Stück
Zweikampf
Erschienen in: Theater der Zeit: Wovon lebt der Mensch? – Wolfgang Engler und Klaus Lederer (02/2018)
Assoziationen: Dramatik
Mit
Anton, dem Linken
Lydia, seiner Frau
Isa, ihrer Tochter
Georg, dem Rechten
Wolf, dem Nazipunk
Arbeiterchor
Blaskapelle
Die ganze Zeit sind alle Figuren, noch dazu Arbeiterchor und Blaskapelle, auf der Bühne. An den Wänden stehen Bierbänke, damit sich die Beteiligten setzen können, ohne sich zurückzuziehen. Jeder ist in jedem Moment sichtbar. Szenen schälen sich heraus und werden durch Nähe und Distanz zwischen Körpern, durch Licht und Schatten oder Musik fokussiert. Das Spiel wirkt fließend, wenn auch nicht ohne Unterlass. Es kann sich auch stauen und stocken. Einwürfe können einzelnen Sprechern oder einer Gruppe zugeordnet werden. Falls nicht, bleiben sie Einwürfe auf dem Papier. Am Anfang erklingen ein paar Takte Musik, ehe sie unversehens abbrechen. Alle stehen auf der Bühne und schauen ins Publikum. Anton setzt sich an einen Tisch, Georg an einen anderen. Ohne einen Blick füreinander schauen sie weiter geradeaus.
ANTON Wenn einer anders wird, als er ist, dann ist er gestorben für mich. Tot, sag ich, tot. Den kenn ich nicht mehr.
GEORG Ein Leben lang hab ich mit den Falschen gesungen. Sie singen so gern, weil sie sonst nichts mehr haben. Auch ich singe gern ihre alten Lieder, weil ein Lied nichts dafür kann, dass es klingt wie von gestern. Die Lieder fehlen mir am meisten. Denn so ein Lied tröstet. Dass es ein dummes Lied ist, macht mir nichts aus. In der Dummheit erholt sich der Mensch.
ANTON Dass er sich traut, der Georg, hierher zu kommen. Als wäre er noch der Alte. Dabei gehört ihm der 1. Mai nicht mehr. Der 1. Mai gehört uns.
GEORG Die Lieder geb ich nicht her. Es sind auch meine Lieder. Die, mit denen ich jetzt geh, lachen mich aus. Nur manchmal, betrunken, singen sie mit. Ein paar sind dabei mit Tränen in den Augen. Ich weine nie.
ARBEITERCHOR
Romantisches Arbeiterlied
Den Arbeiter, heißt es
Gibt es nicht mehr
Gewerkschaften hättens
Dreimal so schwer
Ein Arbeiter ist jetzt
Frei, längst ein Herr
Doch das ist gelogen
Nach unten von oben
Kollegen, Genossen
Auf! und unverdrossen
Lasst uns die Herren bezwingen
Kollegen, Genossen
Reihen fest geschlossen
Wer wird im Morgenrot singen?
Der Arbeiter, heißt es
Ist stumpf und allein
Er sieht nur sich selber
Die Welt stampft er klein
Den Fremden, den Flüchtling
Bekämpft er gemein
Doch das ist gelogen
Nach unten von oben
Kollegen, Genossen
Auf! und unverdrossen
Lasst uns die Herren bezwingen
Kollegen, Genossen
Reihen fest geschlossen
Wer wird im Morgenrot singen?
Vom Arbeiter heißt es
Er säuft nur, sieht fern
Mehr Geld will er haben
Ein Auto mit Stern
Er kennt nur das Deutsche
Weil Deutsch ist modern
Doch das ist gelogen
Nach unten von oben
Kollegen, Genossen
Auf! und unverdrossen
Lasst uns die Herren bezwingen
Kollegen, Genossen
Reihen fest geschlossen
Wer wird im Morgenrot singen?
Den Arbeiter, heißt es
Gibt es nicht mehr
Jaja
Blaba
„Die Sozialfigur des Arbeiters taugt nicht mehr zu einer positiven Selbstbeschreibung. Arbeiter bauen längst nicht mehr das siebentorige Theben, ferner glaubt praktisch niemand mehr, sie seien das universelle Subjekt der gesellschaftlichen Emanzipation. Als Arbeiter gilt man vielmehr als abgehängt, als jemand, der es individuell nicht geschafft hat. Die kollektive Identität der Arbeiterschaft wurde ersetzt durch das allgemeine Streben nach einem Mittelklassestatus.“ (Oliver Nachtwey, Die Abstiegsgesellschaft)
Georgs Wohnung. Es klingelt.
GEORG Die Tür ist offen. Komm rein, komm nur.
WOLF Ich bring etwas –
GEORG Was willst du?
WOLF Das Essen ist da.
GEORG Bist du der Neue? Ach, ihr seht alle gleich aus. Warst du gestern schon hier? Name?
WOLF Wolf. Ich heiße Wolf.
GEORG Eltern deutsch? Jetzt sag schon. Inzwischen nehmen sie ja alle.
WOLF Wo kann ich die Box –
GEORG Bleib, wo du bist! Keinen Schritt weiter. Er greift nach einer Axt. Wenn du klaust, werf ich die Axt nach dir.
WOLF Friede, Friede.
GEORG Besser so. Sonst Krieg. Stell das Essen hin. Setz dich. Also Wolf.
WOLF Ja Wolf. Warum sollte ich Sie beklauen?
GEORG Bist ein guter Mensch, was? Das hat mir noch gefehlt. Versuch ja nicht, mir das Rauchen zu verbieten. Ich rauche, so viel ich will. Vor dem Essen, nach dem Essen, während ich esse. Was dagegen?
WOLF Nehmen Sie die Axt weg. Das ist lächerlich.
GEORG Lächerlich? Ja, stimmt schon. Ha! Also Wolf.
WOLF Damit können Sie Ihre Nachbarn erschrecken. Mich nicht.
GEORG Meine Nachbarin hat nichts zu befürchten. Sie ist eine wunderbare Frau. Sechs Kinder, unzählige Enkel. Immer gut drauf, herzlich, gut, ein guter Mensch.
WOLF Ihre Nachbarin ist vor einem Jahr gestorben.
GEORG Else? Nein, das kann nicht – Else! Fassungslos schlurft er umher und schlägt die Hände aufs Gesicht. Warum hat mir das niemand gesagt? Else, Else, du –
WOLF Beruhigen Sie sich.
GEORG Hast du Else gekannt? Ja? Nein? Eben.
WOLF Ich hab sie nicht gekannt.
GEORG Trotzdem willst du mich heulen sehen, was? Aber den Gefallen tu ich dir nicht. Ein Arbeiter weint nicht.
WOLF Wollen Sie nichts essen?
EINWURF
„Er arbeitete, war aber zu faul zu erklären, was er tat. Für die Alten ist Arbeit die Erde pflügen oder Fabrik, oder das Krankenhaus, oder die Schule ... Sie haben recht. Aber heute ist diese Arbeit in den meisten Fällen zum Schicksal von nicht sehr erfolgreichen, vom Leben benachteiligten Menschen geworden.“ (Zakhar Prilepin, Sankya)
Antons Wohnung, die Küche. Er steckt Nadeln in eine Puppe.
LYDIA Hör auf damit, Anton. Das kann ich nicht sehen. Den dritten Abend sitzt du jetzt da und stichst auf die Puppe ein.
ANTON Geh schlafen, Frau. Bist müde.
LYDIA Du verlierst den Verstand.
ANTON Nein, nein. Keine Angst. Ich such nur die richtige Kombination. Wie ich ihm am besten schade. Wie ich ihn niederzwinge.
LYDIA An Hokuspokus hast du nie geglaubt. Die arme Puppe tut mir leid.
ANTON Deine Isa hat das Püppchen mitgebracht. Die Kleine kommt ja viel herum. Glaub mir, Lydia, das ist kein Schlummerpüppchen. Du kannst mit der Puppe einiges anstellen. Vielleicht hilft es, vielleicht nicht. Bin da ganz gelassen.
LYDIA Damit verfluchst du Georg.
ANTON Verflucht hab ich ihn längst.
LYDIA Er ist dein Freund gewesen. So viele Jahre.
ANTON Gewesen, ja. Aber er hat uns alle verraten. Erst hat er sich abgewendet von der Bewegung, dann ist er ihr in den Rücken gefallen. Uns in den Rücken. Jeden Samstag steht er auf dem Markt und macht Propaganda. Mit Blumen und Broschüren und einem Gesicht, das so tut, als würde es die Lösung kennen. Dieses Gesicht hat alle Rätsel der Welt gelöst. Schau dir nur sein Gesicht an. Georg ist ein Betrüger, ein Klassenverräter und Opportunist. Nicht weit davon stehen wir, unterm roten Schirm wie eh und je. Die Leute mögen uns. Aber dann ziehen sie weiter, zu Georg, um ihm zuzuhören und lange ins Gesicht zu schauen.
LYDIA Bist doch nur eifersüchtig.
ANTON Quatsch nicht herum. Aber ich weiß, dass er dich immer noch grüßt.
LYDIA Die Puppe kann nichts dafür.
ANTON Die Puppe mach ich fertig. Die Puppe
– Isa kommt nach Hause.
ISA Hallo. Noch wach?
ANTON Oh, das Töchterlein ist auch schon da. Ist wohl ein bisschen spät geworden heute.
ISA Null Uhr dreiundzwanzig.
ANTON Schon gut. Aber warum bist du nicht auf der Demo gewesen?
LYDIA Lass sie doch.
ANTON Am 1. Mai sind alle dabei. Das war schon immer so.
ISA Natürlich bin ich mitgelaufen. Du hast mich nur nicht gesehen.
ANTON Ist sie?
LYDIA Wenn Isa es sagt.
ANTON Na ja, viele Leute, sehr viele Leute. Am 1. Mai sind alle bei uns.
LYDIA zu Isa Und? Hat’s Spaß gemacht?
ANTON SPASS?
ISA Geht so. Immer dasselbe.
ANTON Du musst wissen, wofür du kämpfst.
ISA Die Puppe sieht nicht gut aus.
EINWURF
„Zugleich schmähte dieser neue Nationalismus die Reichen und griff wirtschaftliche Ungerechtigkeiten an. Er klagte die liberale Demokratie sowohl als Regierungsform als auch als sozio-ökonomisches System an. Er forderte, der Staat solle autoritäre Strukturen entwickeln, und griff die soziale Ungerechtigkeit an, die die Solidarität der Gemeinschaft zerstöre. Die nationalistische Bewegung versuchte, die sozial am meisten benachteiligten Klassen zu mobilisieren, diejenigen, die durch die neuen Produktionstechniken und die neuen Formen des Handels benachteiligt waren. Dies war der Hintergrund, der das Heranwachsen einer neuen Spielart des Sozialismus förderte – in Frankreich während der 90er Jahre des 19. Jahrhunderts, in Italien oder in Österreich während des ersten Jahrzehnts des 20. Jahrhunderts –, eine Spielart des Sozialismus, die weder marxistisch noch internationalistisch war, sondern ausdrücklich national. Zu jener Zeit erkannten französische Nationalisten zum ersten Mal die Möglichkeiten einer Synthese aus bestimmten Formen des Sozialismus und aus dem politischen Autoritätsdenken der Nationalisten. Diese wurde später durch die von Corradini geführten italienischen nationalistischen Kreise übernommen, wiederum später durch die Anhänger Sorels und Mussolinis, und brachte schließlich eine vollständig ausgebildete faschistische Ideologie zur Welt.“ (Zeev Sternhell, Faschistische Ideologie)
Isa, ehe sie sich schlafen legt.
ISA Nichts. Sie starrt auf ihr Smartphone. Immer noch nichts. Warum schreibt er mir nicht? Hat er versprochen, oder? Ach, mir egal. Wieder starrt sie auf ihr Smartphone. So was von egal. Soll er sich die gute Nacht sonst wohin stecken. Aber schön wäre es schon. Schick mir was von dir, irgendwas. Könntest auch anrufen. Warum ruft er nicht an? Hey, ruf mich an! Ruf nicht an! Egal. Sie wirft das Smartphone aufs Bett. Am 2. Mai ist alles vorbei. Sie kichert. Gestern war Demo. Nur wegen Anton bin ich da hin. Er ist so empfindlich in letzter Zeit. Ich wollte ihn nicht enttäuschen. Er hängt wie ein Idiot an der Folklore. Sorry. Ist aber so. Und Mama macht es mit, jedem Idiot seine Idiotin. Aber egal. Dieses Jahr waren nicht ganz so viele Menschen da wie letztes Jahr. Aber das wollen sie nicht sehen. Und sie wollen auch nicht, dass ich es sehe. Darum sehe ich es auch nicht. Rote Fahnen wehen im Wind. Das hab ich gesehen. Und wenn ich ehrlich bin, sind rote Fahnen schöner als alle anderen. Weil Wolf hat gesagt, dass er mich gern in eine rote Fahne wickeln würde. Aber dazu müsste ich mich ausziehen. So stellt er sich das vor. Armer Idiot. Warum ruft er nicht an? Früher war Wolf nie mit dabei. Hat er zumindest behauptet. Mir ist er auch nie aufgefallen, früher, meine ich, letztes oder vorletztes Jahr. Wolf wäre mir ganz bestimmt aufgefallen. Warum schreibt er nicht? Ich hätte ihn nicht küssen dürfen. Jetzt strengt er sich nicht mehr an. Denkt, dass er mich schon hat, der Idiot. Wolf hat gesagt, dass er mich in jede Fahne wickeln würde, sie müsste gar nicht rot sein. Solange ich mich nur ausziehe, denn nur wenn ich nackt bin, rollt er mich ein. Eine schwarze Fahne tut es genauso, oder eine Nazifahne mit Hakenkreuz, was solls, nur zum Spaß. Da hat er gelacht. Hauptsache, gegen das System, denn das System muss weg. So einen hab ich noch nie getroffen, nicht am 1. Mai und auch sonst nicht. Ich hab ihm meine Meinung gesagt, aber er hat alles verdreht, dass es verkehrt herum dastand und aussah wie neu. Danach haben wir beide gelacht. Leicht ist er nicht zu durchschauen, weil er nichts an seinem Platz lässt, nicht dort, wohin es gehört. Ein bisschen macht er mir Angst, aber nicht so, dass ich davonlaufe. Trotzdem hab ich ihn stehenlassen. Warum meldet er sich nicht? Sie greift nach ihrem Smartphone.
Georgs Wohnung
GEORG Mein Gedächtnis lässt nach. Aber ein Rassist bin ich nicht. So verkalkt kann ich gar nicht sein. Ich weiß, was Rassismus bedeutet.
WOLF Kann ich eine Zigarette haben?
GEORG Hast sie ja mitgebracht. Danke, mein Junge. Ich hätte sie auch selber holen können. Bin ja kein lahmer Krieger. Den Kiosk finde ich mit verbundenen Augen. Ich schick meinen Körper hinaus, und dann läuft er von selbst hin und zurück.
WOLF Die Luft ist ganz blau.
GEORG Tja, schon Mittag. Mach das Fenster auf. Oder gehört das nicht zum Service?
WOLF Weiß nicht. Da müsste ich nachschlagen. Muss auch gleich wieder los. Zu einer Oma, die glaubt, dass ihre Kinder sie vergiften wollen. Das Wasser, sagt sie, bringt ihr den Tod.
GEORG Sag nie Opa zu mir.
WOLF Darum geht die Oma nach draußen und schöpft Wasser aus der Regentonne.
GEORG Kinder können grausam sein. Besser, man ist auf der Hut.
WOLF Den ganzen Tag singt sie Kinderlieder.
GEORG Wenn sie klein sind, sind sie niedlich. Wären die Frauen nicht so egoistisch, würden sie mehr Kinder zur Welt bringen. Die Deutschen werden weniger. Das rächt sich auf Dauer.
WOLF Weil die anderen mehr werden.
GEORG Wie gesagt, ich bin kein Rassist. Aber dass sich Türken und Araber hier breitmachen und ungebremst vermehren, bedroht unsere Kultur. Ist es nicht so? Der deutsche Arbeiter ist ihr erstes Opfer, weil er keine Arbeit mehr findet, seit sie ihm die Arbeit wegnehmen. Gegen den Islam hab ich nichts, solange er in einem islamischen Land praktiziert wird. Er gehört nicht hierher. Die Welt ist groß genug. Jeder möge auf seinem Boden glücklich werden. Der deutsche Boden kann nicht alle tragen. Nicht schwer zu verstehen, eigentlich.
WOLF Boden ist nicht gleich Boden. Der eine ist reich, der andere arm.
GEORG Wolf, sag mal, bist du ein Linker? Dein Sozialtick und so. Bringst mir das Essen, sogar Zigaretten.
WOLF Nicht rechts, nicht links.
GEORG Von beidem etwas. Das hat Potenzial.
WOLF Der Kampf muss Spaß machen.
GEORG Na ja, du bist jung. Aber schau auf den deutschen Arbeiter. Die Politik hat ihn vergessen. Dabei hat er die Kraft, die heuchlerische Ordnung zu zerschlagen. In ihm nistet ein elementares Unbehagen. Vergiss das nicht.
WOLF Bin ich ein deutscher Arbeiter?
GEORG Frag nicht so blöd.
WOLF Gestern hab ich meinen ersten Toten gesehen. Erst dachte ich, er würde noch leben, weil der Opa sich immer, wenn ich das Essen brachte, schlafend stellte, um mich dann zu erschrecken. Diesmal ist es ihm gelungen. Er gab keinen Mucks von sich. Irgendwann ging ich hin und bemerkte, dass seine Augen mich anstarrten, ohne zu blinzeln.
GEORG Ich verspreche dir, dass ich keine Scherereien mache. Mich wirst du nicht leblos auffinden, niemals.
WOLF Versprechen Sie nicht zu viel.
GEORG Wenn, dann findet mich Else, die Nachbarin. Sie ist die barmherzige Seele der Reihenhäuser. Jeden Morgen sieht sie nach mir.
WOLF Hören Sie, Georg, Else lebt nicht mehr. Und sie wird auch nicht mehr nach dem Rechten sehen, wie sie es früher getan hat. Vor einem Jahr ist sie gestorben.
GEORG Else? Meine Else? Bestürzt schlägt er die Hände aufs Gesicht. Warum hat mir das niemand gesagt?
EINWURF
„Bei dem Versuch zu analysieren, warum die unteren Schichten manchmal die Rechten wählen, sollte man allerdings auch der Frage nicht ausweichen, ob die Annahme (die man sich oft nicht bewusst macht), dass diese Wählerschichten naturgemäß links wählen müssten, nicht falsch ist – schließlich haben die Arbeiter niemals geschlossen, und oft nicht einmal mehrheitlich, linke Parteien gewählt. (...) Vielleicht ist das Band zwischen der ‚Arbeiterklasse‘ und der Linken gar nicht so natürlich, wie man gerne glaubt. Vielleicht handelt es sich dabei einfach um das Konstrukt einer bestimmten Theorie (des Marxismus), die alle anderen Theorien ausgestochen hat und bis heute unsere Wahrnehmung der sozialen Welt sowie unsere politischen Kategorien bestimmt.“ (Didier Eribon, Rückkehr nach Reims)
Vor dem Fabriktor
ANTON Die Fabrik ist tot. Alles steht still.
ARBEITERCHOR ruft Es lebe die Fabrik!
ANTON Erwischt hat es die Jüngeren. Ich war schon in Rente, genauso wie Georg. Mit den Jungen haben wir für die Zukunft gekämpft. Georg machten sie zum Anführer. In Arbeitsklamotten zogen wir durch die Stadt.
ARBEITERCHOR ruft Rettet die Fabrik!
ANTON Aber gebracht hat es nichts. Sie haben uns hingehalten und mit Worten vertröstet. Sogar ein Minister sprach auf uns herunter. Am Ende ging alles verloren.
ARBEITERCHOR ruft Kopf hoch! Ihr braucht ihn!
ANTON Davon hat sich die Stadt bis heute nicht erholt. Jetzt wollen sie Kultur in die Fabrik stecken, ein ganzes Theater. Alle reden von Strukturwandel. Und dass es nur so wieder aufwärts geht. Aber das Wort ist zum Augenwischen gemacht. Den Arbeitern nützt es nichts. Sie wollen ihre Fabrik wiederhaben.
ARBEITERCHOR ruft Stürmt das Theater!
ANTON Dann sind Menschen aus dem Krieg gekommen, dem syrischen Krieg, dem afghanischen und irakischen. Irgendwo mussten sie hin. Also hat sie die Stadt in der Fabrik untergebracht, noch dazu ein Zeltlager errichtet auf dem Gelände. Georg ist wütend geworden und hat herumgeschrien. Nicht in die Fabrik, nicht ins Viertel der Abgeschmierten!
ARBEITERCHOR ruft Auch du, Anton, warst dagegen!
ANTON Dieser Chor geht mir auf den Sack. Kann ich nicht einfach erzählen, was war? Flüchtlinge in der Fabrik, das lässt sich den Unsrigen schwer verklickern. Georg hat es sofort kapiert, und ich stand auf seiner Seite. Doch die Partei verlangte Solidarität mit den Notleidenden. Wenn ich an etwas glaube, dann ist es die Solidarität. Sie gilt immer und überall, entweder grenzenlos oder gar nicht. Darum stimmte ich am Ende zu. Georg dagegen nahm die Weisung zum Anlass, das Parteibuch zurückzugeben, nach langen Jahrzehnten der Treue. Jetzt trommelt er für die Rechten, als wäre er nie ein Linker gewesen.
ARBEITERCHOR ruft Oh weh, oh weh!
ANTON Ein Stück ohne Chor wäre mir lieber. Oder ein Chor, der Kampflieder singt, statt täppisch zu kommentieren, ja, ein Arbeiterchor.
ARBEITERCHOR singt Vorwärts und nicht vergessen!
ANTON Klingt das echt? Oder zynisch?
ARBEITERCHOR ruft Folklore, Alter! Gemeinsame Lieder, getrennte Wege.
ANTON Ihr seid Arbeiter.
ARBEITERCHOR ruft Wir sind, was wir sind!
EINWURF
„Aber die Bourgeoisie hat nicht nur die Waffen geschmiedet, die ihr den Tod bringen; sie hat auch die Männer erzeugt, die diese Waffen führen werden – die modernen Arbeiter, die Proletarier. In demselben Maße, worin sich die Bourgeoisie, d.h. das Kapital, entwickelt, in demselben Maße entwickelt sich das Proletariat, die Klasse der modernen Arbeiter, die nur so lange leben, als sie Arbeit finden, und die nur so lange Arbeit finden, als ihre Arbeit das Kapital vermehrt. Diese Arbeiter, die sich stückweis verkaufen müssen, sind eine Ware wie jeder andere Handelsartikel und daher gleichmäßig allen Wechselfällen der Konkurrenz, allen Schwankungen des Marktes ausgesetzt.“ (Karl Marx/Friedrich Engels, Manifest der kommunistischen Partei)
Isa und Wolf haben Sex (gehabt).
WOLF Ahuuu!
ISA Was ist?
WOLF Ich bin da, puh, gekommen.
ISA Schön für dich.
WOLF Ist was?
ISA Schon gut. Ziemlich rasant. Ich bin noch nicht da.
WOLF Lass mich einen Moment verschnaufen.
ISA Höschen wieder hoch, ja?
WOLF Gute Idee. Tropfenfänger, ha, ha.
ISA Red nicht so. Oder hast du dein Hirn verspritzt?
WOLF Entschuldige, Isa. Aber ich mag es, wenn du das Biest herauslässt. So ein süßes kleines Biest.
ISA Was hast du vorhin geschrien?
WOLF Vorhin? Hab ich geschrien?
ISA Kurz bevor du fertig warst.
WOLF Ach so. Ahu! hab ich gerufen. Ahu!, Attacke, ein Kampfschrei.
ISA Alles klar.
WOLF Ahu!, das kommt aus Sparta, weißt du, echte Krieger. Damals haben sie das Abendland verteidigt. Dreihundert echte Krieger gegen eine Übermacht von Persern und kulturellem Mischmasch. Jahreszahlen kann ich mir schwer merken, aber 480 vor Christus, das merk ich mir wie mein Geburtsjahr. Am Thermopylenpass stießen die Krieger aufeinander, hier unter Spartas König Leonidas, dort unter Xerxes, dem Perserkönig. Leo hatte nur dreihundert Mann.
ISA Wie, hast du gesagt, heißt der Pass?
WOLF Der Pass, ja. Welcher Pass? Du stellst Fragen.
ISA Ahu! heißt die Parole.
WOLF Korrekt. So haben die Spartiaten sich in den Kampf geworfen.
ISA Toll. Du hörst dich an wie ein Kind.
WOLF Wird das Biest gleich gefickt?
ISA höhnisch Ahu!, Ahu!, Ahu!
WOLF Gelbe Schilder trugen sie, gelb. Mit einem schwarzen Buchstaben darauf, das griechische Lambda, ein Zacken. So sehen auch unsere Fahnen aus. Gelb mit schwarzem Zacken. Bald wird das Zeichen bekannter sein als Coca-Cola. Unter diesem Zeichen verteidigen wir das Abendland. Denn es ist an der Zeit, dass wir uns wehren.
ISA Ich dachte, du machst Essen auf Rädern.
WOLF verwirrt Essen, Abendland, ja genau ... Komm einfach mal mit. Es gibt da einen Opa, den du kennenlernen musst. Nur zum Spaß. Bist du dabei? Ich hab Lust, ihn zu verscheißern. Er ist nicht mehr ganz richtig im Kopf, aber sonst ganz okay. Komm mit, Isa, und zieh dir ein Kopftuch über. Bist meine Freundin, eine Muslima. Nur so. Um zu sehen, wie er reagiert.
ISA Das ist gemein. Such dir eine andere dafür.
WOLF Bist du meine Freundin oder nicht?
Isa zuckt mit den Schultern.
WOLF Oh, dein Zögern törnt mich an. Ich bin wieder so weit.
ISA Aber diesmal sanfter. Sanft und nicht so hastig. Sonst war es das letzte Mal.
WOLF Ahu!
EINWURF
„Islamisierung. Historisch bezieht sich der Begriff auf die Ausbreitung des Islams in seiner Frühphase, also etwa bis ins 10. Jahrhundert. Im Rahmen der Umvolkung erscheint die Islamisierung als strategisches Mittel einer großen Verschwörung gegen Deutschland, um den Volkskörper kaltzumachen. Geflüchtete Menschen werden als Waffe (Invasionsarmee) verstanden, mit der die besonders im atheistischen Osten so tief verwurzelte christlich- jüdische Tradition verdrängt wird. Dafür muss man freilich den Islam als kriegerisches Gegenüber annehmen. Dass die Angst vor der Islamisierung gerade in Dresden ihren Stammsitz hat, ist eine weitere bizarre Auffälligkeit. Der muslimische Bevölkerungsanteil liegt in Sachsens Hauptstadt bei beängstigenden 0,1 Prozent.“ (Robert Feustel u.a., Wörterbuch des besorgten Bürgers)
ARBEITERCHOR
Lied von den Tätigkeitswörtern
Du schweißt, du bohrst, du schraubst, du fräst
Du wischst, du wäschst, du spülst, du nähst
Du denkst, du schreibst, du liest, du lehrst
Du fährst, du fliegst, du gießt, du teerst
Du fütterst
Du twitterst
Telefonierst, fotografierst, protokollierst
Doch du trinkst
In deinem Wirtshaus
Weil ein Bollwerk
Muss es geben
Für die Freiheit
Und dein Leben
Proletarier, prost!
Du jagst, du fischst, du kochst, du backst
Du tippst, du flickst, du strickst, du hackst
Du singst, du malst, du nickst, du spurst
Du lachst, du grätschst, du lockst, du hurst
Du predigst
Du hämmerst
Eskortierst, programmierst, kontrollierst
Doch du trinkst
In deinem Wirtshaus
Weil ein Bollwerk
Muss es geben
Für die Freiheit
Und dein Leben
Proletarier, prost!
Du wachst, du wirbst, du baust, du kehrst
Du säst, du mähst, du melkst, du scherst
Du pflegst, du schützt, du löschst, du spritzt
Du zapfst, du schnappst, du stehst, du sitzt
Verfeuerst
Erneuerst
Optimierst, operierst, transportierst
Doch du trinkst
In deinem Wirtshaus
Weil ein Bollwerk
Muss es geben
Für die Freiheit
Und dein Leben
Proletarier, prost!
Antons Wohnung, die Küche.
ANTON Setz dich, Isa. Wie läuft es?
ISA Lieber als deutsch reden sie englisch.
ANTON Gut, dass du dich kümmerst. Ohne Sprache sind sie verloren. Das musst du ihnen klarmachen.
ISA Wissen sie selbst. Heute hat einer für mich getanzt, immer um den Tisch herum, ganz ohne Musik.
ANTON Na ja, lass ihn. Es ist nicht leicht für sie.
ISA Wäre ich ein Junge, hätte er es nicht gewagt. Wie soll ich da unterrichten? Die anderen haben sich kaputtgelacht.
ANTON Er hat gezeigt, dass er sich freut. Und das ist gut. Für einen Jungen hätte er nicht getanzt.
ISA Immer nimmst du sie in Schutz.
ANTON Ja, weil sie unseren Schutz brauchen. Ein Arbeiter muss solidarisch sein. Zum Glück helfen viele mit. Das hätte auch anders kommen können. Auch du, Isa, trägst dazu bei, dass niemand verzweifelt.
ISA Viele helfen, ja stimmt. Aber ebenso viele helfen nicht. Denen wäre es lieber, wenn der Spuk bald vorbei wäre. Sie wünschen die Schmarotzer zum Teufel.
ANTON Schmarotzer? Das hab ich nicht gehört. Woher hast du das?
ISA Gerede.
ANTON Gerede, Gerede. Das ist kein Maßstab. Du weißt, was du tust und wofür. Nur das zählt. Beim Fußball haben wir jetzt ein paar Neulinge, lauter Araber, alle aus der Fabrik, jung und motiviert. Das wird eine tolle Mannschaft, sag ich dir. Und wenn wir die ersten Spiele gewinnen, wird die Stadt jubeln. Alle werden sie jubeln.
ISA Mama sagt, du bist ein Radikaler. Früher hättest du die verrücktesten Dinge angestellt. Aber du bist milde geworden, oder? Ein weiser alter Mann.
ANTON Ich bin nicht milde. Merk dir das.
ISA War nicht böse gemeint.
ANTON Ich könnte dein Großvater sein.
ISA Stiefvater ist auch okay. Warst du echt radikal?
ANTON Ich bin radikal. Als Arbeiter darfst du dir nichts vormachen lassen. Sonst trampeln sie auf dir herum.
EINWURF
„Ich habe dieses Buch ‚Die Nacht der Proletarier‘ genannt, weil es darauf abzielt, die Anstrengungen sichtbar zu machen, die diese Leute unternahmen, um der einfachsten und unmittelbarsten Form des Zwanges zu entkommen, der auf ihrem Leben lastete, der vorschrieb, dass, wer den ganzen Tag arbeitet, in der Nacht schlafen muss, um am nächsten Morgen weiterarbeiten zu können. Die Emanzipation der Arbeiter beginnt gewissermaßen da, wo die Arbeiter beschließen, nicht zu schlafen, sondern andere Dinge zu tun, zu lesen, zu schreiben, sich nachts zu versammeln.“ (Jacques Rancière, Politik und Ästhetik)
Antons Angsttraum. Unter einem roten Regenschirm steht er auf dem Marktplatz und sieht den Arbeiterchor als Demonstrationszug auf sich zumarschieren, gerade so, als wäre er nicht vorhanden. Georg marschiert vorneweg.
ARBEITERCHOR skandierend
Anton Volksverräter! Anton Volksverräter!
Toleranzfaschismus! Nieder damit! Nieder!
Anton muss weg! Anton muss weg!
Wir sind das Volk! Wir! Wir!
Islam ist Wahn! Islam ist Wahn!
Die Fachkraft fickt die deutsche Frau!
Wacht auf, ihr Männer, wacht auf!
ANTON Stop! Wer seid ihr? Wenn ihr Arbeiter seid, bleibt stehen. Zurück, sag ich, zurück! Habt ihr Karl Marx gelesen?
ARBEITERCHOR Lügenanton! Lügenanton!
ANTON Stop! Stop!
GEORG In hundert Jahren tut nichts mehr weh.
ARBEITERCHOR Anton Volksverräter! Anton Volksverräter!
ANTON Proletarier aller Länder –
Der Zug marschiert über Anton hinweg. Georg kehrt um und greift nach dem roten Regenschirm. Die Spitze stößt er dem am Boden liegenden Anton ins Herz.
EINWURF
„Wir stehen damit vor der Frage, wer das Recht hat, das Wort zu ergreifen, und wer auf welche Weise an welchen politischen Entscheidungsprozessen teilnimmt – und zwar nicht nur am Erarbeiten von Lösungen, sondern bereits an der kollektiven Diskussion darüber, welche Themen überhaupt legitim und wichtig sind und daher in Angriff genommen werden sollten. Wenn die Linke sich als unfähig erweist, einen Resonanzraum zu organisieren, wo solche Fragen diskutiert und wo Sehnsüchte und Energien investiert werden können, dann ziehen Rechte und Rechtsradikale diese Sehnsüchte und Energien auf sich.“ (Didier Eribon, Rückkehr nach Reims)
Wirtshaus. Anton sitzt an einem Tisch, Georg an einem anderen, jeweils mit zwei oder drei Gleichgesinnten aus dem Arbeiterchor. Beide schauen geradeaus, selbst dann noch, als Lydia hervortritt.
LYDIA Schämt euch, Männer. Mehr sag ich nicht. Aber ich sag, dass ein Wirtshaus sich nicht spalten lässt. In diesem Wirtshaus gehören alle zusammen. Und wenn es Streit gibt, dann geht vor die Tür. Von mir aus schlagt euch die Köpfe ein, und wenn ihr genug davon habt, dann kommt wieder herein, setzt euch an einen Tisch und stoßt mit euren Bierkrügen an. Alles andere ist erbärmlich. Anton, ich red mit dir. Georg, mit dir red ich auch. Könnt ihr einer Frau, die mit euch redet, nicht ins Gesicht schauen? Anton und Georg folgen der Aufforderung. Na also, geht doch. Vor zehn Jahren hab ich das Wirtshaus übernommen. Den einen Gast hab ich behandelt wie den anderen. Ich hab euch alle gut behandelt, weil ihr gute Arbeiter seid und gute Arbeiterinnen. Gemeinsam haben wir gefeiert, getanzt und gesungen, und gemeinsam sind wir ins Morgenlicht hinaus, wenn wir früher nicht gehen wollten. Oft habt ihr hart diskutiert, dass ein Glas an der Wand zersplittert ist, aber politisch gesprochen habt ihr aus einem Mund, weil ihr nur so zu hören wart und niemand lachte. Wie ihr wisst, hab ich Anton zum Mann genommen, weil ich ihn liebe wie keinen zweiten. Aber im Wirtshaus ist auch er nur ein Gast unter Gästen. Er bekommt sein Bier nicht schneller als jeder andere. Unter Arbeitern muss es gerecht zugehen. Wer mir Isa geschenkt hat, ist ein Geheimnis. Sie streicht zwei oder drei Männern über den Kopf. Selbst wenn ich wollte, ich könnte es nicht enthüllen. Aber Isa ist das schönste Geschenk, das ich je empfangen habe. Sie ist das Kind eines Arbeiters.
GEORG Von mir ist sie nicht.
LYDIA Hat keiner behauptet.
ANTON Warum sollte sie von dir sein?
GEORG Von dir jedenfalls spricht niemand.
ANTON Du hast Lydia nicht zugehört.
GEORG Was sagst du?
ANTON Wenn du Streit haben willst, dann draußen.
GEORG Willst du mir drohen? Ausgerechnet du? Du hast uns das Schlamassel ja eingebrockt.
ANTON Welches Schlamassel?
GEORG Neunhundert Flüchtlinge in der Fabrik. Das wird die Stadt nicht verkraften. Du aber hast zugestimmt. Du hast dich der Partei gebeugt.
ANTON Und du hast sie verraten.
GEORG Alles geht vor die Hunde. Was soll ich in dieser Partei? Das ganze System kracht zusammen. Eine Alternative muss her.
ANTON Weil du zu feige bist, die Welt anzuschauen. Du siehst nur noch dich selbst. Willst Karriere machen auf ihrer verdammten Liste. Vor lauter Angst kriechst du zu ihnen unter die Decke und tust, als seist du ab heute der Deutscheste. Er zieht die mit Nadeln gespickte Voodoopuppe hervor und richtet sie auf Georg.
GEORG Huh, da krieg ich Angst.
ANTON Verflucht sollst du sein.
GEORG Das Püppchen stammt aus Cuba, nicht wahr? Venceremos, Compañero.
ANTON Halt dein dummes Maul.
LYDIA Nimm die Puppe weg, Anton.
Anton fuchtelt mit der Puppe herum, richtet sie dahin und dorthin, als wären alle gegen ihn.
LYDIA Nimm sie weg.
Zögernd steckt er sie wieder ein.
LYDIA Ich sehe, dass meine Worte nichts bringen. Dass sie weder gehört noch verstanden werden. Georg, du bist einer von uns. Und wenn du keiner von uns bist, dann hast du hier nichts mehr verloren. Dann hast du hier Hausverbot.
GEORG Lydia, so darfst du nicht mit mir umgehen. Nicht nach all der Zeit. Ich bin ja nicht allein. Wenn ich geh, gehen auch die, die so denken wie ich. Ein Riss zieht sich durch die Klasse. Irgendwann wirst auch du es begreifen.
ANTON Hau ab, Verräter.
GEORG Hau du ab. Das Volk wird sich rächen.
LYDIA Schämt euch, Männer.
EINWURF
„[Rechtsintellektuelle] sind selbstverständlich in der Lage, zwischen der Religion und ihrer politischen Ausdeutung zu differenzieren. Sie sind nicht unumwunden ‚islamophob‘, wie es eine fatale Fehldeutung unterstellt. Ihr Hauptfeind ist nicht die Lehre Mohammeds, sondern die globale Moderne mit all ihren Konsequenzen. In manchem gleichen sie ihrem islamischen Feind sogar, denn die geistige Welt eines autoritären Ultrakonservatismus, wie ihn der politische Islam darstellt, entspricht ihrer eigenen viel mehr als die der ‚dekadenten‘ westlichen Zivilisation. (...) Der fundamentalistische Islam ist selbst Teil jener ‚Konservativen Revolution‘ gegen den ‚westlichen Universalismus‘, mit der ‚Identität‘ wiedererlangt werden soll.“ (Volker Weiß, Die autoritäre Revolte)
WOLF Ahuuu! Er stürzt nach vorn. Ahu! Geschafft! Hey Freunde, es hat geklappt. Es – auf dem Rathaus weht die Flagge, scharfer Zacken auf gelbem, äh, Gelb. Unsere Flagge! Wir haben die Stadt im Sturm genommen. Wie Krieger aus Sparta, Miniarmee, aber gestählt und kampfeslustig. Leicht war es nicht, ehrlich gesagt, hinaufzugelangen aufs Dach, mit der Leiter von Vorsprung zu Vorsprung und dann auf den Giebel. Unten haben sie nur geglotzt. Sind zusammengelaufen und haben den Hals gereckt. Gestiegen sind wir und geklettert wie beim Alpenverein, aber die Alpen sind ja weit weg, und niemand hat in den Alpen für den Angriff trainiert. Allein der Wille zählt. Zuerst tauschten wir die Flaggen aus, weg mit dem Stadtwappen, her mit dem Zacken. Ahu, die neue Regierung ist da. Ein Putsch, hey. Dann knüpften wir das Transparent an der Dachrinne fest, damit alle es lesen konnten: Sichere Grenzen – sichere Zukunft. Korrekt, Freunde, wer die Macht ergreift, muss das Wort ergreifen. Und er muss auch gesehen werden. Darum hab ich alles gefilmt, mit einer Kopfkamera. Die Hände hab ich zum Klettern gebraucht; die Flagge lag im Rucksack. Von unten hat ein Krieger mitgefilmt, voll geil, wie wir da herumturnen und dann, mit dem Transparent, das Wort ergreifen. Morgen könnt ihr das Video auf Youtube sehen. Quasi Doku. Gibt auch Musik dazu. Schon jetzt sind Fotos auf Facebook, dazu paar Notizen über die Aktion. Gelungen, sag ich, es ist vollbracht! Wer uns immer noch für Kellerasseln hält, die nicht ans Licht finden, die Bier trinken und in Schlafsäcken pennen, dem ist nicht zu helfen. Es wird ihm noch leidtun. Denn auf dem Rathaus haben wir unsere Flagge gehisst. Jetzt sind wir da und bekannt wie Jesus Christus. Hinten, im Rücken vom Rathaus, haben wir uns dann abgeseilt, vorsichtig, damit nichts passiert. Auf dem Parkplatz stand eine Schar Polizisten, die haben uns freundlich empfangen. Ausweis, her damit.
Isa läuft auf ihn zu und springt ihn an. Er fängt sie auf und dreht sich mit ihr.
ISA Krass, Wolf. Echt krass.
EINWURF
„Der Aufstand des Arbeitertums wird jedoch nicht ein zweiter und farbloserer Aufguß sein, der nach veralteten Rezepten bereitet ist. (...) Was vielmehr die höchste Aufmerksamkeit erregt, das ist die Tatsache, daß zwischen dem Bürger und dem Arbeiter nicht nur ein Unterschied im Alter, sondern vor allem ein Unterschied des Ranges besteht. Der Arbeiter nämlich steht in einem Verhältnis zu elementaren Mächten, von deren bloßem Vorhandensein der Bürger nie eine Ahnung besaß. Hiermit hängt es (...) zusammen, daß der Arbeiter aus dem Grunde seines Seins einer ganz anderen Freiheit als der bürgerlichen Freiheit fähig ist und daß die Ansprüche, die er in Bereitschaft hält, weit umfassender, weit bedeutsamer, weit fürchterlicher als die eines Standes sind. (...) In diesem Zusammenhange erscheint der Sozialismus als die Voraussetzung einer schärfsten autoritären Gliederung und der Nationalismus als die Voraussetzung für Aufgaben von imperialem Rang.“ (Ernst Jünger, Der Arbeiter)
Georgs Wohnung. Wolf bringt, begleitet von Isa mit Kopftuch, das Essen in einer Box.
GEORG Allahu Akbar.
ISA geziert Spotten Sie nicht.
GEORG Gott ist groß. Ich meine es ernst und mit großem Respekt.
WOLF Das ist Amber, meine Freundin. Amber bedeutet die Blonde.
GEORG Kann sein. Aber das Haar hat sie gut versteckt. Muss auch so sein bei denen. Finde ich richtig.
WOLF Sie ist nicht blond.
GEORG Trotzdem schöner Name. Rot auf den Lippen, das geht, ja?
ISA Wir leben nicht hinterm Mond.
GEORG Nein, hinterm Mond nicht. Aber eben auch nicht hier. Woanders, nicht wahr? Alles hat seinen Platz auf dieser Welt.
WOLF Ich dachte, Sie flippen aus.
GEORG Wieso? Wegen ihr? Einer jungen Frau, die weiß, was sie ihrer Kultur schuldet? Ich wünschte, auch deutsche Frauen wüssten es.
ISA Ich bin Deutsche.
GEORG Nein, Blonde, bist du nicht. Du brauchst deine Wurzeln nicht zu verleugnen. So, wie es ist, ist es gut. Nie wirst du eine Deutsche sein.
WOLF Jeden Morgen liest sie im Koran. Und jeden Abend.
ISA Viele Verse kann ich auswendig.
GEORG Ja, ein gutes Buch. Ab und zu blättere ich selbst darin. Gegen den Islam gibt es nichts zu sagen. Aber er gehört nicht hierher. Er gehört nach dort, versteht ihr? Nach dort.
ISA geziert Beleidigen Sie mich nicht.
GEORG Ich hab nichts gegen dich.
WOLF Allaho Akbar.
GEORG Hu, Wolf, All-ahu Akbar.
WOLF Ahu!
GEORG Wo der Islam herrscht, herrscht Ordnung. Jedermann weiß, was er darf und was nicht. Der wahre Islam beruht auf Befehl und Gehorsam. Das ganze Getue um Lust und Vergnügen ist ihm fremd, ebenso wie das toleranzfaschistische Schulterzucken. Hier folgt alles strengen Regeln. Der Mensch verliert sich nicht. Er weiß, was er für richtig oder falsch zu halten hat. Er tut, was er tun muss. Der Frau wird gesagt, worin ihre Rolle besteht. Alles andere würde sie nur überfordern. Dem dekadenten Westen ist der Islam himmelhoch überlegen, den Menschenrechtsheuchlern und Weicheiern unserer Tage. Darum würde ich jedes Bündnis mit ihm eingehen, solange er sein Territorium nicht verlässt.
WOLF Abendland bleibt Abendland. Letzte Woche haben wir dem Rathaus unsere Flagge aufgesteckt.
GEORG Was ist in der Box?
WOLF Ich hab nicht nachgeschaut.
GEORG Egal. Hab eh keinen Hunger. Das Essen wird schon kalt sein. Aber Amber, du sagst ja gar nichts. Bist du nun blond oder nicht?
ISA Blond ist nur mein Name
GEORG Steigen zwei Blondinen in den Fahrstuhl. Euch muss klar sein, beide sind Nutten. Sagt die eine, findest du nicht, dass es hier nach Sperma riecht? Sagt die andere, man wird doch wohl noch rülpsen dürfen. Ha, ha, ha.
WOLF Voll geil.
ISA geziert Darüber kann ich nicht lachen.
GEORG Natürlich nicht. Entschuldige.
ISA Was würde Ihre Nachbarin dazu sagen?
GEORG Die ist längst grau. Else färbt nie ihre Haare. Vielleicht kommt sie gleich noch vorbei. Soll ich sie rufen?
WOLF Zwecklos. Sie lebt nicht mehr.
GEORG Zwecklos? Was sagst du?
WOLF Warum schlagen Sie nicht die Hände aufs Gesicht? So kenn ich das von Ihnen. Jedes Mal derselbe Schock. Aber Else ist schon lange tot.
GEORG Ich weiß, dass sie tot ist. Hab es immer gewusst. Bin doch nicht blöd.
Verwirrt wechseln Wolf und Isa einen Blick. WOLF Sie haben mir alles nur vorgespielt?
GEORG Ja, hab ich. Zufrieden? Ich wollte bedürftig erscheinen. Ich wollte und will, dass du mir jeden Tag das Essen bringst. Kapiert?
EINWURF
„Thymos. Derweil bastelt sich Marc Jongen den Thymos-Begriff zur Grundlegung der Besorgtenbewegung zurecht. (...) Ob die Forderung nach tatkräftigem Bürgerzorn angesichts brennender Flüchtlingsheime, Angriffe auf als nichtdeutsch Wahrgenommene, Kritiker und Journalisten nicht obsolet ist, juckt Jongen nicht. Im Grunde verkleidet er den Schlachtruf ‚Ahu!‘ im intellektuellen Gewand. Ein bisschen Zorn muss sein? Platon empfahl zur Thymos-Steigerung Gymnastik.“ (Robert Feustel u. a., Wörterbuch des besorgten Bürgers)
Anton und Lydia stehend, hin und her gehend.
ANTON Jedenfalls gut, dass du ihn rausgeworfen hast. Georg hat bei uns nichts mehr zu suchen. Hausverbot! Was der für ein Gesicht gemacht hat. Viel hat nicht gefehlt, und er hätte geweint. Ein Arbeiter, der weint, ha!, jämmerlich.
LYDIA Ich weiß nicht. Vielleicht hätte ich – er ist ja kein schlechter Kerl. Und er geht nicht allein. Er nimmt einige mit. Ich frag mich, ob –
ANTON Gut, dass sie weg sind. Georg hätte alle noch verrückt gemacht. Er hätte die Arbeiter aufgehetzt, bis sie – ach, was weiß ich. Es ist keine leichte Zeit für uns. Wir müssen zusammenhalten.
LYDIA Geh zu ihm und hol ihn zurück.
ANTON entgeistert Bist du jetzt vollkommen übergeschnappt? Georg ist verloren, hörst du. Er versteht die Welt nicht mehr, und er versteht sich selbst nicht mehr. Georg ist ein Nazi geworden, weil er den Sozi nicht im Kreuz hat. Er will das Leid der Welt nicht sehen. Er will von Menschen, die leiden, gedrückt und gedemütigt und ihres Lebens nicht mehr sicher, nichts gehört haben. Für den Sozi aber zählt dieser Mensch, egal, woher er kommt. Denn dieser Mensch verdient Mitleid, Hilfe, Solidarität. Sonst krepiert er. Der Nazi zieht sich zurück auf die Scholle. Darauf sitzt unser Georg und schmollt wie ein Kind. Er träumt sich weg von der Welt, weil er das Durcheinander nicht aushält. Nein, leicht ist es nicht. Hat wer gesagt, dass es leicht wird? Nein. Also. Den Kampf für Gerechtigkeit hat Georg fahren lassen, jetzt kämpft er gegen das System, damit es einstürzt über kurz oder lang. Damit Platz wird für eine andere Herrschaft.
LYDIA Anton? Auch du greifst das System an. Seit ich dich kenne, lehnst du dich dagegen auf.
ANTON Weil es den Arbeiter ausbeutet, weil es ihn kleinhält und fertigmacht.
LYDIA So habt ihr immer geredet, Georg und du. Und ich hab mich mitreißen lassen, weil ich niemanden kannte, der je so geredet hat. In der Partei wart ihr Radikale, durch nichts zu bändigen und immer einen Schritt voraus. Ihr habt auch Dinge getan, die gegen das Gesetz waren. Streit das nicht ab! Ihr wart darauf aus, das Zulässige zu überschreiten.
ANTON Was meinst du damit?
LYDIA Gerede.
ANTON Das ist keine Antwort.
LYDIA Radikal, meine ich, ihr wart radikal.
ANTON Das ist lange her.
LYDIA Warum erzählst du mir nichts davon?
ANTON Du würdest es nicht verstehen. Du würdest es nicht –
LYDIA Hältst du mich für beknackt?
ANTON Nein, Lydia, nein. Nimm es mir nicht übel, aber ich kann nicht. Ich kann wirklich nicht.
LYDIA Mach mir Kaffee.
ANTON Gern, Lydia, gern. Er zögert. Äh – du musst auf Isa Acht geben. Sie hängt mit den falschen Leuten herum.
LYDIA Isa ist alt genug.
ANTON Dieser Wolf ist nicht sauber. Das musst du ihr sagen. Mir würde sie nicht glauben.
LYDIA Die Zeiten sind vorbei. Heute machen Töchter, was sie wollen. Da kommst du schwer dazwischen.
ANTON Meine ich ja. Darum musst du es ihr sagen.
LYDIA Welcher Wolf?
ARBEITERCHOR
Lied von der Arbeiterin 4.0
Top Level, ihr Leute
Erringt ihr nicht im Schlaf
Ich schlafe nicht
Ich wache
Ich mach mein Zeug
Und lache
Top Level, schon heute
Und morgen sowieso
Desksharing
Crowdworking
Bin mal hier, mal dort
Bin bei euch, weil online
Denn ich halt mein Wort
Kenn nicht Tag noch Nacht
Seh nur Stunden
Die sich runden
Immer auf der Wacht
Meine Hände Sind gebunden
Nennt mich nicht beim Namen
Nennt mich, was ich bin
Arbeiterin
Klappen auf den Schultern
Vier Punkt Null darauf
Rührt euch nicht zu langsam
Arbeitssoldaten
Desksharing
Crowdworking
Rechte hab ich
Welche Rechte?
Regeln gibt es
Welche Regeln?
Hauptsache gesund
Weil krank ist krank
Und schönen Dank
Auch für die Mühe
Kinder kannste später kriegen
Nicht verzagen
Stündlich siegen
Vier Punkt Null
Für Auserwählte
Durch die Arbeit erst Gestählte
Wo aber steckt die Arbeiterin
In der Bewegung der Arbeiter?
Steckt sie zu Hause
Muffig die Bude
Sorgt für die Kinder
In Buxtehude?
Im Wirtshaus war sie nie dabei
Da hockten die Männer
Wölfe und Lämmer
Soffen Revolution herbei
Wo aber steckt die Arbeiterin?
Wo steckte sie damals
Und wo steckt sie heute?
Vier Punkt äh und Null
Top Level, ihr Leute
Desksharing
Crowdworking
Ich bin flexibel
Flexibel ist gut
Ich kotz in den Kübel
Vor Schmerzen, vor Wut
Ich würg und ich kotz
Als wär ich schon krank
Besser als Kotzen
Ihr herzlichster Dank
Ich hab es gebracht
Ich schwimm jetzt ganz oben
Berühmt über Nacht
Sie schmeicheln, sie loben
Top Level, ihr Leute
Erringt ihr nicht im Schlaf
Ich schlafe nicht
Ich wache
Ich mach mein Zeug
Und lache
Top Level, schon heute
Und morgen sowieso
EINWURF
„Obwohl die Werte, für welche diese Chöre eintreten (Antifaschismus, Solidarität, Menschenrechte und soziale Sicherheit) im Grunde universal und europäisch sind, genauer, Werte sind, auf denen das Narrativ der europäischen Aufklärung beruht, hat es fast den Anschein, als könnte es sich niemand, der ernst genommen werden möchte, erlauben, über die Werte der sozialistischen Epoche als über europäische Werte zu sprechen.“ (Tanja Petrović, Yuropa)
Georg irrt mit seiner Axt durch die Nacht. Die Straßen sind verwaist.
GEORG Ist da wer? Ist da – ? Sieht nicht so aus. Die schlafen jetzt alle. Stellen sich tot. Zwischen zwei und halb vier ist diese Stadt tot. Sieht mich wer? Hallo! Könnt ihr mich sehen? Keiner da. Die Stunde der Revolution. Alle schlafen, und ich, ich mach Revolution. Weil es ein Irrtum ist, dass du die Massen brauchst. Besser, du machst es allein. Wenn sie nicht damit rechnen. Die Straßen sind frei. Keiner hält dich auf. Wohin? Weiter. Weiter. Wenn sie aufwachen, ist alles getan. Sie wachen auf, und die Macht liegt in meinen Händen. In deutschen Händen. Unseren Händen. Ich tu es für euch. Hört ihr? Wollt ihr nicht hören? Jetzt hört mir doch zu. Warum die Axt? Wer hat mir die Axt in die Hand gedrückt? Steht so im Stück, aha. Die Regisseurin war es. Nimm die Axt, hat sie gesagt. Denn du sprichst einen Revolutionsmonolog. Da musst du bewaffnet sein. So stellt sie sich das vor. Aber ich durchschaue das Spiel. Sie wollen mich fertig machen. Mich und meine Figur. Ich soll gemeingefährlich sein, das ist es, nicht ganz zurechnungsfähig, das ist es auch. Sie wollen warnen vor Leuten wie mir. Das werde ich ihnen vermasseln. Denn in Wahrheit bin ich klar bei Verstand, eine Figur, die für die Zukunft steht. Wohin, Genossen, hört ihr, wohin? Hin zur Fabrik. Denn irgendwo musst du anfangen. Und die Regisseurin hat recht. Es ist gut, dass ich bewaffnet bin, sehr gut sogar, und ich bin auch gefährlich. Weil mit der Axt schlägst du alles, was dir nicht passt, in Stücke, das heißt, kurz und klein. Anfangen, ich muss anfangen damit. Keiner ist mehr sicher. Uhrenvergleich, sechs Minuten nach drei. Sechs Minuten, sieben Minuten. Wie lang wollt ihr noch darauf warten, dass etwas passiert? Vor meinen Augen steht die Fabrik, alles dunkel, aber ich kenn die Ausmaße, den ganzen Komplex. Ich weiß, wo die Betten aufgestellt sind, unzählige Betten, dahinter der Waschraum mit Brausen. Dort haben wir den Dreck der Arbeit heruntergespült. Das Brausen war ein Fest jeden Tag. Die Fabrik aber gehört uns nicht mehr. Sie haben sie uns genommen und Fremde hineingesetzt. Die sitzen den ganzen Tag nur herum. Ich könnte schreien vor Wut. Warum ist es so still? Wut, Genossen, Wut –
ARBEITERCHOR singt vor der Fabrik Vorwärts und nicht vergessen –
GEORG Wer seid ihr?
ARBEITERCHOR singt Wir sind die Arbeiter.
Die Melodie folgt dem Kraftwerk-Song „Wir sind die Roboter“.
GEORG Uhrenvergleich.
ARBEITERCHOR ruft Halb vier.
GEORG Exakt. Wecker klingelt, Aufstehen, Frühschicht.
ARBEITERCHOR singt Wir sind die Arbeiter.
GEORG Danke. Hab verstanden. Seid ihr bereit?
ARBEITERCHOR singt Vorwärts und nicht vergessen Worin unsere Stärke besteht Beim Hungern und beim Essen Vorwärts und nie vergessen Die Solidarität
GEORG Jaja. Das Lied ist mir bekannt. Kennt jeder. Eure Lieder sind auch meine Lieder. Diese Lieder lass ich mir nicht nehmen. Aber jetzt ist nicht die Zeit dafür. Keine Zeit, keine Zeit.
ARBEITERCHOR schmettert Die Solidarität!
GEORG Keine Zeit. Uhrenvergleich.
ARBEITERCHOR ruft Halb vier vorbei.
GEORG Wo sind eure Waffen?
ARBEITERCHOR schmettert Die Solidarität!
GEORG Verdammt! Das ist der falsche Chor. Wer hat diesen Chor vor die Fabrik gestellt?
ARBEITERCHOR singt Wir sind die Arbeiter.
GEORG Ja schon, aber die falschen. Alle vom alten Schlag. Ihr glaubt noch an die Internationale. Euch kann ich nicht brauchen. Der neue Arbeiter denkt national. Darin liegt seine revolutionäre Kraft.
ARBEITERCHOR singt Wir sind die Arbeiter.
GEORG Leckt mich am Arsch. Besser, ich mach es allein. Einer muss damit anfangen. Ein Zeichen setzen. Angst und Schrecken.
Er schwingt seine Axt und schleudert sie in ein Fenster der Fabrik, das klirrend zerspringt. Der Arbeiterchor spuckt vor ihm aus.
ARBEITERCHOR scharf So.
EINWURF
„Die Mittelschicht und die untere Mittelschicht reagieren auf die graduelle Einschränkung der sozialen Sicherungssysteme und die Angriffe auf ihre erworbenen Rechte, indem sie sich rechtsgerichteten populistischen und nativistischen Parteien zuwenden. Gefördert wurde diese Entwicklung erstens durch das Verschwinden alternativer Angebote der durch das Scheitern des Kommunismus diskreditierten Linken, zweitens durch die Kooptierung linker Parteien (wie der sozialistischen Parteien Frankreichs und Spaniens) durch Parteien der Mitte, von denen sich die Linke kaum noch abhebt, und drittens durch den Glaubwürdigkeitsverlust der etablierten Parteien, die es nicht geschafft haben, die Rezession infolge der Finanzkrise unter Kontrolle zu bringen. (...) Die Europäer sind derart enttäuscht von ihren politischen Systemen und Parteien, dass viele von ihnen das Attribut der ‚Systemfeindlichkeit‘ mittlerweile als Vorzug betrachten.“ (Branko Milanović, Die ungleiche Welt)
Isas Zimmer. Wolf schleicht mit seiner Flagge um Isa herum.
ISA Weil du mich nackt sehen willst.
WOLF Ich will dich nur einwickeln.
ISA Nimm mich so, wie ich bin. Samt Klamotten.
WOLF Du musst die Flagge auf der nackten Haut spüren.
ISA Ist nicht meine Flagge.
WOLF Dir bring ich die Flagge noch bei. Bis du am Ende bettelst, dass ich dich einwickle. Immerhin hat sie das Rathaus erobert, wenn auch nicht lang. Sie haben sie schnell wieder abgenommen.
ISA Ich könnte ja dich darin einwickeln.
WOLF No fun.
ISA Zieh dich aus, Wolf.
WOLF Isa –
ISA Ahu!
WOLF Entspann dich.
ISA Wenn du mich nackt sehen willst, lass dir was einfallen.
WOLF Fotze.
ISA Schlapppimmel. Versuch es mal damit.
Mit dem Fuß schiebt sie ihm das Bündel einer roten Fahne zu.
WOLF Was ist das denn? Eine rote?
ISA Von Anton. Steht mir bestimmt gut.
WOLF Hängst du so an deinem Alten? Das ist krank.
ISA Nichts gegen Anton.
WOLF Krank und von gestern. Die Uhr des Alten ist abgelaufen.
ISA Gleich kannst du gehen.
WOLF Okay, dann die rote. Mir egal.
Er entfaltet die rote Fahne und breitet sie fast ehrfürchtig mit den Armen aus. Isa legt ihre Kleidungsstücke ab. Feierlich wickelt er die Fahne um ihren Körper.
ISA Ich spüre sie auf der Haut. Es kribbelt.
WOLF Hab ich gesagt.
ISA Geil.
WOLF Meine wäre geiler.
ISA Nächstes Mal.
Sie küssen sich. Wolf riskiert einen Striptease und wickelt sich umständlich zu Isa in die rote Fahne. Sie stürzen zu Boden und lachen. Überraschend treten Anton und Lydia ins Zimmer. Wolf und Isa verziehen das Gesicht.
LYDIA Ach, hier seid ihr. Sieht ja lustig aus.
ISA Kannst du nicht anklopfen?
ANTON Die Fahne hab ich ihr gegeben. Damit sie am 1. Mai nicht ohne dasteht.
LYDIA Aha, eine Fahne. Oder ein Laken? Ist es euch nicht zu hart auf dem Boden?
ISA Was geht dich das an?
ANTON Entschuldigt, bitte.
Er will sich zurückziehen.
LYDIA Ist das nicht der böse Wolf?
ANTON Komm jetzt!
LYDIA Ein Wolf in der roten Fahne?
ANTON Lydia, bitte –
WOLF Diese Flagge gehört ins Museum.
ISA Sei still, Wolf.
ANTON zu Lydia Siehst du. Er macht sich lustig über uns. Trottel.
LYDIA Nettes Pärchen.
ANTON Wirst dich noch wundern.
EINWURF
„Der Feind ist uns bloß drei zu eins überlegen, ein Leichtes für uns Griechen. Heute retten wir eine Welt vor den alten, dunklen, dummen Sitten. .. Und wir gehen in eine hellere Zukunft, eine Zukunft jenseits aller Vorstellungen. Dankt Leonidas, Männer, und seinen tapferen 300 ... Und macht euch bereit zum Kampf!“ (Frank Miller, 300)
Vor Georgs Haus, nachts.
ANTON ruft Georg! Verräter! Komm raus! Er horcht. Georg, hörst du mich? Zeig dich! Er wartet. Machst dir vor Angst in die Hosen. Ha, ha. Komm raus! Georg!
GEORG tritt zögernd hervor Wo ist meine Axt? Ich kann sie nicht finden.
ANTON Die Axt brauchst du nicht.
GEORG Hast du sie gesehen? Gerade jetzt wäre sie nützlich.
ANTON Weil du ein Feigling bist.
GEORG Geh auf die Straße. Du nach rechts, ich links. Oder umgekehrt meinetwegen. Um diese Zeit fahren keine Autos.
ANTON Hast du sie noch alle? Ich will mit dir reden.
GEORG Tu, was ich dir sage. Zehn Meter Abstand.
Sie gehen auf die Straße und bringen sich in Stellung.
ANTON Für einen Westernhelden fehlt dir die Klasse. Höchstens als Schurke könntest du durchgehen.
GEORG Ist es das, was du mir sagen willst?
ANTON Was macht dein Herz?
GEORG Mein Herz ist in Ordnung
ANTON Keine Schmerzen? Schlappheitsgefühle? In deinem Alter wäre ein Infarkt nichts Ungewöhnliches.
GEORG Jag mir keine Angst ein.
ANTON Seit Tagen, hörst du, greif ich dein Herz an. Mit spitzen Nadeln, seit Tagen.
GEORG Die Puppe? Ha! Mit Voodoo denkst du, dass du – deine letzte Chance, was? Weil du spürst, dass du verlierst. Man muss auch verlieren können.
ANTON Am Ende wird der Arbeiter gewinnen.
GEORG Der Arbeiter! Was verstehst denn du vom Arbeiter? Du hast nicht das Mindeste kapiert. Er will ein gutes Leben, Arbeit und Familie, und sonst seine Ruhe. Glaubst du, er träumt von der Weltrevolution? Wie sollte er, wie könnte er? Das alles ist eitle Theorie. Sein Glück aber ist ihm heilig. Und er wird es nicht aufs Spiel setzen. Er sieht sich bedroht aus aller Welt. Von barbarischen Horden, die einfallen, um sein Glück zu zerfetzen. Würdest du den Arbeiter ernst nehmen, dann würdest du ihn schützen. Ihn und sein Glück. Du würdest die Grenzen dicht machen und mit Waffengewalt verteidigen.
ANTON Verräter! Dafür hättest du dir früher die Zunge abgebissen. Du hast eine solche Angst vor der Welt, dass du zum Nazi geworden bist. Was erreichst du damit, heute, wo alles mit allem zusammenhängt? Nichts, nur den niedrigsten Instinkt. Du machst den Leuten Angst mit deiner Angst. Und gaukelst ihnen eine Idylle vor, die es nirgendwo gibt und nie gegeben hat. Dadurch lenkst du sie ab vom wahren Kampf. Dem Kampf um Glück und Gerechtigkeit. Dem Kampf gegen das Großkapital und die Ausbeutung. Das ist die Sprache, die der Arbeiter versteht. Der Arbeiter weiß, dass er allein nichts ausrichten kann, schon gar nichts gegen die großen Mächte. Darum muss er solidarisch sein. Mit allen, denen es ebenso ergeht, den Schwachen und Bedrückten, egal welcher Nation, welcher Religion. Nur gemeinsam sind wir stark. Du aber schlägst den Arbeiter nieder, indem du ihn für blöd und ignorant erklärst.
GEORG Wie geht es Lydia?
ANTON Was?
GEORG Wie es ihr geht.
ANTON Hörst du mir zu? Kannst du mir folgen?
Langsam gehen sie aufeinander zu.
GEORG Wer, meinst du, wird gewinnen? Du oder ich?
ANTON Was steht im Stück?
GEORG Unentschieden. Typisch fürs Theater. Sie wollen sich nie die Hände schmutzig machen. Nicht mal in einem Arbeiterstück.
ANTON Sollen wir nicht mit Messern – mit Messern aufeinander einstechen? Damit wir am Ende beide tot sind?
GEORG Eben das meine ich. Unentschieden.
ANTON Ist mir zu billig.
GEORG Ja genau. Denn wenn einer den Kampf entscheidet, bin ich es.
ANTON Du täuschst dich.
GEORG Nein, Anton. Denn du bist ein Träumer. Du träumst, wie du immer geträumt hast. Und eine Zeitlang hab ich mit dir geträumt, weil auch ich einen schönen Traum haben wollte. Aber das ist vorbei. Die Barbaren machen unser Deutschland kaputt, weil sie dieses Deutschland nicht kennen und nicht kennenlernen wollen. Zwangsläufig werden sie kriminell. Darum haben sie hier nichts zu suchen. Du belügst dich selbst, wenn du sagst, die Fremden sind gut, und deshalb muss ihnen der gute Arbeiter beistehen. Stattdessen werden die Fremden den deutschen Arbeiter vernichten. Denn sie nehmen ihm die Arbeit weg. Diese Fremden rufen ihren fremden Gott an, damit er sie rette vor dem ungläubigen deutschen Arbeiter. Aber noch haben wir es selbst in der Hand. Noch können wir uns wehren.
ANTON So tief bist du gesunken, Georg. Dass du die einfachsten Dinge nicht mehr erkennst. Die Menschen sind nicht immer gut, aber sie sind auch nicht immer böse. Fremde wie Einheimische. Auch der deutsche Arbeiter kann gut sein oder böse. Das Paradies auf Erden wird es nicht geben. Ganz klar sehe ich das, ganz klar. Der wahre Träumer bist du.
GEORG Ich träume nicht, ich handle.
ANTON Jaja. Du spiegelst Lösungen vor, die schon vor hundert Jahren nichts als vorgespiegelte Lösungen waren. Nationalistischer Quark, garantiert fettarm. Heil!, Georg.
GEORG Sag das noch mal. Wenn du dich traust.
ANTON Heil!, Georg.
Sie gehen aufeinander los, schlagen zu, ringen und raufen. Ihre altersbedingten Gebrechen melden sich durch Stöhnen und Ächzen. Der Zweikampf bekommt Züge eines Slapsticks. Irgendwann bemerken sie es selbst und fangen an zu lachen. Ein kurzer Moment der Versöhnung blitzt auf.
GEORG Ach, Anton.
ANTON Mensch, Georg. Altes Wrack.
GEORG Gegen Radikale hab ich ja nichts. Linksradikal, rechtsradikal. Alles besser als faule Kompromisse, die nur die Herrschaft der Reichen stützen.
ANTON Radikal links ist nicht radikal rechts. So denken nur Schwachsinnige.
GEORG Deinen Anschlag auf die Bank hab ich nicht vergessen. Du bist der Radikalste von allen.
ANTON Ein Wachmann kam ums Leben.
GEORG Weiß ich. Hab ja Schmiere gestanden. Trotzdem gelungen, die ganze Aktion.
ANTON Den Wachmann hätte es nicht treffen dürfen.
GEORG Nie ist etwas ans Licht gekommen.
ANTON Ich hab Blut an den Händen.
GEORG Ja. Weil ohne Blutvergießen bewegt sich die Welt nicht. Das wird auch in Zukunft so sein.
ANTON Heute sind wir klüger.
GEORG Nur, weil du träumst. Während ich nachts kein Auge zutu.
ANTON Ich hab einen unruhigen Schlaf.
GEORG Geht mir genauso. Ich schlafe schlecht.
ANTON Mit dir hab ich nichts zu tun.
GEORG Ich mit dir auch nicht, Genosse.
ARBEITERCHOR
Spottlied auf arme Schlucker
Danke, ihr Schlucker
Arme Schlucker
Dass ihr euch selbst vernichtet
Dem einen aufs Aug
Dem andern aufs Maul
So wird ein Flop errichtet
Hämisch grinst die Herrschaft
Weil sie nun nichts mehr fürchtet
Danke, ihr Schlucker
Arme Schlucker
Schluckt leise weiter
Und stört uns nicht
Nie ist ein Chor verlässlich
Selbst wenn die Zungen so tun
Für Stimmung unerlässlich
Schwenkt er aufs Herrschende um
Der Chor schlägt aufs Ohr!
Danke, ihr Schlucker
Arme Schlucker
Dass ihr die Frage nicht stellt
Die einen sind reich
Die andern sind arm
Doch die Revolte zerschellt
Hämisch grinst die Herrschaft
Weil sie euch uneins erblickt
Danke, ihr Schlucker
Arme Schlucker
Sprecht leise weiter
Wir hörn euch nicht
Der Chor schlägt aufs Ohr!
Danke, ihr Armen
Kein Erbarmen
Dass ihr die Ärmeren quält
Die Erde ist groß
Und groß ist die Not
Nur, eure Hilfe entfällt
Hämisch grinst die Herrschaft
Weil sich ihr Geld stets vermehrt
Danke, ihr Schlucker
Arme Schlucker
Spart leise weiter
Und klimpert nicht
Nie ist ein Chor verlässlich
Selbst wenn die Zungen so tun
Für Stimmung unerlässlich
Schwenkt er aufs Herrschende um
Der Chor schlägt aufs Ohr!
Aufs Ohr!
Aufs Ohr!
© 2018 by Ralph Hammerthaler
Der Autor dankt Rudi Schmidt für mäzenatische Unterstützung sowie Marielle Sterra und Dennis Depta von Glanz & Krawall für anregende Gespräche.