Theater der Zeit

Über das Schreiben für Kinder in der Zukunft

von Stefan Fischer-Fels, Henrik Adler und Kirstin Hess

Erschienen in: Ab morgen …! – Über Theater für Kinder in der Zukunft (07/2016)

Assoziationen: Kinder- & Jugendtheater Dramatik Dossier: Zukunft des Kinder- und Jugendtheaters

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In einer Ausgabe der Wochenzeitung DIE ZEIT vom Februar 2016 wurde eine große Studie zur Zukunft der Deutschen veröffentlicht. Die Frage lautete: Was wollen wir weitergeben? Deutlich wurde in der ZEIT-Studie mit dem bezeichnenden Titel »Das Vermächtnis«, dass Traditionen und Normen in Auflösung begriffen sind – und dass nur die wenigsten darüber jammern. Dennoch gibt es die Befürchtung, künftige Generationen würden es nicht leicht haben, was Sicherheit und Partnerschaften angeht, aber auch was sozialen Zusammenhalt und persönliche Aufstiegschancen betrifft. Die Zukunft macht doch Angst.

Mehr und mehr Welt sickert in das vergleichsweise geschützte Leben in Wohlstandsdeutschland: Flucht und Vertreibung, alte und neue rassistische Denkmuster verändern diese Oase. Kindheit bildet seismografisch die Bruchstellen der Gesellschaft ab. Aber wie? Welche Erfahrungen machen Kinder in einer sich rasend verändernden Gesellschaft? Und welche machen sie vielleicht nicht? Verstehen wir Erwachsenen noch ansatzweise, was gerade geschieht im global village? Wir Theatermacher sind die Generation, die einmal das Fallen von Grenzen miterlebt und das Zusammenwachsen Europas begrüßt hat, nun aber dabei zuschaut, wie Europa seine Grenzen dichtmacht und die Werte von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit nur noch für Westeuropäer gelten. Wer will, kann entdecken, dass unser Leben und das Aufwachsen unserer Kinder in Frieden, Freiheit und Wohlstand global gesehen auf Strukturen der Ungleichheit aufgebaut ist, auf einem eurozentristischen Blick, der nicht mehr zeitgemäß ist. Wie gehen wir damit um?

Der Schamane Davi Kopenawa, ein Yanomami, sagt: »Die Weißen schlafen viel, aber sie träumen nur von sich selbst.« Wie können wir leistungsstarke »Weltempfänger« werden (ein Wort, das Lutz Hübner einmal benutzt hat)? Und wie können wir dabei auch den fremden, anderen Blick in unsere Träume einbeziehen und unsere eigene Rolle selbstkritisch betrachten? Inwieweit können wir Kinder mit diesen komplexen Fragen konfrontieren? Welche Dramaturgien eignen sich dafür, die nicht didaktisch, aber multiperspektivisch die Dramen der Weltgesellschaft sezieren und in unser Bewusstsein rücken?

Wie verändern sich Kommunikation, das Verhältnis der Generationen, die Institution Schule? Was wissen wir von ähnlichen Entwicklungen in anderen Ländern? Und – dies alles zusammendenkend: Wie verändert sich das Geschichtenerzählen für Kinder? Theater für junges Publikum ist die einzige Kunstform, die sich mit der Zukunftsfrage permanent beschäftigt: Was wollen wir der »jungen Generation« erzählen von der Welt? Was wissen wir überhaupt selbst über die gravierenden Transformationsprozesse unserer Gesellschaft? Wie können wir also als Künstler »Zeitgenossenschaft« herstellen?

Der »berliner kindertheaterpreis« war und ist ein Labor für neue dramatische Texte für Kinder. Der Autor, die Autorin wird hier verstanden als integraler Bestandteil, ja Keimzelle des Theaters. Dementsprechend steht ihm bzw. ihr ein ganzes Theater mit allen Abteilungen für das Schreiben und Recherchieren, für das Entwickeln und Ausprobieren zur Verfügung. In den letzten fünf Jahren war dieser Wettbewerb außerdem ein Labor für die Weiterentwicklung eines alten GRIPS-Gedankens: Angetrieben von unserer Neugierde, wollten wir die Formen und Inhalte des sogenannten emanzipatorischen Kindertheaters durch neue Autorenblicke und andere, jüngere Kindheits- und Welterfahrungen erweitern und in zahlreichen Uraufführungen überprüfen. Und deshalb war es uns, GRIPS und GASAG, nach zehn Jahren erfolgreicher Zusammenarbeit ein Anliegen, in einer Sonderedition die Zukunftsfrage selbst zum Thema zu machen. Dafür haben wir unter den Texten der 22 ausgewählten Autorinnen und Autoren der letzten fünf Wettbewerbe noch einmal nachgeforscht und vier Dramatiker gefunden, mit denen wir das Abenteuer einer intensiven Arbeit an Theatertexten noch einmal wagen wollten. Die Kriterien unserer Suche waren Qualität und Aktualität der Texte; Humor und sprachliche Schönheit, Sensibilität und Mut im formal Ästhetischen; die Haltung der Autoren zu ihrem Publikum; nicht über Befindlichkeiten, sondern über Welt zu erzählen – und unsere Lust auf sie. Wir haben sie gefunden: Die Preisträger des sechsten »berliner kindertheaterpreises«, der »Special Edition« sind Carsten Brandau, Reihaneh Youzbashi Dizaji, Mathilda Fatima Onur und Kristo Šagor. Herzlichen Glückwunsch!

Wir haben Experten, Künstler, Kinder, kritische Beobachter und die ausgezeichneten Autoren und Autorinnen eingeladen, gemeinsam über Zukunft nachzudenken. An drei Tagen im Februar 2016 diskutierten wir drei thematische Kernbereiche: Kindheit und Digitalisierung. Kindheit in der Einwanderungsgesellschaft und Kindheit im Kontext sozialer Gerechtigkeits- und Teilhabefragen. Mit uns debattierten u. a. der Sozialwissenschaftler Manfred Liebel, die Kinder- und Jugendärzte Elke Jäger-Roman und Ulrich Fegeler, Christian Huberts, Raffaela Then von FUTURZWEI. Stiftung Zukunftsfähigkeit und Kinder der Hermann-Nohl-Schule in Neukölln.

Für dieses Buch haben wir eine Auswahl anregender Gedanken gesammelt. Hier werfen wir keinen Blick in die Kristallkugel, sondern fragen: Welche Keime von Zukunft sind bereits heute erkennbar und beschreibbar? Wir suchen nach Werkzeugen, Strategien und weiterführenden Fragestellungen. Unsere vier Preisträger haben sich zu Stücken anregen lassen. Diese sind hier ebenso abgedruckt wie ihre Gedanken zur Zukunft des Schreibens nach dem gemeinsamen »Zukunftsworkshop«.

Der Journalist Thomas Irmer fasst seine Eindrücke des Workshops zusammen und spitzt sie in der Frage zu: Ist das Digitale das neue Soziale und was bedeutet das für das Stückeschreiben? Henrik Adler denkt über Kindheit als gesellschaftliche Konstruktion nach und darüber, welche Konsequenzen daraus für das Kindertheater erwachsen. Er reflektiert die Veränderungen in der Arbeit mit Autoren am GRIPS in den letzten Jahren. Kirstin Hess schreibt anlässlich eines Workshops mit dem Jugendtheaterbüro Berlin über die Notwendigkeiten und Tendenzen interkultureller Öffnung des Kindertheaters. Die Theaterpädagogen Benjamin Böcker und Stefanie Rejzek berichten über das Experiment, Kinder und Erwachsene gemeinsam Spiele erfinden zu lassen. Nora Hoch berichtet mit dem Gaming-Experten Christian Huberts über eine unglaublich ausdifferenzierte Parallelwelt. Raffaela Then gibt schließlich einen Impuls aus dem Geiste der »Geschichten des Gelingens«, dem Forschungsgebiet von FUTURZWEI.

Wir freuen uns, dass uns beim Workshop Dramaturgen zweier befreundeter Theater begleitet haben: Judith Weißenborn vom Jungen Schauspielhaus Düsseldorf und Christian Schönfelder vom Jungen Ensemble Stuttgart ergänzen die Arbeitsergebnisse aus ihren Perspektiven. In einem längeren Gespräch darüber, welche Stücke das Theater für Kinder in der Zukunft braucht, haben wir vier unterschiedliche Perspektiven zusammengebracht: Die Regisseurin Grete Pagan, die Schauspielerin Alessa Kordeck, die Autorin Tina Müller und der Leiter des Kinder- und Jugendtheaterzentrums Gerd Taube diskutieren mit dem Theaterleiter Stefan Fischer-Fels den Stand der Dinge: Welche Geschichten erzählen wir ab morgen?

Eine Antwort auf die Frage lautet: die immer gleichen. Denn Kinder lieben gute Stories. Egal ob Mythos, Fabel, Legende, Märchen, Novelle, Epos, Tragödie, Drama, Komödie – zu allen Zeiten, in allen Gesellschaften und in allen Kulturen. Keine Kultur für Kinder ohne Erzählungen. Der Homo sapiens ist vor allem ein Homo narrans, und Kinder sind die storytelling animals schlechthin. Kinder wollen nachdenken über Wünsche, Hoffnungen und Ängste. Sie wollen verstehen, was der, die andere im Schilde führt, wer Freund ist und wer sich verstellt. Erzählungen vermitteln und versöhnen. Sie stiften Sinn. Sie geben Auskunft über Anfang und Ende, Aufbruch und Erlösung, Flucht und Niederlage. Sie dienen der Verständigung mit anderen und der Selbstversicherung im Prozess des Aufwachsens. Stücke aus dem Geiste des Erzählens werden immer Abbild von Welt sein, werden Figuren, ihre Konflikte und Handlungen in den Mittelpunkt stellen.

Die andere Antwort lautet: Themen und Formen des Textes sind Spiegel der Zeit, und daher sind gute Geschichten von heute und morgen auch neu und anders als die Geschichten von gestern. Was gerade im Theater, auch im Kindertheater, on top entsteht, sind Erweiterungen, Ergänzungen: eine große Bandbreite an Erzähl- und Erlebnisformen, veränderten Rollen der Autoren und der Theatermacher eingeschlossen. Teams von Regisseuren / Schauspielern / Dramaturgen machen sich auf Entdeckungsreisen, kreieren Performances. andcompany&Co., eines der renommiertesten freien Theaterkollektive in Deutschland, beschreibt den vielfältigen Umgang mit Texten so: »Postdramatik bedeutet ja nicht in erster Linie, sich vom Text abzuwenden, sondern ganz neu um ihn zu spielen.«

Das Nachdenken über die Frage, wie und für wen man schreibt, führt zu unterschiedlichen Ergebnissen. Es ist das bewusste Zusammendenken von Spiel- und Zuschauerraum, das dabei die Möglichkeiten des Theaters für junges Publikum erweitert und herausfordert. Die Frage der Repräsentation – wer erzählt welche Geschichte für wen? – spielt in den Debatten um das Morgen im Kindertheater eine entscheidende Rolle. Die interkulturelle Öffnung des Schreibens für Kinder ist zentrales Thema dafür. Die Angelegenheiten des Fremdseins in der Welt haben viele Dimensionen: Einwanderung, Identität, Postkolonialismus, Rassismus sind nur einige Stichworte aus dem aktuellen Diskurs. Kindertheater hat schon heute die Aufgabe, inklusiv für alle Schichten und Kulturen zu sein und in seiner Publikumsstruktur die gesamte Stadtgesellschaft zu repräsentieren. Welche Anforderungen an Autoren erwachsen daraus? Wir müssen nicht Anpassung an tradierte deutsche Theaterkunst postulieren, sondern uns selbst ändern. Eine weltoffene Identität ist nicht an ethnische Herkunft, nicht einmal an die deutsche Sprache gebunden. Das Theater kann ein Labor für eine zukünftige Gesellschaft sein. Die Autoren werden dabei eine entscheidende Rolle als Impulsgeber spielen! Es ist weltoffen für unterschiedliche Menschen, Geschichten, ästhetische Handschriften. Es lädt die Welt ein und geht in die Welt. Es feiert die Vielfalt. Es sucht, forscht und nimmt die Zuschauer dabei mit, lädt sie ein, dieselben Fragen zu teilen. Es ist nicht klüger als sein Publikum, es hat höchstens ein wenig mehr Erfahrung. Aber was ist schon Erfahrung in einer Welt, die sich rasend wandelt?

Franz Kafka schreibt: »Wege, die in die Zukunft führen, liegen nie als Wege vor uns. Sie werden zu Wegen erst dadurch, daß man sie geht.« Wir haben uns mit diesem Buch auf den Weg gemacht. Wir wünschen anregende Lektüre und hoffen, dass die Gedanken, die uns bewegen, in den verschiedensten Kontexten aufgegriffen und weiterentwickelt werden. Viel Spaß beim Entdecken des »Ab morgen …!« im Heute.

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