Theater der Zeit

Wahrnehmung

Das Spiel mit den Akzenten

von Viola Schmidt

Erschienen in: Mit den Ohren sehen – Die Methode des gestischen Sprechens an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch Berlin (04/2019)

Assoziationen: Schauspiel

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Das Wissen um die zeitlichen Abläufe bei der Verarbeitung neuer Sinnesreize und Informationen ist hilfreich und führt zu nachhaltigen Ergebnissen, setzt aber eine gewisse Flexibilität und Wachheit auch bei Lehrenden voraus, die sich in einem gleichberechtigten Dialog meist sehr schnell einstellt und lange aufrechterhalten lässt. Im Gruppenunterricht gestaltet sich dieser Prozess schwieriger. Was für die einen Studierenden neu ist, kennen andere möglicherweise schon. Sind die einen bereits zu Beginn der Übung überfordert, sind es die anderen noch lange nicht. Ein ausgewogenes Verhältnis von Über- und Unterforderung zu finden und allen Studierenden eine Verantwortung für eine gemeinsame Aufmerksamkeit abzuringen, setzt Erfahrung und Fingerspitzengefühl voraus und ist oftmals durch gruppendynamische Prozesse nur schwer oder nicht ganz zu erreichen. Alle Jahre wieder scheitere ich an folgendem Übungsablauf. Das Übungsmaterial besteht aus sechs Silben: NOLLO-NOLLO-NOLLO. Zunächst versuchen wir, der artikulatorischen Besonderheit des Wechsels zwischen N und L nachzuspüren. Beide Konsonanten werden in der Regel apikal gebildet. Der vordere Zungenrand liegt hinter den oberen Schneidezähnen. Wie er dort jedoch platziert wird und wie sich der Luftstrom während der Artikulation verhält, macht eben genau den Unterschied im Klang aus. L ist ein lateraler Engelaut. Der vordere Zungenrand hebt sich hinter die oberen Schneidezähne an den Zahndamm und bildet dort einen Verschluss. Der Phonationsstrom entweicht beidseitig durch die Enge zwischen den seitlichen Zungenrändern und oberen Backenzähnen. Der Zungenrücken bleibt flach. Das Gaumensegel ist gehoben. Auch bei der apikalen Artikulation des N stellt der vordere Zungenrand hinter den oberen Schneidezähnen und am Zahndamm einen Verschluss her, und die seitlichen Zungenränder liegen an den seitlichen Flächen der oberen Backenzähne. Jedoch entweicht der Phonationsstrom bei gesenktem Gaumensegel durch die Nase. Bei der dorsalen Bildungsvariante liegt der vordere Zungenrand hinter den unteren Schneidezähnen, und der Zungenrücken wölbt sich verschlussbildend zum Zahndamm der oberen Schneidezähne. Vor allem das L ist anfällig für ein seitliches Ausweichen der Zunge nach rechts oder links. Der Luftstrom wird einseitig abgelenkt, was in Verbindung mit anderen Konsonanten zu Ungenauigkeiten im Sprechklang führen kann und auch optisch auffällt. Die dorsale Bildung des N kann zu einer Verlagerung des Klangs nach hinten führen. Bei den zwischen den beiden Konsonanten zu artikulierenden Vokalen liegt die Zungenspitze jeweils hinter den unteren Schneidezähnen. Im Idealfall haben wir es also mit einem steten Bewegungsablauf der Zungenspitze von oben nach unten und einem Wechsel von nasal zu oral zu tun. Außerdem wechselt die Qualität der Vokale in der Weise, dass jeweils der erste, dritte und fünfte Vokal offen und kurz wie in dem Wort OFFEN gesprochen wird, der zweite, vierte und sechste Vokal wird geschlossen und kurz gesprochen, wie das O in dem Wort KINO. Es erfordert ein wenig Übung, um zu einer guten Geläufigkeit zu kommen.

Nun geht es darum, den Sprachimpuls mit dem Körperimpuls zu verbinden und den Sechssilber in den Raum zu entlassen. In der Regel ist die Konzentration auf den schwierigen Wechsel zwischen den beiden Konsonanten gerichtet, die sich in ihrer Bildung nur wenig unterscheiden, und die Vokale verlieren Öffnung und damit Klang. Also gehen wir einen Schritt zurück und üben OLLOLLOLL und NONNONNO, TOLL und DOLL oder Olala, um die Lautfolge dann wieder zusammenzubauen. Gelingt das, werden der bis jetzt sinnlosen Lautfolge Haltungen und Untertexte gegeben. NOLLONOLLONOLLO kann dann beispielsweise anerkennend heißen: „Du siehst heute aber gut aus.“ Das kann ich natürlich auch ironisch meinen. Dann hat es schon einen Aufforderungscharakter und meint: „Zieh dich mal ordentlicher an!“ Jetzt wird mit Sprache gehandelt, und es kann sich ein Dialog entspinnen. Wir können die Aufmerksamkeit unserer Spielpartner auch auf etwas richten und eine Verbindung zwischen ihnen, einem Objekt und anderen Spielpartnern aufbauen. Dafür können auch allerlei Hilfsmittel wie Bälle, Stäbe, kleine Sandsäckchen und an den Körper angeschlossene Gesten verwendet werden.

Bis dahin folgen mir die Studierenden in der Regel ohne Mühe. Jetzt verändern wir die rhythmische Struktur der Silbenfolge. Wir beginnen damit, die erste Silbe zu betonen. Am Beispiel eines sechssilbigen Satzes mit ähnlicher Struktur würde NOLLONOLLONOLLO jetzt mit der Betonung auf der ersten Silbe gesprochen werden wie in dem Satz „Ich geh jetzt nach Hause“, als Antwort auf die Frage „Wer geht jetzt nach Hause?“ In der Wiederholung des Sechssilbers legen wir nun den Akzent auf die dritte Silbe wie in dem Satz „Ich geh jetzt nach Hause“ als Antwort auf die Frage „Wann gehst du nach Hause?“, also NOLLONOLLONOLLO. Danach sprechen wir die Silbenfolge mit dem Akzent auf der fünften Silbe, NOLLONOLLONOLLO, wie in dem Satz „Ich geh jetzt nach Hause“ als Antwort auf die Frage „Wo gehst du jetzt hin?“ (Die fett gedruckten Buchstaben kennzeichnen die akzentuierte Silbe.) Das klingt simpel, stellt aber in der Praxis eine Herausforderung dar. Das alleinige Betonen der entsprechenden Silben lässt sich ohne konkrete Untertexte und ohne eine Intention, vor allem wenn die Übung komplexer wird, nicht oder nur schwer herstellen. Es verbraucht als rein mechanische Wiederholung zu viel Energie. Die Betonungen sind zu stark, die Stimmen klingen gedrückt und unnatürlich. Wir müssen also wieder zurück und den einzelnen Silbenfolgen mit ihrer spezifischen rhythmischen Struktur einen Sinn geben. Wir üben das Sprechen aus Haltungen. Gelingt das, geben wir die Silbenfolge im Kreis herum, und die Spieler müssen ihre Wahrnehmung schärfen, um zu erkennen, um welchen der unterlegten Sätze und um welche Haltung es sich handelt, um dann den nächsten Satz weiterzugeben. Es ergibt sich also von Spieler zu Spieler: NOLLONOLLONOLLO – NOLLONOLLONOLLO – NOLLONOLLONOLLO. Was auf den ersten Blick wie ein mechanisches Üben aussieht, ist tatsächlich eine komplexe Wahrnehmungsleistung, die Sprech-Denkprozesse in Gang setzt und gesamtkörperliches sprechsprachliches Verhalten fordert. In der Weiterführung der Übung wird nun die Vokalreihe O-U-A-E-I-Ö-Ü-Ä-EU-EI-AU zugrunde gelegt. Mit jeder Akzentverschiebung wechselt jetzt auch der Vokal entsprechend der Reihenfolge in der angegebenen Reihe. Es ergibt sich die Abfolge: NOLLONOLLONOLLO – NULLUNULLUNULLU – NALLANALLANALLA – NELLENELLENELLE – NILLINILLINILLI – NÖLLÖNÖLLÖNÖLLÖ usw. Die Übung wird zunächst chorisch gesprochen. Die Sprechhandlung ist das gemeinsame Erinnern an die Spielregeln. Dazu verwenden wir wieder unterschiedliche Haltungen von unsicher bis sicher, von gelangweilt bis belustigt. Schauspielstudierende bieten meist spontan Haltungen an, mit denen gearbeitet werden kann. Manchmal versuchen sie, sich gegenseitig zu übertrumpfen, dann bitte ich sie, für die gesamte Gruppe verantwortlich zu sein. Anschließend werden die Sechssilber von Spielpartner zu Spielpartner im Kreis oder in einer anderen räumlichen Anordnung herumgegeben. Es kann aber auch beliebig zwischen den Spielpartnern gewechselt werden. Die Äußerungen werden an Untertexte gebunden, es wird aus Haltungen gesprochen, eine gemeinsame Sprechhandlung kann intendiert werden. Auch Dialoge, die eine Nachfrage beinhalten, sind möglich. So kann die Äußerung, die an einen Spieler gerichtet wird, von diesem mit dem Untertext „Bist du sicher, dass das so richtig ist?“ wiederholt und an den Mitspielenden zurückgegeben werden, um mit der entsprechenden Veränderung an den nächsten Mitspielenden weitergegeben zu werden. Sind alle Spieler gut motiviert, Verantwortung für die gesamte Gruppe zu übernehmen, kann sich ein Spielflow entwickeln, der die Gruppe eine Weile trägt. Die Übung erfordert ein hohes Maß an Wachheit und Konzentration für schnelle und konkrete Wechsel in der Ausrichtung der Aufmerksamkeit sowie im Wechsel von Eindruck zu Ausdruck. Bei einer weniger gut motivierten Gruppe gerät sie schnell zu einer kompletten Überforderung. Dabei bildet sie in komprimierter Form die Realität der Kommunikation auf der Bühne ab, in der mit fremden Gedanken gehandelt wird und in der die Wahrnehmung zwischen den Spielpartnern, dem Raum, den Arrangements und den Zuschauern aufgespannt ist. Trotz der strengen Struktur lässt die Übung geplantes Verhalten kaum zu. Die Spieler müssen während des gesamten Spiels aufmerksam bleiben, sich als Spielpartner anbieten und probieren, das Spiel am Laufen zu halten. Das bedeutet auch, dass sie Ungenauigkeiten in der Akzent- oder Vokalfolge auffangen, indem sie spielerisch damit umgehen. Sie lernen, zuzuhören und im Moment zu reagieren. Sie trainieren ihre auditive und visuelle Wahrnehmungsfähigkeit. Zu viel Ehrgeiz hinsichtlich der richtigen Reihenfolge von Akzentverschiebung und Vokalreihe ist kontraproduktiv. Die Äußerungen werden offener und durchlässiger, wenn durch allerlei Missverständnisse in der Kommunikation ein spielerischer Freiraum entsteht. Läuft es gut, kann diese Übung zusätzlich mit Körperimpulsen, wie beispielsweise Absprüngen, kombiniert werden. Die gesamte Gruppe springt, der Absprungimpuls ist deckungsgleich mit dem Akzent, ohne dass der Gesamtrhythmus ins Stocken gerät. Das Denken wird dadurch an den Körper angeschlossen. Der Körper denkt und handelt und nimmt das Sprechen mit. Wenn es dann noch gelingt, die Musikalität der Übung, ihre rhythmischen Möglichkeiten und den Raumklang wahrnehmbar und veränderbar zu machen, und die Studierenden sich dem Rhythmus überlassen, hat sich die Mühe gelohnt. An dieser Übung scheiden sich wie gesagt die Geister. Es gibt immer wieder Gruppen, die diese Herausforderung lieben und zusätzliche Schwierigkeitsgrade erfinden. Andere fühlen sich unfrei und lehnen diese Art der Wahrnehmungsschulung kategorisch ab. Das Prinzip, mit den prosodischen Merkmalen der Sprache nach einem gewissen Regelwerk zu spielen, lässt sich mit jedem Sprachmaterial nachkonstruieren.

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