Theater der Zeit

Auftritt

Kassel: Das Reich des Rausches

Staatstheater Kassel: „Intervention“ (UA) von Rebekka Kricheldorf. Regie Schirin Khodadadian, Ausstattung Ulrike Obermüller

von Joachim F. Tornau

Erschienen in: Theater der Zeit: Work, Bitch – Die Regisseurin Pınar Karabulut (03/2019)

Assoziationen: Staatstheater Kassel

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Man macht sich viel zu selten Gedanken darüber, wie eigentlich die Droge aussieht. Nicht eine spezielle Droge, sondern die Droge an sich: die Drahtzieherin, die hinter jeder Berauschung steckt, sozusagen. Ist sie anziehend oder abstoßend? Sympathisch oder unsympathisch? Trägt sie überhaupt ein Gesicht? Dank des Kasseler Staatstheaters wissen wir nun: Oh ja, das tut sie. Es ist das von Jürgen Wink.

Wink ist so etwas wie der stille Star des Theaters in der documenta-Stadt. Seit 15 Jahren gehört er zum Ensemble, und obwohl er sich mittlerweile schon nah ans Rentenalter herangespielt hat, sprüht ihm immer noch jugendlicher Schalk aus der zerfurchten Miene. Er kann frech, er kann albern, er kann nachdenklich, er kann zynisch. Und ohne dass er sich in den Vordergrund drängen müsste, ist da, wo er ist, das Zentrum. Mithin: eine Idealbesetzung, wenn es darum geht, der Idee der Droge ein Gesicht zu geben.

In Rebekka Kricheldorfs „Intervention“, der bereits siebten Auftragsarbeit der preisgekrönten Vielschreiberin für das Kasseler Staatstheater – von Schirin Khodadadian auf der Studiobühne zur Uraufführung gebracht –, hat die Droge ihren großen Auftritt. Erkundet wird das Reich des Rausches zwischen Betäubung, Erleuchtung und Ballermann, es geht um Sucht und Abhängigkeit und vor allem: ums Trinken. Kricheldorf, eine Theaterautorin mit Gespür für die absurden Abgründe unserer Gegenwart, spielt durch, was sie in Online-Anleitungen für sogenannte Interventionen bei Alkoholikern gefunden hat. Und das sind vor allem Ratschläge, wie Freunde und Verwandte einen Säufer mit seinem ­Problem konfrontieren und zum Entzug bewegen könnten. Sehr wohlmeinend, penibel durchchoreografiert und, in der Lesart von Kricheldorf, zum Scheitern verurteilt.

Annika (Michaela Klamminger) will ihre beste Freundin Lily (Rahel Weiss) vom Trinken abbringen; zur Unterstützung hat sie Lilys Schulfreundin, die psychisch kranke Poetin Frans (Anna-Sophie Fritz), und Lilys vor Jahren nach Goa ausgewanderte Hippie-Tante Marlene (Eva-Maria Keller) einbestellt. Doch das hohe Ross, auf dem sich das Trio gerne sähe, schrumpft schnell zum Zwergpony und löst sich schließlich ganz auf: Die Eine stellt ihren ADHS-Sohn mit Ritalin ruhig, die andere schluckt Antidepressiva und muss sich vor der Intervention erst einmal Mut antrinken, und die Dritte pflegt ihren Frust über das doch nicht so große Aussteigerinnenglück im Alkohol zu ersäufen.

Statt zu helfen, projizieren sie nur ihre eigenen geplatzten Lebensträume auf das Objekt ihrer Intervention. Am Ende sind alle sternhagelvoll, und es ist ausgerechnet Lily – von Rahel Weiss erfrischend direkt und ordinär gegeben –, die sich dabei den nüchternsten Blick bewahrt: Vom Leben will sie nicht mehr als ihre Ruhe und genügend Geld für die Miete und ein paar Drinks. „Willst du nicht dein Leben ändern? Von Grund auf?“ – „Hä? Nö. Warum?“

Für die rund zweistündige, pointierte Inszenierung, der man nur gelegentlich noch etwas mehr Drive und etwas mehr Vertrauen in den Witz der Kricheldorf’schen Screwball-Dialoge gewünscht hätte, hat Ulrike Ober­müller eine schlichte, helle Bühne von nur wenigen Metern Breite geschaffen. Zur Showbühne macht sie ein goldener Vorhang, umrahmt von sechzig Glühlampen, den die ­Droge für ihre kommentierenden Einwürfe auf- und zuzieht. In bizarren Verkleidungen, vom Glitzeranzug bis zum Krokodilskostüm, erzählt sie von sich und ihren verschiedenen Erscheinungsformen. Zeigt sich zerknirscht über das, was sie in einem Körper anrichten kann, und stolz auf das, was ihr die Kunst verdankt. Wehrt sich gegen „Verleumdungen“ und zitiert Paracelsus: „Allein die Dosis macht, dass ein Ding kein Gift ist.“ Am liebsten aber philosophiert die Droge über ihre wechselnde Wertschätzung, abhängig von Zeiten, Moden und Kulturen. Heroin wurde einst von Bayer erfunden, Kokain von Merck produziert, und mit dem heutigen Hipster­getränk Gin soffen sich im 19. Jahrhundert die Ärmsten der Armen um den Verstand.

Neu sind diese Gedanken nicht, doch selten wurden sie so originell präsentiert. Und hinterher lässt sich bei einem Glas Wein trefflich darüber nachsinnen. //

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