GESPRÄCHE/INTERVIEWS
Scham und Ambivalenz
Luk Perceval über die Kernfragen seiner Amsterdamer Inszenierung von J. M. Coetzees Roman „Schande“ im Gespräch mit Thomas Irmer
von Luk Perceval und Thomas Irmer
Erschienen in: Arbeitsbuch 2019: Luk Perceval (07/2019)
Luk Perceval, wie sind Sie 2011 auf die Idee gekommen, den Roman „Schande“ von J. M. Coetzee auf die Bühne der Toneelgroep Amsterdam zu bringen?
Ich kannte Coetzee natürlich als Nobelpreisträger, hatte aber ehrlich gesagt noch nichts von ihm gelesen. Dann schlug mir der Dramaturg Peter Van Kraaij von der Toneelgroep Amsterdam „Schande“ vor. Ich habe den Roman wie gebannt in einem Zug gelesen, denn er ist mehr als bewegend. Ich hatte sofort eine Vorstellung von der theatralen Umsetzung, weil er sehr filmisch geschrieben ist. Nicht nur von der Dramaturgie her, sondern in seiner Erfassung großer Konflikte mit doch eigentlich alltäglichen Figuren. Für mich ist der Roman wie Faust in Südafrika. Ich konnte mich deshalb sehr schnell dafür entscheiden, aber Coetzee hatte bis dahin keine Dramatisierung zugelassen. Wir waren also nicht die Ersten mit dieser Idee und haben zunächst, zusammen mit dem Schauspieler Josse De Pauw, der sich für dieses Projekt sehr eingesetzt hat, eine Arbeitsfassung geschrieben, vor allem mit dem Anspruch, eine Bühnensprache zu finden, die die beschreibende Literatur in eine durch Figuren erfahrbare Sprache verwandelt. Coetzee hat dann diese Bearbeitung gelesen, und sein Okay kam sehr schnell.
Die Mehrschichtigkeit von Coetzees scheinbar einfachem Stil muss doch eine besondere Herausforderung gewesen sein. Mich überrascht nicht, dass er über Becketts Prosa promoviert hat – er hat auch bei diesem großen Meister gelernt.
Ich musste auch an Jon Fosse denken. Beides Schriftsteller, die in ihrer Literatur mit einer bestimmten Sachlichkeit große innerliche Turbulenzen der Figuren beschreiben. Es ging aber grundsätzlich um die Frage, in welchem theatralen Rahmen das Buch überhaupt auf die Bühne zu bringen sei, sodass sein großes Potenzial dabei erhalten bleibt. Für mich war die Anhörung von David Lurie vor der Universitätskommission die konkrete theatrale Situation, um erstmal einen roten Faden zu finden und einen Rahmen zu setzen. Diese Anhörung am Ende des ersten Teils ballt ja die Geschichte zusammen, ohne dass dabei eine ganz eindeutige Darstellung des zuvor Geschehenen entsteht – das ist wirklich dramatisch und setzt die beiden großen Themen frei: Gewalt und Doppelmoral. Lurie ist ja zunächst durch seine Stellung und auch seinen Titel als Professor geschützt. Er glaubt, unangreifbar zu sein. So verhält er sich jedenfalls vor dieser Kommission. Er geht davon aus, seinen Status selbst dann geltend machen zu können, wenn er nachweislich eine Studentin gezwungen hat, mit ihm zu schlafen. Wenn das Gleiche später seiner Tochter passiert, wenn auch in einem viel drastischeren Akt der Vergewaltigung, ist das für ihn natürlich etwas anderes – und dieser Frage in ihren bedeutungsvollen Nuancen muss sich auch im Theater jeder Zuschauer stellen.
Sein Handeln ist für ihn eine Routine-Verführung, nicht wirklich eine Vergewaltigung.
Es ist aber ganz klar ein Missbrauch, und zwar aus seiner gesellschaftlichen Machtposition heraus. Und das weiß Lurie auch selbst. Bei seiner Tochter würde er den Täter aber sogar dafür umbringen. Diese Paradoxien finde ich total faszinierend, weil es letztlich um die Frage geht, welches Menschenbild man empfindet. Coetzee verstärkt das noch, indem er Lurie als dann ehemaligen Professor in einem Institut für die Tötung von streunenden Hunden ankommen lässt, wo er diesen Hunden einen „menschlicheren“ Tod verschaffen will. Der sieht dann so aus, dass er den schon toten Hunden das Zerstückeln vor der Verbrennungsanlage ersparen will. Coetzee zieht hier eine Parallele zwischen Mensch und Tier, denn er zeigt auch, wie das Tier für seine Triebhaftigkeit bestraft wird und darunter leiden muss. Die Grenzen zwischen Mensch und Tier fangen an, sich aufzulösen. Wir sind einerseits Teil dieser Triebhaftigkeit, andererseits moralische Menschen – das ist ein großes Thema voller Ambivalenz. Dieser Widerspruch ist genauso unbeantwortbar wie der in „Hamlet“, und deshalb ist Coetzees Buch einem klassischen Theaterstoff vergleichbar. Das ist ja einer der Gründe, warum wir ins Theater gehen: um auf diese Fragen zu stoßen, für die es keine Antwort gibt.
Die Geschichte ist ganz konkret, wurde aber auch als Allegorie Südafrikas nach der Apartheid gelesen. Man kommt dabei um diesen Begriff der Ambivalenz tatsächlich nicht herum – alles kann aus unterschiedlichen moralischen Blickwinkeln betrachtet werden, je nachdem, welches Gewicht man der historischen Schande und den Widersprüchlichkeiten der neuen Ordnung zumisst. Oder gibt es doch eindeutige Antworten? Gibt es in dieser Geschichte so etwas wie Sühne, auch wenn Lurie diese selbst gar nicht empfindet?
Das ist die Frage. In Publikumsgesprächen meinten einige Zuschauer, sie sähen ihn geläutert. Ich bin damit nicht ganz einverstanden. Denn wenn wir uns Lurie am Ende anschauen, dann kann er aus all den Verlusten keine neue Kraft oder einen Glauben, keine neue Freude am Leben schöpfen. Im Gegenteil, er behauptet, das Leben sei ein Verlustprozess. Ganz nüchtern und realistisch: Der Hund, der jetzt stirbt, bin ich. Jedes Mal. Mehr erwartet er vom Leben nicht mehr. Er ist voller Enttäuschung und Bitterkeit.
Auch sein Projekt einer Byron-Oper kann er nicht zu Ende bringen, eine weitere Erzählung des Scheiterns.
Dieser romantische Stoff ist seine große Passion, aber gleichzeitig fragt er sich: Wer braucht das? Wer wartet darauf? Er verlacht sein romantisches Streben nach etwas Großem und Unsterblichem. Dies hat wiederum eine Entsprechung darin, dass er auch in der körperlichen Liebe nichts mehr empfindet. Wenn er mit seiner Kollegin in der Hundestation schläft, empfindet er das nur noch als ein Sich-gegenseitig-Helfen. Zu diesem Zeitpunkt hat er weder Mitleid mit anderen noch mit sich selbst, er bittet auch andere für sich nicht darum. Er lebt isoliert von allem und allen, getrennt auch von der Wirklichkeit. Und letztlich getrennt vom Leben, für das man schließlich auch ein paar Illusionen haben muss. Für ihn aber wird nur noch der Tod kommen.
Die Ironie ist, dass dieser Mann Kommunikationswissenschaftler war, was er aber auch nur deshalb wurde, weil an der Universität die Abteilung für Literatur zusammengestrichen wurde. Das wird nur beiläufig erwähnt, ist aber wie so vieles in Coetzees Roman von großer Relevanz für diesen Umsturz der Werte, den Lurie auf seinem Weg erfährt.
Ein wichtiges Stichwort für Lurie ist außerdem Scham. Damit haben wir uns sehr viel beschäftigt. Vor der Kommission bekennt er sich schuldig, aber dann soll er die Details preisgeben, was er verweigert: Das geht euch gar nichts an! Er hat ja das Gefühl, eine Art Sündenbock zu sein für das, was viele andere auch gern tun würden, oder wovon sie zumindest träumen. Deswegen steht er bei uns auf der Bühne und schildert aus einer Art Wut heraus dem Publikum detailliert seine Sexualität, was die ihn kostet und so weiter. Als Provokation, denn auch er würde nie so darüber reden. Aber hier auf der Bühne vor Publikum denkt er: Das möchtest du doch hören, nicht wahr?
Das wäre eher der Aspekt von bühnenwirksamer Schamlosigkeit. Wo ist in ihm dabei Scham im Spiel?
Ihm ist ja bewusst, dass er mit dieser jungen Studentin, Melanie, zu weit geht. Er kämpft da mit seiner eigenen Triebhaftigkeit, denkt, das muss endlich aufhören, bis zur Idee der freiwilligen Kastration. Das ist Scham. Deshalb hat er ja Unterlagen gefälscht, um zu vertuschen. Er wollte nicht ertappt werden.
Evozierte die Aufführung in Amsterdam auch Scham seitens der Zuschauer, als Nachfahren holländischer Kolonialherren?
Coetzee ist in Holland sehr präsent, auch, weil er holländische Wurzeln hat. Er steht dort für eine offene Auseinandersetzung mit dieser Vergangenheit und gegen die calvinistische Verdrängung. Da spielt er eine sehr wichtige Rolle. Für die Aufführung war aber noch von Bedeutung, dass drei schwarze Schauspieler dabei waren und ich diese dann bat, ihre Texte in Afrikaans zu sprechen. Die Weißen sprechen also das Niederländisch von heute, die Schwarzen das Holländisch der Kolonialzeit, was natürlich gar nicht deren Sprache war. Sodass der holländische Zuschauer sich durch diese Sprachvarianten in einer direkten Beziehung zu dieser Geschichte befindet. Mit dem Teil seiner eigenen Geschichte darin, die ansonsten natürlich einigermaßen abstrakt bliebe. Bei unserem Gastspiel in Deutschland konnte das leider nicht wahrgenommen werden. Es ist in etwa so, als ob das Deutsch des 19. Jahrhunderts auf die Sprache der Gegenwart trifft, aber mit noch viel deutlicheren Konnotationen, was dieses ältere, in Südafrika bis heute gesprochene Afrikaans historisch in diesem Kontext bedeutet.
Wie wurde das aufgenommen?
Publikum und Presse haben die Inszenierung sehr positiv aufgenommen, weil sie, glaube ich, noch einen anderen, aktuellen Diskurs berührt: Heute sind viele überzeugt, man engagiert sich in Afrika allgemein, um zu helfen, aber man geht immer noch da hin, um zu herrschen. Wenn man nicht herrschen kann, kann es nämlich auch gefährlich werden. In diesem Verständnis geht die Sache natürlich über Südafrika hinaus und dehnt sich beinahe auf den ganzen Kontinent aus. Das Gewaltpotenzial speziell in Südafrika ist deshalb so groß, weil die politischen Verhältnisse zwar radikal verkehrt wurden, sich im Alltag aber viele soziale Gepflogenheiten fortsetzen: In den Shopping Malls sieht man viel schwarzes Servicepersonal für überwiegend weiße Konsumenten. Als ich das Mitte der neunziger Jahre dort gesehen habe, da empfand ich Scham.
Es gibt eine Theaterszene in dem Roman. Melanie scheint beim Spielen einer Rolle ihr Selbstbewusstsein zurückzugewinnen oder vielleicht erstmals zu erlangen. Hat Sie das interessiert?
Coetzee zeigt das doch in einem scharfen Kontrast, der eigentlich deutlich nahelegt, in was für einer eskapistischen Hilflosigkeit sich dieses Theater gegenüber den Problemen der Gesellschaft befindet. Luries Haus wurde geplündert, er ist weiter auf seinem Weg nach unten, aber Melanie spielt nun in einer Boulevardkomödie, in der es um einen Friseursalon geht. Die Theaterszene gehört für mich zu Luries Albtraum, bevor er in die Hundestation zurückkehrt. Er gehört nicht mehr zu dieser ihm vertrauten Kultur der städtischen Vergnügungen. Aber wohin er nun gehört, vermögen wir nicht zu sagen.
Wie hat sich die Inszenierung in der Version, die Sie 2013 an den Münchner Kammerspielen herausbrachten, verändert? Was genau wurde durch den deutschen Kontext der Aufführung anders?
Der ganze Zusammenhang zwischen Sprache und kolonialer Vergangenheit konnte in der Münchner Version nicht zur Geltung kommen, weil es in Deutschland dafür kein Äquivalent gibt. Die Sprache der Kolonialisierten ist in Deutschland nicht präsent. Andererseits weiß jeder deutsche Zuschauer, welche Folgen das eigene Superioritätsdenken haben kann, nicht nur in Afrika. In dem Sinne wurde auch das Münchner Publikum durch den Stoff und sein Thema aufgewühlt.