Erster Teil. Die Vormoderne. IV. Das Widersprüchliche der Dinge
Verkehrungsrituale in Afrika und Amerika
von Joachim Fiebach
Erschienen in: Welt Theater Geschichte – Eine Kulturgeschichte des Theatralen (05/2015)
Assoziationen: Afrika
Die Gogo in Tansania lebten als Ackerbauern und Viehzüchter in voneinander weitgehend unabhängigen Großfamilien und Hauswirtschaften. Einzig einem Ältestenrat wurde umgrenzte, nur für einige rituelle Zwecke ausgeübte Autorität über die inneren Belange der Großfamilien hinaus zugestanden. Es gab allerdings eine wesentliche soziale Differenz – die zwischen den Geschlechtern. Die Frau hatte eine verhältnismäßig niedrige Stellung, untermauert durch Arbeitsteilung und das patriarchalische Abstammungs- und Führungssystem der Linien. Ihre Tätigkeitsbereiche waren Haus und Feld, während die Männer das im Wertgefüge hochstehende Vieh warteten. Frauen erschienen als ewige Untergeordnete. Allerdings war die Trennungslinie nicht absolut fest. Auch Frauen konnten bedingt mit Vieh umgehen. Die unterschiedliche Stellung der Geschlechter war ein Ansatzpunkt für die Behandlung existenzieller Krisen. Waren Gesundheit und Produktionsfähigkeit von Menschen und Haustieren, daher die Existenz der Gemeinschaft, ernsthaft bedroht, inszenierte man Chaos, um die Katastrophe zu negieren. Normalität wurde zerstört, um Zerstörung zu verhindern, Krise und Katastrophe positiv zu wenden und die Produktion weiter zu sichern.
Häufigster Anlass war eine Rinderkrankheit. Die Symptome sind gut erkennbar. Als gefährlicher ritualer Zustand begriffen, als äußerste Krise, müssen im Fall einer Katastrophe wie der Rinderkrankheit normale Tätigkeiten verkehrt werden, um den „normalen“ Zustand wieder herzustellen. Die Männer selbst ersuchen die Frauen, das Vieh zu warten. Die Frauen müssen für „die Rinder tanzen“. Der Rollentausch erscheint als eine gewaltsame Aktion; es ist ein Krieg, ein äußerster Krisenzustand. Die Männer gehen zu den Frauen und bitten sie, das Ritual durchzuführen, der erste Hinweis ihrer ausdrücklichen Zustimmung für die passive Rolle, die sie während der Zeremonie spielen, und die Frauen legen die Tanzglocken der Männer an, tragen Messer, mit Glasperlen besetzte Gürtel und Speere, Stöcke und Macheten, und sie binden ihre Kleider nach Männerart, über der rechten Schulter verknotet, die linke Schulter frei lassend. Als Männer angezogen treiben die Frauen das Vieh auf die Weiden im Busch, sehr geräuschvoll und mit Gesang, und die Männer bleiben in ihren Gehöften.
Viehhüten war die normale Arbeit der Männer. Begegneten die Frauen einem jungen Mann mit einer Herde aus einem Gehöft, das nicht von der Krankheit betroffen war, griffen sie ihn an, trieben ihn fort und gliederten seine Herde der ihrigen ein. Viehraub war der Hauptanlass kriegerischer Aggression in der Gogo-Gesellschaft. Wenn die Frauen das Vieh abends zu den Gehöften zurücktrieben, demonstrierten sie ein stilisiert aggressives Verhalten. Mit ihren Weideruten attackierten sie herumstehende Männer, die über die Unfähigkeit der Frauen spotteten, das Vieh sachgemäß zu betreuen. Dann besuchten die Frauen alle Gehöfte, die von der Krankheit befallen worden waren. Sie erhielten ein Gericht, das als besonders schmackhaft und daher als außergewöhnlich galt. Das Mahl wurde von alten Frauen zubereitet und den Frauen außerhalb der Gehöfte hingestellt, wo sie es auch verzehrten. Normalerweise aß man innerhalb der Gehöfte – also wiederum eine besondere symbolische Aktion. Während des ganzen Rituals betonten die Frauen das Ungewöhnliche, das Außer-Ordentliche, ihre „männliche“ Aggressivität, ihrem normalen Verhalten und den Idealen der Gogo von Weiblichkeit entgegengesetzt.
Der bewusst hergestellte Zustand der Un-Ordnung wurde schließlich entsprechend verabschiedet. Am Schluss der Verkehrung tanzten und sangen die Frauen den „Zustand“ in einen Sumpf an der Westseite der Gehöfte. Der Westen war assoziiert mit Tod, Dunkelheit, Hexerei und bösen Geistern, also mit Unproduktivität, mit dem Bedrohlichen und Krisenhaften. Die inszenierte Unordnung wurde in den imaginierten Raum der Unordnung geworfen. Er konnte als solcher gedacht werden, da der Westen aufgrund widriger Windverhältnisse produktionstechnisch ein sehr ungünstiger Ort für Ackerbau und Viehzucht war.297
Die theatrale Verkehrung enthüllte das wirkliche Machtverhältnis. Sie zeugte auch von einem gleichsam raffinierten (dialektischen) Denken der Dinge. Die ritualisierte, zeitlich begrenzte Machtergreifung der Frauen, in der normalen Ordnung sozial zweitrangige, in einer wesentlichen Hinsicht (politisch) unterdrückte Menschen, bedeutete, ja war handgreifliche Unordnung, sie wurde dennoch bewusst herbeigeführt, um eben dem Chaos zu entgehen und damit Ordnung (Überleben) zu sichern. Solche Negation der Negation weist auf eine Haltung, die das Widersprüchliche in den Dingen selbst zu behandeln suchte. Das wird unterstrichen durch das besonders köstliche Mahl, Zeichen des Festlichen, des Ersehnten, das die Frauen im Westen, im Raum der Feindseligkeiten und des Schlechten, Bedrohlichen verzehren. Der Ort des Negativen, des Unproduktiven wie der Krisenzustand überhaupt konnte, diesem Denken gemäß, auch produktive Möglichkeiten enthalten.
Dem ähnlich sollten Katsina-Praktiken offensichtlich Krisen bzw. Störungen produktiven, friedlichen Lebens (Arbeitens) durch Produzieren („Inszenieren“) von Krisen, Störungen beheben.298 Hopi meint nach Charles Adam übersetzt „gutes Benehmen“, Sich-Verhalten im Sinne der gemeinschaftlichen sozialen und kulturellen Werte. Alle Elemente der Pueblo-Kultur seien orchestriert. „Wenn jedoch ein größerer Stress oder Wechsel das kulturelle Equilibrium bedrohe, müssen außergewöhnliche Anpassungen vorgenommen werden, um das Equilibrium wieder herzustellen. Der Katsina-Kult entwickelte sich oder kristallisierte sich zumindest als Resultat von Versuchen, auf eine Unordnung zu reagieren.“299
Tieropfer, wohl auch Menschenopfer, könnten ursprünglich theatrale Akte für die Bewältigung von Krisen gewesen sein, ein gleichsam doppeldeutiges Vernichten oder anders einer Negation der Negation. Töten, Zerstören erschienen als Schritte, die Katastrophen und Tod abwenden, Leben und Produktivität gewinnen und sichern. Der Tod wurde als untrennbares Moment und in dieser Eigenschaft als Garant von Leben gedacht. So etwa wurde dies in den Opferfesten der Dinka (östliches Afrika) aufgefasst, bei denen man einen Stier, einen Ochsen und Ziegen in großer Ausgelassenheit schlachtete. Ein Opfer oder eine kollektive Zeremonie nennt man in Dinka yair, angemessen mit Fest zu übersetzen. An einer solchen Zeremonie teilzunehmen oder sie durchzuführen nennt man ein Fest „essen“ (cam). Das ist nicht unbedingt buchstäblich zu nehmen, da das Essen und das Trinken, die Opferzeremonien begleiten, nur ein Teil der Feier eines freudigen Anlasses sind. Obwohl der Anlass traurig sein mag, etwa die ernste Krankheit eines Verwandten, wird die Zeremonie von den Dinka als eine wesentlich glückliche betrachtet, und sie benehmen sich bei solchen Zeremonien, als ob sie sich wohl fühlten. Jedes Opfer hat eine festliche Atmosphäre. Ein Opfer für das Leben, was die Dinka letztendlich suchen, ist auch eine Demonstration von Feindseligkeit und Stärke gegen alle Feinde des Lebens. Daher bedeutet der Ausdruck cam yai „ein Fest oder ein Opfer machen“ oft auch Krieg.300
Zentrale Performances, die ideologische oder/und instrumentell politische Komponenten bestehender Herrschaftsgefüge feierten und so legitimierten, konnten zugleich auch Akte des ihnen „Anderen“, ja Gegensätzlichen vollziehen.301 Der Tag der Unteren im Odwira der Ashanti verkehrte karnevalesk die durch die Allmacht des/der Herrschenden gesetzte „normale“ Ordnung. Ähnliches geschah während ihres achttägigen Apo-Festes. Der Niederländer Willem Bosman hatte schon 1705 geschrieben, das Fest sei von der „Freiheit des Spottes begleitet“. In diesem Zeitraum sei der Spielraum für alle Ashanti so weit, „daß sie frei über alle Fehler, Schurkereien und Betrügereien ihrer Oberen sowohl wie der Unteren singen dürfen ohne Bestrafung, oder wenigstens mit kaum einem Eingriff. Der einzige Weg, ihre Münder zu stopfen, ist, sie ausgiebig mit Getränken zu versorgen, was den Ton ihrer Balladen sofort verändert und ihre satirischen Balladen in Preisgesänge auf die guten Qualitäten derer verwandelt, die sie so nobel bewirten.“ Die Verkehrung des Normalen, der realen sozialen Rollen vollzog sich als wesentliches Element eines offiziellen Festivals, das der lokalen Gottheit der Herrschenden gewidmet war und das Hohepriester, wichtige Funktionäre des Herrschaftsapparats, leiteten. Die Lizenz schloss ausdrücklich satirische Angriffe auf gegenwärtige und verstorbene Könige ein, wie Robert Sutherland Rattray Anfang des 20. Jahrhunderts beobachtete. Frauen rannten in Sprungschritten die Straßen auf und ab und sangen: „Der Gott, Ta Kese, sagt, wir sollen sprechen, wenn wir etwas zu sagen haben / Denn so befreien wir unsere Nation von Unglück. / Dein Kopf ist sehr groß. / Und wir nehmen den Sieg aus deiner Hand fort. / Oh König, du bist ein Narr. Wir nehmen dir den Sieg, aus deinen Händen. Oh König, du bist impotent. / Wir nehmen dir den Sieg weg aus deinen Händen.“302
297Peter Rigby: „Some Gogo Rituals of ‚Purification‘: an essay on Social and Moral Categories“, in: E. R. Leach (Hg.): DIALECTIC IN PRACTICAL RELIGION, London/New York 1968.
298E. Charles Adams: THE ORIGIN AND DEVELOPMENT OF THE PUEBLO KATSINA CULT, Tucson 1991, S. 150f.
299Ebd., S 12. Der Katsina-Kult gebrauche viele Methoden, um Abweichung von der Norm zu reduzieren, einschließlich der Kritik der Clowns während öffentlicher Zeremonien, S. 158f. Siehe auch Johann W. Kealiinohomoku: „The Drama of the Hopi Orgres“, in: Charlotte J. Friesbie (Hg.): Southeastern Indian Ritual Drama, Albuquerque 1990, S. 58.
300Godfrey Lienhardt: DIVINITY AND EXPERIENCE: THE RELIGION OF THE DINKA, Oxford 1961, S. 281.
301Jean Comaroff/John Comaroff: „The creative power of ritual, in other words, arises from the fact that (i) it exists in continuing tension with more mundane modes of action, of producing and communicating meanings and values, (ii) its constituent signs are ever open to the accumulation of new associations and referents; and (iii) it has the capacity to act in diverse ways on a contradictory world.“ Jean Comaroff/John Comaroff (Hg.): MODERNITY AND ITS MALCONTENTS. RITUAL AND POWER IN POSTCOLONIAL AFRICA, Chicago 1993, S. XXI.
302Robert Sutherland Rattray: ASHANTI, Oxford 1923, S. 109.