regiemäßig): „Na ja!“

Jetzt geht der Satz so:

Na ja, unser aller Herr Müller ist bestimmt ein außerordentlich sehr guter, aufrichtiger, prima, etwas müder Kollege.

Oder: Unser aller Herr Müller ist ein bestimmt, na ja, ein …

Der Satz ist völlig anders, man muss gar nicht interpretieren, wie anders, man spürt es. Es sind Wörter die den Satz bewegen. Dieses „Na ja“, charakterisiert den ganzen Satz anders.

Oder: „Hoppa hoppa.”

Unser aller, na ja, Herr Müller ist ein außerordentlich, hoppa hoppa, sehr guter, aufrichtiger, prima, etwas müder Kollege.

Nur nicht herumspielen, sondern diesen Satz handeln! Und man merkt, wie der Satz durch ein eingeschobenes Wort gestisch wird. Er benötigt oder provoziert andere Ausdrucksmittel und verändert dadurch noch einmal seinen Sinn, seinen Charakter, sein Ziel, sein Thema.

Das ist angewandte Improvisation. Sie geht von einem Mittel aus und wird durch Phantasie zur Improvisation. Ich versuche immer, für Improvisationen vorzuschlagen: ein Thema oder eine Idee und ein oder mehrere Mittel, um die Phantasie anzuregen. In diesem Fall ist das Mittel die Sprache.

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