Auftritt
Schauspielhaus Zürich: Tief ins Gedärm
„Blösch“ von Beat Sterchi – Regie Rafael Sanchez, Bühne Simeon Meier, Kostüme Ursula Leuenberger, Komposition & Live-Musik Cornelius Borgolte
Assoziationen: Theaterkritiken Schweiz Rafael Sanchez Schauspielhaus Zürich

Da stehen sie. Die Neu-Intendant:innen Pınar Karabulut und Rafael Sanchez, in schwarzen Anzügen, vor dem schweren roten Vorhang. „Hoi zäme“, grüßt Karabulut ins Publikum, das habe sie jetzt wochenlang geübt… „Eigentlich ganz gut“, gehe es ihr. Und ihrem Co? Der an diesem Abend auch der Regisseur ist: „Schlecht.“ Super nervös sei er, ein nervliches Wrack!
Eine Art good cop, bad cop-Strategie hatten sich die beiden schon in den Interviews vor ihrem Antritt zurechtgelegt: Der in Basel geborene Sanchez, der die Schweizer Themen kann und schon vor über 20 Jahren in Basel auf Mundart inszenierte; und die aktuell jüngste Intendantin aus Mönchengladbach, wo die meisten Pınar wahrscheinlich mit einem I aussprechen; deren Theater für Pop steht, für pink und bunt. So soll für alle was dabei sein; wer good, wer bad, entscheiden Sie…
Für die erste Premiere der Zürcher Spielzeiteröffnung hat sich Rafael Sanchez den 1983 erschienen Roman des Schweizer Autors Beat Sterchi vorgenommen: „Blösch“. Sterchi erzählt die Geschichte der Schweiz anhand von zwei Figuren: die Kuh Blösch und der sogenannte Gastarbeiter Ambrosio. Sie, Symbol des hiesigen Nationalmythos, in der Bergidylle der 60er Everybody's Darling, obwohl sie leider nur nicht so rentable „Munikälber“ wirft. Er, der aus Spanien in die Postkartenidylle kommt, um für den Knuchelbauern zu arbeiten, der der Modernisierung entgegen lieber „einen Spanier bekommt als eine Melkmaschine“ – eine der Schattengeschichten, die der schillernde Nationalmythos wirft, in einem Land, das Arbeitskräfte rief – in dem die Menschen, die kamen, oft überhaupt nicht wie Gäste empfangen wurden. In bewährter Zusammenarbeit mit Mike Müller, jetzt auch Teil des Ensembles und der Inszenierung, übersetzt Sanchez den Roman ins Theater und in ein altes Berndeutsch.
Das Zürcher Publikum sieht im Pfauen zwei sehr unterschiedliche Hälften. Erst der Traum von der Alp. Vor einem Bauernhaus aus Holz wird gejodelt, dahinter ein Aquarell aus Grün und Gold: „die Berge ‹3“. Doch wer etwas genauer hinhorcht, was aufgrund des Dialekts gar nicht immer so leicht ist, merkt schnell, dass diese Welt nicht so heil ist, wie das Bild, das Simeon Meiers Bühne zu Beginn herrlich zweidimensional daherkommen lässt (später tun sich hinter der Fassade Bauernstube und Dorfkneipe auf…). Zumindest ist sie das nicht für Ambrosio und seinen Kollegen Luigi, denen Alltagsrassismus und ausländerfeindliche Stereotype so selbstverständlich entgegengebracht werden wie ein „Guten Morgen“. Nach der Pause findet sich das Publikum in einem Schlachtbetrieb wieder. Ein Schlund aus roten Tüchern suggeriert, dass wir genauso gut im Gedärm eines der hier konsumierbar gemacht werdenden Rinder sein könnten. Im Arsch der Schweiz, wenn Sie so wollen.
Von der Idylle, die nie so heil war, wie sie sich gibt, in das dunkle Innere der Industrie, die die Schweiz vom Agrarstaat zum heutigen Reichtum und „Glanz“ führte (auch wenn die Fleischindustrie daran nur einen geringen Anteil hatte). Mittendrin weiterhin Ambrosio, den der Knuchelbauer in die Fleischindustrie vermittelte, weil man im Dorf zunehmend die Messer wetzte. Wo er dann einen Finger verliert und die mindestens so geschundene Blösch wieder trifft, der nun das Letzte, was noch am Gerippe hängt, abgewonnen werden soll. Berührend zerbrechlich spielt mit Margot Gödrös die älteste Spielerin des neu zusammengestellten Ensembles hier die Blösch. Ambrosio erkennt sich selbst im bis aufs Mark ausgebeuteten Körper der Kuh und entscheidet kurzentschlossen dem Bergland Lebewohl zu sagen. Eindrücklich auch, wie Alexander Angeletta mit verstümmelter Hand, die eines Kollegen schüttelt, der ihm mit auf den Weg gibt, er brauche sich nicht über die hiesigen aufzuregen, in Spanien werde es auch nicht anders sein. „Du scho guet“, sagt Ambrosio, der inzwischen Schweizerdeutsch spricht, und zieht von dannen.
Vielleicht war Rafael Sanchez auch ein wenig nervös, weil die dargebotene Geschichte vor kaum einem „Ismus“ haltmacht und wenn oft auch eher beiläufig, fast den kompletten nationalen Leichenkeller abgeht. So klingt beispielsweise auch die Geschichte eines „Verdingbub“ an, den man „für alls mögleche bruucht“ hat, „so wie bi de Katholike d Minestrante.“
Dabei schafft es Sanchez jedoch, dass es großen Teilen des Zürcher Publikum auf ihren Sitzen nie wirklich ungemütlich werden muss. Ob das eine Leistung ist, darüber wurde anschließend im neu verkleideten Foyer zu Streichern gestritten. Festhalten lässt sich jedenfalls ein Einschlag ins Erzählerische, die vierte Wand blieb weitestgehend unversehrt. Statt Dekonstruktion und Keule wählt Sanchez einen humoristischen Zugriff, wobei man bei manchen Lachern aus dem Publikum hoffen muss, dass diese sich an die sich äußernde Figuren richten und nicht an das Gesagte. Man könnte fast behaupten, Sanchez bekämpfe die Schweiz mit der Schweiz, wo die Dinge selten deutlich ausgesprochen werden, wo die Zwischentöne das Eigentliche erzählen.
Zum Beginn seiner Intendanz streuen Sanchez und Team erst einmal allen ein wenig Sand in die Augen: Ist das jetzt politisches Theater, gar woke? Oder eine Anbiederung ans Abo-Publikum, das endlich vom Anprangerungstheater entbunden wird? Auch das Gemisch aus Sprachen: Berndeutsch, Spanisch, Italienisch, Hochdeutsch, längst nicht immer von Muttersprachlern gesprochen, stiftet anregende Verwirrung, der Matthias Neukirch in einer Mischung aus schwäbisch und dem missglückten Versuch eines Deutschen im Schweizerdeutschen die Krone aufsetzt. In einem vielsprachigen Land wie der Schweiz (nicht nur was die Nationalsprachen angeht) passt das natürlich gut, auch wenn im Publikum so sicher nicht alle alles verstehen. In der Pause auf der Toilette heißt es da gar: „Ich fühle mich wie Ambrosio.“ Auf die großen politischen Statements verzichtet Sanchez und lädt so zum Hinschauen ein – eine Eröffnungsinszenierung, wie sie sich nur ein regieführender Intendant selbst bescheren kann.
Erschienen am 24.9.2025