Theater der Zeit

Editorial

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von Ilona Goyeneche

Erschienen in: Theater der Zeit Spezial: Mexiko (03/2015)

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„A la memoria de +43.“ Eine Widmung. Eine Zahl. Seit vergangenem Herbst sind diese Ziffern zu einem Symbol geworden: für den Drogenkrieg in Mexiko. Für die Korruption in diesem Land. Aber auch: für einen wachsenden Widerstand, der in der Gesellschaft entsteht. 43 Studenten des Lehrerseminars in Ayotzinapa verschwanden in der Nacht vom 26. auf den 27. September 2014 spurlos. Es heißt, sie seien tot. Ermordet, weil sie korrupten Politikern in die Quere kamen.

„Mexiko ist ein Theaterland durch und durch.“ Diese Feststellung von Rodolfo Obregón, bezogen auf die theatralen Wurzeln dieses Landes – angefangen bei den Zeremonien der Maya und Azteken bis hin zu heutigen Totenfesten und Karnevalsriten –, mag vor dem Hintergrund der haarsträubenden Inszenierungen von Gewalt in Mexiko zynisch klingen. Und doch scheinen gerade diese Wurzeln für junge Theatermacher eine Basis zu sein, um dem Schrecken entgegenzutreten. „Das Land durchlebt gerade eine sinnreiche Zeit des Aufstands angesichts der Ruinen, die von der Gerechtigkeit geblieben sind“, erklärt der Autor und Festivalgründer Ángel Hernández in diesem Theater der Zeit Spezial.

Längst hat sich die junge Generation von der Lehre der alten „Meister“ verabschiedet. Das neue mexikanische Theater, das in diesem Spezial vorgestellt wird, ist vielmehr durch Eigensinn gekennzeichnet. Durch einen unbedingten Willen, trotz prekärer Bedingungen neue Formen und Formate zu finden – ohne dabei ein, wie es Alberto Villarreal nennt, „Mexiko der Medien“ zu reproduzieren oder ein „Theater der artigen Anschuldigungen“ zu betreiben. Im Gegenteil: Im Bewusstsein von Geschichte und indigenen Traditionen dieser 120-Millionen-Einwohner-Nation, im Bewusstsein der geografischen Lage als letztes Land Lateinamerikas vor der US-amerikanischen Grenze und im Bewusstsein der aktuellen gesellschaftspolitischen Lage arbeiten sie an einem Theater, das der unmittelbaren Gegenwart Mexikos einen Reflexions- und eben auch Transformationsraum bieten kann. Der diesjährige Heidelberger Stückemarkt wird im Rahmen seines Länderschwerpunktes mit dem Teatro Línea de Sombra und dem Schauspieler, Dramatiker und Regisseur David Gaitán zwei der hier vorgestellten Gruppen bzw. Künstler präsentieren.

Das Politische wiederherstellen, darum gehe es in dieser Art von Theater, schreibt Rubén Ortiz, der seinen Text mit der oben zitierten Widmung eröffnet. Oder, wie Ángel Hernández es formuliert, „um einen Gemeinschaftssinn, der die kritische Neuerfindung einer möglichen Zukunft bedeuten kann“. //

Ilona Goyeneche (Ciudad de México) und Dorte Lena Eilers (Berlín)

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