Theater der Zeit

Thema

Neue Zeiten, neue Stimmen Über die Chancen eines Generationswechsels im ungarischen Theater von Tamás Jászay

von Tamás Jászay

Erschienen in: Theater der Zeit: Unter Druck – Das Theater in Ungarn (04/2018)

Anzeige

Dieser Text soll von der näheren Zukunft des jungen ungarischen Theaters handeln. Unter den heutigen Verhältnissen lassen sich jedoch besonders schwer Vorhersagen treffen. Also berichte ich eher über die aktuellen, zum Teil inspirierenden, zum Teil aber deprimierenden Zustände und hoffe, dass sich meine etwas subjektive Liste junger, herausragender Theatermacher als begründet erweisen wird. Die Künstler und die Gruppen, die im Folgenden kurz und bündig vorgestellt werden, sind schon heute anerkannte Theatermacher. Ich habe meine Liste in der Hoffnung zusammengestellt, dass ihre Werke demnächst voll entfalten können und sie nicht spurlos von der Bühne verschwinden.

Nehmen wir uns ein Zitat von jemandem, dessen Vorhersagen schon öfters ins Schwarze getroffen haben. Árpád Schilling hatte 2007 einen Artikel unter dem Titel „Vaterlos“ veröffentlicht, um seine Zeitgenossen und ihre Nachfolger zum Handeln zu inspirieren. Hier ging es vor allem um einige vermutlich auch im deutschsprachigen Raum bekannte Namen der nach 1970 geborenen ungarischen Regiegeneration, wie etwa Béla Pintér, Kornél Mundruczó, Zoltán Balázs und Viktor Bodó. Schilling schrieb: „Wir müssen zurück in die Schule, um die Fachkenntnisse von null an zu erwerben, denn manche dieser Fächer standen noch nie auf dem Lehrplan: Projektorientierung, Management (Intendanz), Public Relations, Sponsoring (Zusatzfinanzierung) usw. (…) Wenn wir in zwanzig Jahren immer noch auf dem Theater arbeiten wollen, dann müssen wir die Ärmel hochkrempeln, dann müssen wir überlegen, planen, dann müssen wir endlich hart arbeiten. (…) Wir müssen uns die Frage stellen: Was bedeutet das Theater für uns? Lebensunterhalt? Position? Eine Gemeinde? Ein Terrain für Experimente? Selbstausdruck? Ein Forum? Egal, wie die Antwort lautet, sie muss ehrlich sein.“

Ein Spiegel der Verhältnisse

Ich finde, dass die im Schatten der großzügig subventionierten Stadt- und Staatstheater langsam ausblutende freie Theaterszene aus vielerlei Gründen eine Nahaufnahme wert ist. Die oben genannten Regisseure verbindet nicht nur das Alter, sondern auch die bedeutende Rolle, die sie in der ungarischen Theaterszene spielen. Schilling inszeniert momentan gar nicht in Ungarn, Bodó hatte gerade seine erste ungarische Premiere seit anderthalb Jahren, und Mundruczó bringt seine ambitionierten Theaterprojekte seit vielen Jahren ausschließlich mithilfe großer internationaler Koproduzenten und bei äußerst bescheidener staatlicher Unterstützung aus Ungarn auf die Bühne. Aber was ist mit denen, die erst einmal in Ungarn geblieben sind? Diejenigen, die auf Projektbasis arbeiten, bilden die wahrscheinlich größte Gruppe. Viele junge Theatermacher begreifen schon während des Studiums, dass die Wahrscheinlichkeit, nach dem Diplom ein festes Engagement zu erhalten, immer geringer wird. Stattdessen müssen sie ihre eigene Karrierestruktur aufbauen, in der sie sich wohlfühlen. Die häufigste Methode dafür ist, Ad-hoc-Gruppen ins Leben zu rufen.

Manche kommen ohne Regiediplom aus, wie etwa der Dramaturg Kristóf Kelemen, der inzwischen ein Allroundtheatermacher geworden ist. Seine Projekte sind grundsätzlich anders als das ungarische Mainstreamtheater. Die beiden Produktionen, die hier erwähnt werden, sind mithilfe des international renommierten Trafó House of Contemporary Arts entstanden. Trafó ist immer auf der Suche nach aufstrebenden jungen Talenten und bietet ihnen eine Spielstätte und ein Koproduktionsbudget an, wenn das Projekt vielversprechend klingt. Kelemens erstes Stück „Während Sie diesen Titel lesen, reden wir über Sie“ verwendet Peter Handkes klassisches Skandalstück „Publikumsbeschimpfung“ als Ausgangspunkt. Dennoch erwarten den Zuschauer keine Unannehmlichkeiten. Die geistreiche, freimütige Revue spielt mit Selbstreflexion auf eine Weise, wie es im ungarischen Theater sonst selten vorkommt. Handke dient bei Kelemen nur als Sprungbrett, denn nach den ersten Zeilen befinden wir uns im Tempel des ungarischen Schauspielunterrichts und hören redigierte Bekenntnisse der Schauspieler, die auf der Budapester Film- und Theateruniversität studiert haben. Manche Fragen werden von allen beantwortet: „Gab es unter den Examensprojekten einen absoluten Flop?“ oder „Braucht ein Schauspieler Marketingkenntnisse?“, und als Antwort bekommen wir meistens selbstironische, lebendige Jeremiaden. Unter den Tränen und dem Gelächter wird klar, dass die jungen Leute trotz aller Beschwerden bei ihrem Beruf bleiben wollen.

Kelemens nächstes Projekt „Ungarische Akazie“ wählt einen breiteren Fokus. Es mischen sich fiktive Elemente mit dokumentarischen, Kelemen spielt frei mit den verschiedenen Formaten des aktiven Schaffens und der aktiven Rezeption. Sechs Monate (halb)ernster Recherchearbeit haben ein konstruiertes und ein reales Ego für den Protagonisten, die ungarische Akazie, geschaffen, und diese Melange aus biologischen Fakten und ideologischer Ausschlachtung wirkt geradezu surrealistisch. „Aber das ist doch nur ein Baum!“, würde man am liebsten dazwischenrufen, wenn man die Politiker auf der Bühne lange und kämpferisch darüber debattieren hört, ob es um eine einheimische oder eine invasive Einwanderer-„Rasse“ geht. „Ungarische Akazie“ hält den ungarischen Verhältnissen einen geistreichen und intelligenten Spiegel vor.

Alltagsgeschichten und Klassiker

Kennt man die ungarische Theatergeschichte, so weiß man, dass Inszenieren, vor allem aber Stückeschreiben hierzulande viel zu oft nur Männersache sind. Andrea Pass, die Theatergeschichte und Szenisches Schreiben studiert und jahrelang als Theaterpädagogin Erfahrungen gesammelt hat, ist eine der wenigen, erfrischenden Ausnahmen. Sie schreibt und inszeniert eigene Stücke und gewinnt dafür renommierte Schauspieler aus der Stadttheater- wie aus der freien Szene. Entscheidender als ihre puritanische und zielstrebige Regie sind ihre Dramen, die sich auf deutlich und klar formulierte Probleme konzentrieren. Sie schreibt einfühlsame und leicht spielbare Stücke. Großpolitik kümmert sie weniger, sie schreibt über die Familie und Situationen in deren nächster Nähe: in der Schule, im Büro, im Schlafzimmer. Der soziale und familiäre Fokus erscheinen bei ihr manchmal in merkwürdiger Kombination. Zuerst ist man überrascht, dass ihr Stück „Neuwelt“ im Jahre 1999 spielt, aber schnell wird klar, dass hier eine Alltagsgeschichte in die Geburtsstunde der ungarischen Neonazi-Bewegung kippt. Das Stück „Sonnenblume“ ist außergewöhnlich konstruiert, weil es die Geschichte gleichzeitig durch die Augen der Kinder und der Erwachsenen erzählt. Bei Pass verwandeln sich erwachsene Schauspieler auf der Bühne in Kinder, ohne einen Hauch Kitsch. Eine psychisch labile Mutter zerstört nicht nur ihr eigenes Leben, sondern auch das der Familie.

Manche Regisseure dagegen vertrauen auf Klassiker. Máté Hegymegi, der unter Csaba Horváth Choreografie und Regie für physical theatre studiert hat, platzte mit seinem „Kohlhaas“ ins ungarische Theaterleben. Er hat mit seiner Dramaturgin die Kleistʼsche Erzählung in einen sparsamen, modernen Theatertext übertragen. Klare Verhältnisse und reiche Figuren voller Leben und Energie. Die Welt des Kohlhaas ist unkompliziert: Seine Pferde und seine Frau sind ihm am wichtigsten, alles andere kommt danach. Der Regisseur zeigt in sinnlichen, farbenfrohen, wunderschönen Bildern und Bewegungen, die dem Text Tiefe geben, wie Kohlhaas alles verliert, alles für seine blutige Rache aufopfert. Hegymegis nächste Regiearbeit zeigt eine andere Dimension: Sein fünfstündiger, site-specific „Peer Gynt“ ist ein ungewöhnliches Erlebnis. Darsteller und Zuschauer verlassen den kleinen Saal des Studio-K-Theaters zusammen, um Peer zu suchen. Wir finden ihn in einem unterirdischen Labyrinth eines verlassenen Kellersystems wieder. Erst als Peer vor dem Knopfgießer flieht, folgen wir dieser symbolischen Figur, die sonst die ganze Zeit an einem Ort ist und nur in der eigenen Seele herumreist, zurück in die Stadt. Die Vorstellung nutzt die engen, dunklen Flure und diegroßen, leeren Säle des Kellersystems für ihr Spiel, und man muss selbst im Sommer mit kühlen Temperaturen um die zehn Grad rechnen – was sowohl für Darsteller als auch Zuschauer eine echte Herausforderung bedeutet. Die lange Reise nimmt ein kathartisches Ende: Der schon grau werdende ewige Heranwachsende, der die Welt bereist hat, wird von einer alten Solvejg empfangen und verabschiedet.

Wenige junge Regisseure genießen den Luxus, regelmäßig in Repertoirehäusern mit festen Ensembles arbeiten zu dürfen. Es ist immer erfrischend, wenn ein Theater neben den alten Meistern Werke dieser jungen Talente auf den Spielplan setzt. Die Möglichkeit, das fabrikähnliche Funktionieren der Stadt- und Staatstheater von innen kennenlernen zu können, bietet diesen jungen Menschen eine Chance abseits der Low-Budget- oder No-Budget-Produktionen der freien Szene. Kriszta Székely ist seit einigen Jahren – übrigens die erste weibliche – Hausregisseurin am weltberühmten József-Katona-Theater. Sie hat sich auf Frauengeschichten spezialisiert, und ihre Werke zeigen eine Art Empfindsamkeit, die ihre Regiearbeiten unverkennbar macht. „Petra von Kant“ nach dem gleichnamigen Film von Rainer Werner Fassbinder zeigt das Duell zwischen zwei sich liebenden Frauen in einer intimen Nähe, die den Zuschauer in Verlegenheit bringt. Ibsens „Nora“ unter dem Titel „Weihnachten bei den Helmers“ auf der großen Bühne des Katona-Theaters ist eine gewagte Adaption, die das Publikum spaltet: Der Abend wird entweder gehasst oder fanatisch geliebt. Diese Nora ist eine perfekte Porzellanpuppe: Ihr Kleid, ihre Schminke, ihre Gesten sind makellos. Sie passt sich ihrem Mann perfekt an, und es ist gerade die völlige Zerstörung dieser Perfektion, die im großen Endmonolog des Stückes auffällt, den Nora in einem verschlissenen Kleid, ganz ohne Schminke, spöttisch vorträgt. In ihrer neuesten Inszenierung im Katona-Theater zeigt Kriszta Székely ein drittes Frauenschicksal mit rührender, erschütternder Gründlichkeit: das der Grusche in Brechts „Kaukasischem Kreidekreis“. Die Regisseurin wirkt auf Seele und Verstand: Sie bringt uns ihre Figuren nah und entfernt uns von ihnen zugleich. Grusche ist eine ätherisch-reine Figur, mit ihr verglichen gehören alle anderen zu einer niedrigeren Kaste. Ihre authentische Makellosigkeit bietet selbst in den düstersten Zeiten Hoffnung und Erleichterung.

Auflösung der Grenzen

Oft wird das Repertoiretheater mit festem Ensemble als der größte Schatz der ungarischen Bühnen betrachtet. Tatsächlich haben seit den siebziger Jahren die zur rechten Zeit am rechten Ort entstandenen, von klugen künstlerischen Leitern gut kanalisierten Ensembleenergien einige der unvergesslichsten Kapitel der Theatergeschichte entstehen lassen. Und obwohl ein kreatives Umdenken des Ensembleformats durch die unberechenbare Subventionierung der ungarischen freien Szene unmöglich ist, versuchen manche freie künstlerische Leiter, immer wieder mit denselben Schauspielern zu arbeiten, aber trotzdem werden sie meistens nur auf Projektbasis bezahlt. Von einem monatlichen Gehalt können die meisten Künstler der freien Szene nur träumen.

Dollar Daddy’s Children (DDCh) sind das perfekte Beispiel für ein langsames, zähes Aufbauen eines winzig kleinen Ensembles. Die Gründer Tamás Ördög und Emőke Kiss-Végh gingen zusammen auf die Kaposvárer Schauspielschule und fingen nach dem Diplom an, ihre „Hedda Gabler“-Adaption unter dem Titel „Ibsen in mein Wohnzimmer!“ in der Intimität der privaten Wohnung des Zuschauers zu spielen, der die Inszenierung bestellte. Das Stück läuft bis heute mit großem Erfolg. Dieses Miniprojekt war das erste, in dem DDCh anfingen, mit ihrem Spiel- und Sprechstil zu experimentieren, den sie in den folgenden Projekten immer selbstsicherer verwendeten. Ihr Ausgangspunkt ist immer ein klassischer Text, meistens ein Drama. (Eine frühe Ausnahme war der umwerfende Monolog von „Madame Bovary“, gespielt von Emőke Kiss-Végh und quasi neu vertont im Setting der ungarischen Provinz.) DDCh haben ihre skandinavische Trilogie mithilfe von Trafó auf die Bühne gebracht, unter den jeweiligen Titeln „Liebe“, „Heimat“ und „Kind“, basierend auf jeweils einem Ibsen- oder Strindberg-Drama („Pelikan“, „Klein Eyolf“, „Nora“). Das Publikum sitzt im Quadrat um einen teppichbedeckten und mit Neon beleuchteten Raum des sonst leeren Tanzprobesaals des Trafó herum, die Schauspieler erheben sich von den Stühlen der Zuschauertribüne und führen die Schicksale unglücklicher Familien im direkten, natürlichen Ton vor. Der sonst existierende Rahmen des Theaters, alles, was die Bühne von der Realität trennt, wird aufgelöst und bleibt dennoch erhalten. Das Stück „Tschechow“ erweitert das Format und zieht die Grenzen neu. Ein riskantes, aber nicht erfolgloses Unternehmen: Aus den großen Tschechow-Stücken wird ein Remix erstellt, in dem die symbolischen Szenen sich plötzlich nebeneinander finden, um eine neue, logische Tschechow-Geschichte zu erzählen.

Das Ensemble, das in der jungen, freien ungarischen Theaterszene am häufigsten Premieren feiert, heißt K2-Theater und ist vor ein paar Jahren aus der Schauspielerklasse der Kaposvár-Universität entstanden: eine flexible Gruppe, die vom Monolog über Dokumentartheater und klassisches Drama bis zur großen, zeitgenössischen Operette alle Gattungen bedienen kann, die Leitung liegt bei Bence Benkó und Péter Fábián. Die beiden schreiben und inszenieren die Texte oft selbst, und die Stücke erzählen meist vom Theater und Theatermachen. Mal verdeckt, mal ganz offen wird daraus eine großartige, groteske Kritik des ungarischen Theaters, wie zum Beispiel in meinem Lieblingsstück nach Bulgakow unter dem selbst auf Ungarisch schwer zu verstehenden Titel „Züfec“. Auch äußerst aktuelle Themen werden verwendet, wie zum Beispiel Fußballkrawalle in dem Stück „Hummel“. In jeder Produktion lauern die alles bestimmenden Fragen: Wo sind wir, wer sind wir, und wozu sind wir auf dieser Welt? Und während sie Antworten anbieten, stellen sie das scheinbar Sichere infrage, lachen die zentral diktierte Ordnung laut aus und zeigen uns, dass nichts so ist, wie es uns scheint (nämlich in Ordnung).

Das ist das ungarische Theater heute. Ich bin gespannt, was das ungarische Theater von morgen diesen jungen Theatermachern und uns zu bieten haben wird.

Übersetzung aus dem Ungarischen von Anna Lengyel.

teilen:

Assoziationen

Neuerscheinungen im Verlag

Die „bunte Esse“, ein Wahrzeichen von Chemnitz
Alex Tatarsky in „The Future Is For/ Boating“ von Pat Oleszkos, kuratiert von ACOMPI für die Galerie David Peter Francis, Juni 2024, vor dem Lady Liberty Deli im St. George Terminal, Staten Island, New York