Thema: Die Schaustörer – Spiel und Widerstand
Late-Night-Solo
Ein Mann, alle Rollen – Der Schauspieler Philipp Hochmair
Erschienen in: Theater der Zeit: Philipp Hochmair: Ein Mann, alle Rollen (11/2013)
Assoziationen: Akteure Philipp Hochmair
Es ist 20 Uhr, 5 Minuten und 40 Sekunden. Die Zeit läuft. Die Zeit rennt. Unaufhörlich jagen die Sekunden dahin, 41, 42. Rhythmus der Uhr, Rhythmus des Lebens. Ein Beat, der uns mitreißt, dunkel und wummernd. Plötzlich ein Spot, Auftritt: der Mensch. Lässig in Lederhose, die Hand zum Gruß erhoben. Wir sind jung, ja: „Young, young, young! And we dance until we see the sun.“ Bassdrum. Gitarren. Das Leben – ein Spiel. It’s show time. Und wir? Sind unsere eigenen Protagonisten. Soloperformer wie dieser Typ, der da breitbeinig auf der Bühne steht. Gestalter unseres Auftritts. Immer neu. Immer anders. Geschäftsmann. Liebhaber. Bediensteter. Mutter. Was kostet die Welt? Wir haben alle Rollen im Repertoire. Können jedermann sein. Jeder Mann, jede Frau. Jederzeit jemand anders. Wirklich zu jeder Zeit? – Es ist 20 Uhr, 10 Minuten und 30 Sekunden. Kalt und präzis sitzt uns die Digitaluhr im Nacken. Das Leben rast dahin. Es ist angezählt.
Eine müde Nachmittagsträgheit hängt über Kreuzberg. Am Kottbusser Tor trifft sich die Welt. Arme, Reiche, Amerikaner, Türken, Punks und Schnösel schlurfen vorbei. Ein Jedermannskiez. Nur irgendwie anders als in Bastian Krafts Inszenierung des „Jedermann“ in Salzburg. Weniger Spiel. Weniger Show. Doch stimmt das überhaupt? Philipp Hochmair, der rasendste aller rasenden Schauspieler – heute Berlin, morgen Hamburg, übermorgen Wien –, ist gerade aus Köln angereist. Von einem Auftritt bei Harald Schmidt. Noch so ein Solospieler: Deutschlands Chefsatiriker und „Superperformer“ (Pollesch). Ob ihm das Angst mache? „Was?“ Dessen Scharfzüngigkeit? „Ja klar!“ Aber Harald Schmidt sei von Anfang an auch sein Held gewesen. Sein „Werther“, eines seiner ersten Soloprogramme, inszeniert von Nicolas Stemann, das bis heute im Repertoire ist, sei ganz klar an Formaten wie der Harald- Schmidt-Show orientiert. Schnelle Schnitte, ein paar Gags. Ein Mann, alle Rollen. Ein Selbstmordexzess als Late-Night-Solo?
Die erste Liebe als Gefühlsgewitter. „Ich lebe so glückliche Tage, wie sie Gott seinen Heiligen ausspart!“ Philipp Hochmair als Werther mit so glühendem Ernst, wie nur die erste Liebe ernst glühen kann. Nackter Oberkörper vor Mikro, Lou Reeds „Perfect Day“ aus den Boxen. Ich sitze im Thalia Theater, umzingelt von Abiturientinnen, und habe das seltsame Gefühl, wie ich so zuschaue und Notizen machen, es könnte aussehen, als schriebe ich in mein Tagebuch. „Liebes Tagebuch, heute habe ich Philipp Hochmair als Werther gesehen. Kreisch!“
Ein Mädel kreischt wirklich, als Hochmair zum dritten Mal von hinten aus dem Foyer wieder auf die Bühne gestürmt kommt. Öder Schulstoff? Von wegen. Ian Curtis, Kurt Cobain – all die zu früh verstorbenen Rockstars, all diese Stellvertretertode in der Musik. You don’t know what love is / Until you’ve learned the meaning of the blues. Aber geht das auch weniger? Schwer zu sagen. Philipp Hochmair, könnte man’s versuchen, ist ein Extremschauspieler. Einer, der mit so extrem unterschiedlichen Leuten gearbeitet hat wie Klaus Maria Brandauer (bei dem er am Max Reinhardt Seminar studierte) und Nicolas Stemann (den er dort kennenlernte). Einer, der extrem lange Proben durchsteht (Stemann sperrte seine Protagonisten für seinen „Faust“-Marathon zehn Monate auf der Probebühne ein). Der extrem früh, mit 35, in die „Hall of Fame“ des Burgtheaters aufgenommen wurde – in Form einer extrem, nun ja, seltsam proportionierten Statue des Künstlers Fabian Fink. Und einer, der absolut bedingungslos spielt. Ein Spielwütiger bis zum Absturz. Ein Gefahrensucher. Dabei unzweifelhaft ernst. Voll rein ins Spiel. Aber nicht ohne Irritationen. Was auch heißt: Im Extremfall spielt er einfach alle Rollen eines Stückes selbst.
Philipp Hochmair steht tatsächlich gern allein auf der Bühne, während Figuren, Charaktere, Rollen in wahnwitziger Geschwindigkeit durch ihn hindurchrauschen. Werther, Lotte, Albert. Karl Roßmann, der reiche Onkel, der Schiffsheizer („Amerika“, Regie Bastian Kraft). Und neulich, im Sommer bei den Salzburger Festspielen und seit Oktober am Thalia Theater Hamburg, Jedermann, die Buhlschaft, der Knecht, die Mutter, die zwei Vetter sowieso, Tod, Teufel, Mammon und Gott. Die Welt als One-Man-Show, einzig begleitet von der amerikanischen Sängerin Simonne Jones. Das klingt ein bisschen egozentrisch. So als könne dieser Jedermann ein „Ensemble“ neben sich nicht aushalten. Zumal dieser Rollentauschrausch auch noch andere Assoziationen weckt. Auf eine Gesellschaft verweist, in der mit fast karnevaleskem Eifer die Suche nach dem angeblich authentischen Selbst paradoxerweise zu immer mehr Rollen, immer mehr Identitäten führt, die wir anziehen und ablegen wie Klamotten. Bloß anders sein als die Norm! Potenziert durch die Möglichkeiten des Internets. Ein bohrender Blick auf der anderen Seite des Tisches. „Soso.“ Soso. Dieser Blick lässt einen stolpern, gerät man in seinen Fokus. Ein Eisblick aus hitzig-blauen Augen, der jedes Palaver im Keim erstickt. Am Anfang war das Wort? Schmonzes! Die Tat! Und so kommt auch Faust nicht weit, als er, in seinem Studierzimmer sitzend, über Liebe und Vernunft räsoniert. Auftritt Mephisto: Philipp Hochmair, der quietschend einen Tisch vor sich her schiebt. Ein Geräusch, das ausgerechnet das Wort „Hoffnung“ malträtiert. Schwitzend hatte sich Sebastian Rudolph in Nicolas Stemanns „Faust“-Marathon da schon eine Stunde lang an den kompliziertesten Fragen der menschlichen Existenz abgearbeitet. Und nun das: dieser Kerl, der da so nassforsch reingequietscht kommt und frech zu ihm herüberschielt. Ein Blick wie kurz vorm Absprung. Hoffnung? Soso. Woll’n wir doch mal sehen.
Philipp Hochmair hat andere Gründe, warum die Soloperformance für ihn so wichtig ist: Er stört gern. Das Theatersystem, in dem man per se nicht so wild sein darf. Den Apparat, den man anzünden muss. Und das gehe als Soloperformer tausendmal besser als eingebunden in ein Verabredungskorsett. Zündeln. Wie Harald Schmidt. Mephisto, der Feuerteufel. Und – fummmppp! – kokelt das Stadttheater an einer Ecke. Es geht auch anders, vor allem aber: flexibler. „Bis eine Inszenierung wie ,Faust‘ mal auf Reisen ist!“, sagt Hochmair. „Die Kosten und das ganze Personal!“ Mit seinem „Werther“-Koffer sei er in der ganzen Welt unterwegs, Klassenzimmer, Hinterhöfe, über 1500 Vorstellungen. In dem Koffer ist das ganze Stück drin. Ein Freund fährt die Technik. Ist keine Leinwand da, benutzen sie eine Hauswand. Fertig. „Am Stadttheater ist es schon kompliziert, will man mal ein Lichtzeichen ändern.“
Fummmppp! Nächste Ecke: Die Reduktion der Mittel führt automatisch zu abstrakten Rollen. Rote Ohren für den Riesen; spricht der Erzähler, Ohren schnell runter; aus dem Koffer wachsen die Bäume; und die Kinder kommen aus dem Kostüm. So spielte der gebürtige Wiener bereits vor der Schauspielschule in einer Bibliothek den „Selbstsüchtigen Riesen“ von Oscar Wilde für Kinder. Ein Spiel zwischen Kindertheater und Postdramatik. Ein Spiel, das als Spiel kenntlich ist. So etwas sorgt teils für Irritationen in größeren Gruppen. Im „Gestiefelten Kater“ am Thalia Theater, erzählt er, wurde er mal bei den Proben für seinen so katzengleich angelegten Schulterschwung gelobt. „Aber das interessiert mich überhaupt nicht. Mich interessiert ein Universum, eine Energie. Ich kam mir da eher als Störer vor. Der Kater als Mephisto für Kinder, der als Mitglied dieses Vereins eben stört.“ Dieser Verein – das könnte man dann auch gesellschaftlich denken. Peter Kümmel schrieb neulich in der Zeit über einen anderen Störer: Hamlet (in der Inszenierung von Andrea Breth). Hamlet, so Kümmel, spiele den Irren. „Er durchschaut alle Menschen, indem er sich selbst verstellt und sie zum Mitspielen zwingt. Seine Ermittlungen ergeben: Sie sind Hüllenhöflinge, Masken, hinter denen kein Gesicht ist.“ Hamlet als Vice-Figur. Mephisto als Spielemacher. Doch ist der Spieler, so Kümmel, in diesem Spiel eben auch allein. Ein Late-Night-Solo.
Solo mit Bär
„Du lügst.“ Diese Karte stand wohl nur zufällig in der Garderobe, als sich Philipp Hochmair und Walter Saabel das erste Mal im Theater trafen. Der Schauspieler und der Bärenkämpfer. Der Textringer und der Lebensherausforderer. Der Theaterjunkie und der Theaterneuling. „Ich war noch nie im Theater“, sagt Walter. – „Echt nicht?!?“, wundert sich Philipp. Zwei Welten, die aufeinanderprallen. Davon erzählt „Der Glanz des Tages“, ein semidokumentarischer Film von Rainer Frimmel und Tizza Covis, bei dem die einzige Fiktion – abgesehen von der Manipulation durch den Schnitt – die konstruierte Verwandtschaft zwischen beiden ist: Walter, so die Vorgabe, ist Philipps unbekannter Onkel. Ansonsten hieß es: Kamera drauf und los. Ein Zusammenprall, bei dem Funken sprühen. Walter Saabel ist kein Schauspieler. Das merkt man gleich im ersten Bild: kräftiger Körper, graues Haar, hinten etwas länger, und ein Schnauzer im Gesicht. Ein guter Typ irgendwie. Einer, von dem René Pollesch sagen würde, er sei konkret, müsste nicht darüber reden, wer er ist. Er ist Zirkusartist, also Lebenskünstler und damit Lebenskämpfer. Eine Dostojewski’sche Figur im existenziellen Sinne. In einer Szene erzählt er Philipp, wie der Bär, weil er auf eine Zigarette trat, ihn vor Schreck halb aufschlitzte. Und da wird Theater auf einmal ganz blass. Kunstblut gegen echtes Blut. Ist das fair?
Theater heißt Leben auf Probe. Wirklichkeitsspiele. Möglichkeitsräume. Das ist seine große Chance. „Aber irgendwie“, sagt Philipp Hochmair, „habe ich mein Leben vor diesem Film lichtvoller wahrgenommen. Dass ich ein sehr gehetzter Mensch bin, der nicht stehen bleibt und wie süchtig von einem Text zum nächsten rennt und nur da seinen Frieden findet, war mir nicht bewusst.“ Aber ist es nicht auch das? Der Text, die Rolle, diese „emotionalen Muskeln“, wie Hochmair sie nennt, die man sich so antrainieren kann? Dieses Sich-etwas-Zutrauen – das Gefühl, den Streit, die Gedanken –, ohne es zu machen (O-Ton Brandauer)? Dieser Schutzanzug, um all die „komischen Verabredungen im Alltag“ durchzustehen? „Ich nehme mich tatsächlich als relativ identitätslos wahr“, erklärt Philipp Hochmair geradeheraus. Walter, auf die recht flache Statue aus dem Burgtheater deutend: „Das ist dein Ego? Da hast du aber ein echt flaches Ego.“ Das könnte die Diagnose einer Generation sein. Alles ist möglich. Und damit nichts. Totale Blockade. Lauter Masken. Und dahinter? Suchende. Bastian Kraft, auch so ein Suchender in Sachen Identität, hatte mit Philipp Hochmair 2009 Kafkas „Amerika“ eingerichtet. Das Stück spielte in einer Box, nicht größer als eine Telefonzelle, die bis auf die Front komplett verspiegelt war. Ein Spiegellabyrinth für ein multiples Ich: rechts, links, geradeaus, überall Karl Roßmann, 17-jährig, heimatlos, still, fast schüchtern. Auf dem Weg nach Amerika. Wo alles möglich sein soll. Und damit nichts möglich ist. Bis er beginnt, mit den Möglichkeiten zu spielen. Im Naturtheater von Oklahoma, dem größten Theater der Welt.
„Die Fiktion muss aufrechterhalten werden.“ Dieser Satz stammt von René Pollesch aus seinem neuesten Stück „Glanz und Elend der Kurtisanen“ (siehe auch Stückabdruck ab S. 48). Damit die Gesellschaft beweglich bleibt – als Gesellschaft! Und nicht jeder in sich selbst versinkt. Philipp Hochmair betreibt diese Aufforderung extrem. Kollegen sahen ihn barfuß und mit blutunterlaufenen Augen als Mephisto durch Avignon laufen. Bei einem Galerieempfang mit Bianca Jagger war er Jedermann im glitzernden Kostüm. Das Kostüm in den Alltag mitzunehmen, die Rolle aus dem Rahmen fallen zu lassen, dieses Ausloten der Grenzen interessiert Philipp Hochmair total. Im Frühjahr wollte er sich deshalb auch Signas „Club Inferno“ an der Volksbühne anschauen. Eine Lebenssimulation in Echtzeit, doch an der Tür war erst mal Schluss. Zu spät. Kein Einlass. Also randalierte er ein bisschen herum. Ein echter Club, ein wenig Zoff – „Ich kenne die Leute von Signa und dachte, die Einlassschranke gehöre zum Spiel.“ So klaute er schließlich als „Geisel“ das Schild an der Tür zum Inferno, machte Fotos, er vermummt: Lasst mich rein oder dem Schild geht’s schlecht. Bei den Spielern von Signa war da jedoch längst das Spiel vorbei. Sie riefen die Polizei. Irgendwie entlarvend.
Es ist 21 Uhr, 40 Minuten und 55 Sekunden. „Ich glaube, dass ich glaube. Ich glaube das doch alles. Ich glaube, dass ich glaube.“ Doch woran glaubt dieser Jedermann wohl heute? „An seine Einsamkeit“, sagt Philipp Hochmair. „Denn eine Autorität gibt es nicht. Die muss er in sich selber finden. Das ist das Romantische an dem Abend. Oder das Traumhafte: Er darf in Frieden sterben. “ Ja, der Tod. Auch dies: ein Late-Night-Solo. //