Theater der Zeit

Strahlkräfte

Ein Vorwort

von Christel Weiler, Clemens Risi und Jens Roselt

Erschienen in: Recherchen 54: Strahlkräfte – Festschrift für Erika Fischer-Lichte (06/2008)

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Im Theater werden Stars über Nacht geboren. Unerwartet erscheinen sie auf der Bühne, und ob man sie nun bewundert, verehrt oder hasst, verändert ihr Auftritt schlagartig die Szene. In der Wissenschaft hingegen wird Talenten zumeist eine jahrelange beharrliche Geistes- und Gremienarbeit abverlangt, bis sie sich einen Namen gemacht haben. Dennoch markiert das Jahr 1983 für die Theaterwissenschaft einen entscheidenden Einschnitt. Die Semiotik des Theaters war nämlich erschienen, und mit dieser Publikation hatte sich eine Stimme zu Wort gemeldet, der seither ein Ruf wie Donnerhall vorauseilt. Eine Protagonistin war auf der Bühne der Theaterwissenschaft aufgetaucht, mit der in der Szene niemand gerechnet hatte: Erika Fischer-Lichte.
Dabei sind die drei Bände der Semiotik wirklich nicht schön. Von außen strahlen die Bücher auch noch in der 4. Auflage von 1999 den unerotischen Charme von Schulbüchern der späten siebziger Jahre aus. Ihr Einband ist schnell abgegriffen, und die Verleimung der Seiten scheint ein nachhaltiges Studium der Schrift gar nicht vorzusehen. Doch sie hat es in sich. Denn mit der Semiotik war die Autorin nicht nur in eine Theoriedebatte eingestiegen, sondern sie hatte hierzulande vielmehr erst einen Diskurs darüber provoziert, was die Theorie und Methode der Theaterwissenschaft eigentlich sei. Mit der Frage nach der Selbstdefinition und Eigenständigkeit der Disziplin, die ein Leitmotiv ihrer Forschungen werden sollte, schloss sie an die Gründungsintentionen des Faches von Max Herrmann in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts an. Die Profilierung der Theaterwissenschaft ging in den folgenden mehr als 25 Jahren vom Bezug zur Semiotik oder aber der Abgrenzung von ihr aus. So spröde und sachlich die Schrift auf den ersten Blick wirkt, macht sie doch unmissverständlich klar, was die Sache der Theaterwissenschaft sein soll. Die dreibändige Anlage des Werks kennzeichnet die akademische Trinität, der Erika Fischer-Lichte nicht nur in ihren eigenen Forschungen nachgeht, sondern die auch in den von ihr verantworteten Studiengängen an den Universitäten in Mainz und Berlin verankert ist: Theorie, Geschichte, Analyse. Die Theorie muss die Theaterwissenschaft anschlussfähig für Debatten außerhalb der eigenen Disziplin machen. Dabei hat das Theater immer als das Theater einer bestimmten Zeit und Kultur zu gelten. Um aber das Theater der eigenen Zeit zu verstehen, müssen schließlich konkrete methodische Verfahren der Aufführungsanalyse entwickelt werden. Der Blick über den theoretischen, historischen, kulturellen und methodischen Tellerrand wird so als Kennzeichen - und nicht etwa als Handicap - theaterwissenschaftlicher Forschung ausgewiesen. Die Arbeiten von Erika Fischer-Lichte spannen denn auch einen weiten Bogen von der Beschäftigung mit Bedeutungstheorien über die Semiotik des Theaters zur Ästhetik des Performativen. Stationen dieser Laufbahn sind markiert durch Themen wie: Interkulturalität des Theaters, Theater als Paradigma der Moderne, Historiografie des Theaters, Theatralität als interdisziplinäre Kategorie, Körperinszenierungen, Theater als Fest, Inszenierungen der Antike, InterArt und zuletzt Verflechtungen von Theaterkulturen.

Obwohl Erika Fischer-Lichte so entscheidende theoretische Wegmarken des Theaters und seiner Wissenschaft gesetzt hat, zeichnet sich ihre Arbeit durch den pragmatischen, völlig unideologischen Umgang mit Theorien aus. Was man als Student und auch als Mitarbeiter von ihr lernt, ist, dass Theorie nicht eine Glaubensfrage ist, sondern ein (Hilfs-)Mittel zur Erkenntnis. Wo dieses versagt, ist nicht der Forschungsgegenstand zurechtzurücken, sondern die Theorie zu überprüfen, zu erweitern und ggf. zu ersetzen. Paradigmenwechsel sind in diesem Sinne kein akademischer Verrat, sondern eine Notwendigkeit für das Verstehen kultureller Transformationen und Dynamiken.

So zielstrebig der berufliche Werdegang von Erika Fischer-Lichte aussieht, scheint ihr Weg auf den ersten Blick keineswegs gradlinig zum Theater geführt zu haben. Sie hat zwar Theaterwissenschaft studiert, aber auch Slavistik, Germanistik, Philosophie, Psychologie und Erziehungswissenschaft. Ihr erstes Staatsexamen hat sie in Deutsch und Russisch abgelegt und danach 1972 in Slavistik promoviert. Nach dem zweiten Staatsexamen arbeitete sie als Studienrätin in Hamburg, bevor sie 1973 Professorin für Germanistik in Frankfurt wurde. Drei Jahre nachdem die Semiotik des Theaters bereits erschienen war, übernahm sie den Lehrstuhl für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft in Bayreuth und wurde 1990 Professorin für Theaterwissenschaft in Mainz, bevor sie 1996 in Berlin ankam. Doch »Ankommen« ist im Zusammenhang mit Erika Fischer-Lichte eine trügerische Vokabel, da ihre Ankunft immer zugleich ein Aufbruch ist. Wo sie ihre Zelte aufschlägt, werden nicht nur Studienordnungen und Institutsstrukturen umgekrempelt, sondern die Forschungslandschaft selbst neu bestellt. Die von ihr initiierten Forschergruppen, Graduiertenkollegs und Sonderforschungsbereiche haben die Forschungen innerhalb der Theaterwissenschaft vorangetrieben und zugleich den interdisziplinären Austausch provoziert. Dass Theaterwissenschaft heute als Disziplin im Kanon der Kulturwissenschaften nicht nur wahr-, sondern auch ernst genommen wird, ist ein Verdienst von Erika Fischer-Lichte.

Und doch steht am Anfang dieser beeindruckenden Karriere nicht die Wissenschaft, sondern das Theater. Als Siebzehnjährige hat Erika Fischer-Lichte auf der Bühne des Schauspielhauses in Hamburg einen Mann nicht nur gesehen, sondern erlebt, der sie bis heute immer wieder zur Beschäftigung anregt: Gustaf Gründgens. Sie war Dauergast in seinen Inszenierungen, als könne man die Flüchtigkeit von Aufführungen so doch irgendwie bannen. An den Proben zu Don Carlos hat sie selbst teilgenommen und kann seither Gründgens' Bewegungen und Betonungen präzise erinnern. Am Beginn ihrer Karriere steht damit jenes Ereignis, das das Theater und seine Wissenschaft genuin gemein haben: das Erlebnis des Zuschauens, wobei Faszination und Reflexion keine Gegensätze sind. Vielleicht hat sie damals bei Gründgens auch schon die Erkenntnis gewonnen, dass Hauptdarsteller - egal auf welcher Bühne des Lebens sie brillieren - einen entsprechenden Rahmen brauchen, um zur Geltung zu kommen. Nicht nur im Theater, sondern auch in der Wissenschaft gilt: Die Inszenierung muss stimmen, d. h. Raum, Zeit und Mitspieler müssen klug bedacht sein und aufeinander eingestimmt werden. Diese Möglichkeiten der Gestaltung, den jeweiligen Forschungsrahmen selbst zu setzen, hat sie frühzeitig genutzt. Dass dieses Forschungsmanagement nicht als quälender Ballast der Hochschullehre abgetan werden muss, sondern durch Engagement und Disziplin bei der Organisation von Forschung Innovationen ermöglicht werden, führt Erika Fischer-Lichte exemplarisch vor. Virtuos spielt sie dabei auf der Klaviatur der deutschen Forschungsbürokratie. Wer in den Institutionen und Behörden der akademischen Welt den Namen Fischer-Lichte auf dem Display seines Telefons sieht, weiß, dass er rangehen muss und sich auf etwas gefasst zu machen hat. Denn in diesen Gesprächen geht es nicht um den Austausch von Höflichkeiten, sondern um die Ausschreibung von Mitarbeiterstellen, die Schaffung neuer Professuren oder die Einrichtung ganzer Abteilungen. Von der Auswahl der Personen bis zur Entscheidung über den Bodenbelag im Hörsaal ist sie immer einen Schritt voraus. Sie treibt an, und Teil dieses Getriebes zu sein, ist für junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler eine Auszeichnung. Denn Erika Fischer-Lichte hat ihr Engagement für den Nachwuchs nie auf ein joviales Schulterklopfen reduziert, sondern vorgemacht, dass lobenden Worten auch Taten folgen müssen. Es geht um die Bereitstellung von Ressourcen, vor allem die Schaffung von Stellen. Als Disziplin hat Theaterwissenschaft nur dann eine Chance, wenn sich jungen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern konkrete berufliche Perspektiven in und mit diesem Fach eröffnen. »Gute Leute« frühzeitig - d. h. schon in Proseminaren - zu finden, sie zu fördern und zu fordern, ist für Erika Fischer-Lichte eine Aufgabe geworden, der sie trotz der dadurch notwendigen zeitraubenden Abfassung von Forschungsanträgen mit Enthusiasmus und Freude nachgeht.

Von den Strahlkräften dieses Wirkens haben die Autorinnen und Autoren, die diesen Band zum 65. Geburtstag von Erika Fischer-Lichte vorlegen, in vielfältiger Weise profitiert. Manche haben bei ihr studiert, andere promoviert oder habilitiert. Doch ob man sie nun als Student/Studentin, Mitarbeiter/Mitarbeiterin oder Kollege/Kollegin erlebt hat, immer war die Begegnung und Zusammenarbeit mit ihr ein wichtiger Einschnitt. Und das nicht nur, weil einen die Beschäftigung mit ihren Theorien weiterbrachte oder man von ihrem umfangreichen Wissen profitieren konnte, sondern weil sie einem gegeben hat, was in der Universität nicht selbstverständlich ist: Vertrauen und Zuversicht. Wer von den Strahlkräften dieses Wirkens erfasst wurde, musste nie den Eindruck haben, in ihrem Schatten zu stehen. Ganz in diesem Sinne haben die Autorinnen und Autoren des vorliegenden Buches die kritische Auseinandersetzung mit den Theorien und theaterwissenschaftlichen Wirkungsfeldern Erika Fischer-Lichtes zum Ausgangspunkt ihrer Beiträge gemacht. Methodische Ansätze werden aufgegriffen und weiterverfolgt oder kritisiert. Theoretische Modelle werden auf historische und aktuelle ästhetische Praktiken bezogen, um sie einer Revision zu unterziehen. Unter dem Titel »Strahlkräfte« sollen so auch die Halbwertszeiten von Theorien in den Blick geraten.

Wie ein roter Faden zieht sich der Gedanke durch die Forschungen von Erika Fischer-Lichte, dass Theater nicht ein Spezialfall der Kunst ist, sondern als Modell für kulturelle Vorgänge schlechthin gelten kann. Zur Eröffnung des Bandes greift Gabriele Brandstetter diesen Faden auf und spinnt ihn weiter, indem sie danach fragt, ob und wie Theater als Modell für allgemeine politische und soziale Dimensionen in der Begegnung von Kulturen gelten kann. Am Beispiel zweier zeitgenössischer Tanzperformances untersucht sie, wie im dialogischen Geschehen zwischen Tänzern und Performern Gemeinsamkeiten und Differenzen gestiftet und ausgehandelt werden, die von gegenseitigem Respekt zeugen. Der Bezug auf konkrete Aufführungen, ihre Beschreibung und Analyse, dient hier - wie in allen Beiträgen dieses Buches - nicht lediglich als Vehikel zur Illustration von Theorien, vielmehr gehen die Fragestellungen aus den Aufführungen hervor. Damit wird der Tatsache Rechnung getragen, dass ästhetische Praxis nicht zuletzt auch die theoretische Arbeit immer wieder auf die Probe stellt. Dass dies Konsequenzen für die Methode(n) der Aufführungsanalyse hat, wird in den folgenden drei Beiträgen erörtert. Christel Weiler zeichnet die Entstehungsgeschichte der Aufführungsanalyse nach und weist auf jene methodische Gretchenfrage hin, die sich für jede Auseinandersetzung mit Theater stellt: »Wie hältst du es mit dem Publikum?« Die Tatsache, dass Zuschauerinnen und Zuschauer konstitutiver Teil von Aufführungen sind, erweist sich in ihren Darlegungen jedoch nicht nur als zentrales Problem, sondern auch als große Chance der Aufführungsanalyse. Denn die Thematisierung von subjektiven Wahrnehmungen und Erfahrungen muss den Anspruch auf wissenschaftliche Objektivität nicht negieren, sondern kann ihn sogar erweitern, wenn nämlich kenntlich wird, wie sehr der »Gegenstand« der Untersuchung durch die Verfahren seiner Analyse mitbestimmt wird. Dabei zeigt sie, dass sich die Aufführungsanalyse seit dem Erscheinen der Semiotik des Theaters in einem steten Wandel befindet, der nicht akademischen Moden geschuldet ist, sondern mit den Veränderungen des zeitgenössischen Theaters selbst zu tun hat. Dieser Zeitlichkeit von Verstehensprozessen geht Jens Roselt nach. Am Beispiel einer aktuellen Inszenierung untersucht er das Verhältnis von Verstehen und Erfahren. Die Beschäftigung mit dieser Relation führt ihn zu einem frühen Text von Erika Fischer-Lichte, der Jahre vor der Semiotik erschienen ist. Der Flashback der Theorie eröffnet die Frage danach, wie viel Performativität in der Semiotik steckt. Diese beiden Begriffe bilden auch die theoretischen Wegmarken in dem Beitrag von Clemens Risi, der untersucht, wie die Methode der Aufführungsanalyse bei der Auseinandersetzung mit dem Musiktheater angewendet werden kann. Dabei zeigt er, dass der konkrete Auftritt eines Sängerdarstellers nicht nur das Publikum, sondern auch die Wissenschaft provozieren kann, und zwar aus demselben Grund. Denn die stimmliche und körperliche Erscheinung des Sängers auf der Bühne ist sowohl ein sinnvolles als auch ein sinnliches Ereignis. Wenn eine im Grunde alltägliche Wahrnehmungserfahrung im Theater ihre Selbstverständlichkeit verliert, muss das Verstehen selbst zum Thema werden. Wie Körper und Geist, Sinnlichkeit und Sinn dabei ineinanderspielen und sich wechselseitig bedingen, untersucht auch Doris Kolesch am Beispiel dreier zeitgenössischer Theater-, Tanz- und Performanceaufführungen. Sie zeigt, dass der Begriff der Verkörperung nicht nur eine Darstellungspraxis
des Theaters bezeichnet, sondern auch ein theoretisches Konzept benennt, das als Paradigma unterschiedliche kulturelle Prozesse zu verstehen hilft.

Was aus diesen theaterwissenschaftlichen Höhenflügen eigentlich wird, wenn sie auf dem harten Boden von Probebühnen landen, untersucht der Theaterregisseur Martin Pfaff in einem Zwischenruf aus der Praxis. In seinem Essay überprüft er das Klischee der Unvereinbarkeit von Theorie und Praxis und stellt dabei fest, dass Theaterstudium und Theaterarbeit Entscheidendes gemein haben. Hierzu zählen die Lust, kluge Fragen zu stellen, auf die es keine vorschnellen Antworten gibt, und die Fähigkeit, die eigene Wahrnehmung zu schulen und zu beschreiben.

Was Erika Fischer-Lichte mit Tilla Durieux und einem alten Koffer voller Tagebücher verbindet, enthüllt Dagmar Walach in ihrem Beitrag, der zeigt, wie aufregend Theatergeschichte sein kann. Dass dies nicht nur der Fall ist, wenn man den Geheimnissen von Heroinen auf der Spur ist, führen die folgenden zwei theaterhistoriografischen Beiträge vor. Friedemann Kreuder untersucht am Beispiel des Geistlichen Spiels der Frühen Neuzeit, wie die Spielräume auf den Marktplätzen erst durch die Handlungen der Akteure und Zuschauer konstituiert wurden. Der Gedanke, dass Räumlichkeit im Theater nicht nur durch geometrische Gegebenheiten bestimmt wird, sondern auch durch die Wahrnehmungen und Bewegungen der Teilnehmer einer Aufführung, ist ein zentraler Aspekt der Ästhetik des Performativen. Eine anhand des neueren Theaters entwickelte Theorie wird so auch für die Auseinandersetzung mit historischem Material nutzbar gemacht. Die Untersuchung eröffnet damit neue Möglichkeiten des Verstehens einer altbekannten Bühnenform wie der Simultanbühne, die manchem heutigen Betrachter auf den ersten Blick fremd anmuten mag. Umgekehrt kann dieser Perspektivenwechsel aber auch solche theatergeschichtlichen Phänomene in ein anderes Licht rücken, die einem bisher vertraut vorkamen. Das zeigt Robert Sollich anhand der skandalträchtigen Vorgänge um die französische Erstaufführung von Richard Wagners Tannhäuser 1861 in Paris. In den spontanen und vor allem den kalkulierten Störungen der Premiere durch die Zuschauer erkennt er eine eigene Art von Feedback, das nicht nur den Aktionsraum des Publikums erweitert, sondern auch die Dynamik des Theaters als soziales Spiel vor Augen führt. Der Theaterskandal erscheint so nicht als kuriose Nebensache der Rezeptionsgeschichte, sondern wird zum Indiz für die Struktur theatraler Kommunikation schlechthin. Nun muss nicht jede Aufführung zum Skandal werden, um ihre Performativität hervorzukehren und zu beweisen, dass im Theater gesellschaftliche Formierungen nicht nur ausgehandelt, sondern auch ausgetragen werden. Doch gerade das scheinbar Nebensächliche, Abseitige, Unwichtige oder Fremde herrschender Diskurse kann im Theater seinen Schauplatz finden. Diese Ausnahmen von der Regel untersucht Matthias Warstat, der nach der gesellschaftlichen Dimension von Theater fragt und die plakative Floskel vom Theater als Teil der Gesellschaft kritisch überprüft. Dabei wird kenntlich, dass Gemeinschaften im Theater nicht die Voraussetzung, sondern das Ergebnis theatraler Vorgänge sind. Aufführungen stiften Gemeinschaften, wie sie diese auch in Frage stellen oder zerstören können, wobei jene Aspekte wirkmächtig sind, die bei sozialen Aushandlungen generell gelten, wie Machtdiskurse oder Produktionsbedingungen. Dass sich in jüngster Zeit mit dem Internet eine neue Form von Gemeinschaft formiert, die nur im virtuellen Raum zusammenfindet, rückt Christian Horn in den Blickpunkt seines Aufsatzes. Er untersucht die Theatralität von Praktiken kollektiver Textproduktion und zeigt, dass das Internet einer Performativierung des traditionellen Textbegriffs Vorschub leistet. Die Tatsache, dass Produktion und Rezeption von Texten im Internet dynamisch verlaufen, stellt auch das konventionelle Verständnis von Autorschaft in Frage, nicht zuletzt wird so der Begriff der Repräsentation selbst tangiert. Von einem abgeschlossenen Werk kann schwerlich noch die Rede sein, wenn Texte permanent verändert und erweitert werden können, ohne dass einzelne Urheber identifizierbar wären. Dass diese Erosion des Werkbegriffs gerade durch die ästhetische Praxis vorexerziert wurde, macht Barbara Gronau deutlich. Anhand einer Performance aus den siebziger Jahren und einer zeitgenössischen Arbeit thematisiert sie Verausgabung als künstlerische Strategie. Dass so Begriffe wie Spannung, Energie, Überschuss oder Entladung für die Beschreibung von Kunst relevant werden, trägt der Tatsache Rechnung, dass sowohl die Handlungen von Performern als auch die Wahrnehmungen von Zuschauern sich als körperliche Erfahrungen vollziehen. Solche Erlebnisweisen können nicht mehr als affektive und subjektive Nebeneffekte der Rezeption abgetan werden, zumal Künstler es gegenwärtig verstärkt darauf anlegen, mit ihren Arbeiten konkrete raum-zeitliche Situationen zu schaffen, die eigentümliche Formen der Begegnung der Besucher untereinander ermöglichen. Längst kann man in Museen und Galerien, die sich sonst als Hort des Werkbegriffs verstanden, beobachten, dass Bildende Kunst auch einen Aufführungscharakter haben kann, der gerade in neueren Arbeiten explizit gestaltet wird. Sandra Umathum geht den Strategien der prozessorientierten und publikumsaktivierenden Ausstellungskunst am Beispiel einer zeitgenössischen Arbeit nach. Sie zeigt, dass diese Praktiken sich nicht darin erschöpfen, konventionelle und tradierte Rezeptionsweisen zu erschüttern, um die Rezipienten zu irritieren, vielmehr werden die Betrachter moderat in einen klar durchschaubaren Zusammenhang eingebunden, etwa indem sie zu einfachen Handlungen eingeladen werden. Gerade derartige partizipative Projekte machen deutlich, dass theaterwissenschaftliche Begriffe und Theorien gewinnbringend für kunstwissenschaftliche Untersuchungen herangezogen werden können. Diesen Blick über die Grenze der eigenen Disziplin riskiert - freilich in umgekehrter Richtung - auch Dorothea von Hantelmann. Die Kunstwissenschaftlerin geht in ihrem Beitrag zurück auf die linguistische Bestimmung des Performativen durch John L. Austin, um zu entwickeln, wie die semantische und die phänomenale Ebene der Wirkung von Kunst miteinander verknüpft sind. Am Beispiel einer Arbeit aus den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts führt sie vor, dass die Betonung solch performativer Aspekte wie Wahrnehmung, Erfahrung und Erinnerung keineswegs die Bedeutungsdimension von Kunst bzw. ästhetischen Prozessen negieren sollte, vielmehr geht es um eine Neuperspektivierung des Semantischen selbst. Michael Gissenwehrer schließlich hat sich mit der elaborierten Theorie der Theaterwissenschaft auf den Gang durch die Instanzen des Organisationskomitees der Olympischen Spiele gemacht. Was davon übrig bleibt, wenn Performativität auf Bürokratie trifft und der freie Gedanke gegen ängstlichen Kleingeist steht, verrät sein ironischer Brief nach Peking.

Den längsten Beitrag dieses Buches allerdings stellt das Schriftenverzeichnis von Erika Fischer-Lichte dar, das den Abschluss des Bandes bildet. Dass die Titel und Themen der dort aufgelisteten Bücher und Aufsätze ebenso anregend sind wie die Beiträge der vorliegenden Festschrift, sollten die Leserinnen und Leser selbst überprüfen.

Vom Tanz bis zum Internet, vom Theorielabor bis zur Probebühne wollen die Strahlkräfte unterschiedliche Materialien erfassen und erhellen. Gemein ist diesen Forschungen der Ansatz, Theater vom flüchtigen Moment der Aufführung her zu verstehen und zu konzipieren. Dass die Aufführung damit als heuristische Kategorie gelten kann, die sowohl semiotische als auch performative Aspekte umfasst, ist der zentrale Gewinn, den die Auseinandersetzung mit den Schriften Erika Fischer-Lichtes verspricht. Den Autorinnen und Autoren sei für ihre Bereitschaft gedankt, die Spuren zu verfolgen, welche die Forschungen von Erika Fischer-Lichte in ihrem Denken hinterlassen haben. Dieser Dank schließt Elisabeth Hofmann, Sarah Ralfs, Cornelia Schmitz und Stephanie Schulze ein, die bei der Formatierung der Texte und der Einrichtung der Bibliografie akkurate Dienste geleistet haben.

Im nüchternen Sprachgebrauch der Universität hat sich unter den Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen Erika Fischer-Lichtes über Jahre ein Namenskürzel eingebürgert, das bei der Aussprache des zugegeben etwas umständlichen Nachnamens Zeit und Energie sparen hilft: »Fili«. Wer diese Abkürzung zum ersten Mal auf dem Institutsflur hört, stutzt nicht selten. Fili? - Was bedeutet das? Kommt das von »Philologie«? Hat das was mit »Philatelie« zu tun? Meint es »viel Literatur«? Oder heißt so nicht eine Figur aus »Biene Maja«? Dass die niedliche Bezeichnung »Fili« für Professor Dr. Dr. h. c. Erika Fischer-Lichte steht, mag manchem unpassend erscheinen, doch im Grunde drückt sie genau das aus, was ihre Arbeit und Persönlichkeit auszeichnet: Sie ist präzise und prägnant, effizient, sinnvoll, aber auch anregend, vielgestaltig und offen für neue Möglichkeiten des Verstehens. Diesen Eigenschaften fühlen sich die Autorinnen und Autoren der Strahlkräfte in Dankbarkeit verpflichtet.


Berlin, im Frühjahr 2008

Jens Roselt
Clemens Risi
Christel Weiler

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