Theater der Zeit

Auf der Bühne der Gewalt

Wie junge Theatermacher der mexikanischen Realität entgegentreten

von Luz Emilia Aguilar Zinser

Erschienen in: Theater der Zeit Spezial: Mexiko (03/2015)

Assoziationen: Freie Szene Nordamerika

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Wer im 20. Jahrhundert jung war und im Theater Mexikos einen Platz finden wollte, der musste die schmale Pforte passieren, die Zutritt zu den Bühnenberufen gewährte. Hindurch gelangten nur die wenigen Protegés der großen Theaterpersönlichkeiten Mexikos. Im Gegensatz dazu hat die heute heranwachsende Generation selbst geeignete Räume aufgetan, um auf nationaler und internationaler Ebene Anerkennung zu finden. Zu den ersten Theatergruppen, die vielfach zu Gastspielauftritten außerhalb Mexikos eingeladen wurden, zählen das Teatro de Ciertos Habitantes (Theater der besonderen Einwohner) unter der Leitung von Claudio Valdés Kuri, das Teatro Línea de Sombra (Theater Schattenlinie), geleitet von Alicia Laguna und Jorge A. Vargas, das Artillería Teatro (Artillerie-Theater) von Alberto Villarreal und das Teatro del Farfullero (Theater des Pfuschers/ Stotterers) unter der Leitung von Mauricio García Lozano.

Dieses Phänomen ist einerseits auf veränderte Anreize vonseiten des Staates zurückzuführen – wie zum Beispiel die Einrichtung des Stipendienprogramms des Fondo Nacional para la Cultura y las Artes (FONCA, Nationaler Fonds für Kultur und Kunst) 1989 –, andererseits auf das Engagement der vorhergehenden Generation, die sich dafür eingesetzt hat, Fördermittel für die Jugend bereitzustellen. Ein weiterer Unterschied sind die Solidarität der jungen Theaterleute untereinander, der Wille zur Zusammenarbeit und gegenseitigen Anerkennung. Vorbei sind Rivalitäten und wechselseitige Herabwürdigungen zwischen Schulen, Dramatikern und Regisseuren, wie sie im letzten Jahrhundert gang und gäbe waren.

Die in den letzten Jahren entstandenen Theaterensembles arbeiten in einem Umfeld extremer Gewalt, in dem Leben und Würde des Menschen ihren Wert verloren haben. Dafür stehen die Morde an 124 000 Menschen, darunter vor allem Jugendliche, Frauen und Indígenas, sowie rund 28 000 Entführungsfälle in den Jahren von 2006 bis heute. Dies ist das Ergebnis des von Expräsident Felipe Calderón begonnenen „Kriegs gegen die Kartelle“, über den die aktuelle Regierung des Präsidenten Enrique Peña Nieto gern möglichst wenig spricht, während im ganzen Land immer mehr Leichen und Beweise auftauchen, die von tief greifenden, umfassenden und bisher ungestraften korrupten Praktiken zeugen. Während der sechsjährigen Regierungszeit Calderóns zählte die Wochenzeitung Zeta 83 000 durch den „Krieg gegen die Kartelle“ verursachte Todesfälle; in den ersten Monaten der Regierung Peña Nietos liegt die Zahl der Opfer nach Angaben derselben Zeitung bei 41 015. Es ist ein Umfeld, in dem Gewalt auf haarsträubende Weise durch das organisierte Verbrechen theatralisiert wird: Amputierte, gehäutete oder geköpfte Leiber werden öffentlich ausgestellt oder an Straßenbrücken gehängt (wenn sie nicht verbrannt, in Säure aufgelöst oder in geheimen Massengräbern gestapelt werden). Zu dieser unmenschlichen und makabren Sensationsheischerei gesellen sich inszenierte Medienauftritte von Politikern. Diese bieten der Bevölkerung anstelle der verlangten konkreten Ermittlungsergebnisse in Sachen Transparenz und Sicherheit nur schauspielerische Frechheiten. Als Beispiele für diese theatralische Neigung der mexikanischen Politiker kann ich den Fall der Französin Florence Cassez anführen, die 2005 wegen Entführung angeklagt worden war, letztlich jedoch aufgrund von Verfahrensfehlern freikam, oder die Pressekonferenz im November 2014 nach der Entführung und Ermordung von 43 Studenten in Ayotzinapa. Anzumerken ist: In Mexiko bleiben über 98 Prozent der gewaltsamen Todesfälle und Verschleppungen ungestraft.

Angesichts dieser Tatsachen ist es nicht verwunderlich, dass das junge Theater Kritik übt – eine zunehmend scharfsinnige und gut dokumentierte Kritik an einem maroden politischen System und seinen nationalen und globalen Verstrickungen. Vorherrschende Merkmale dieses Theaters sind die creación colectiva (kollektive Stückentwicklung), eine hybride Sprache, die Kargheit des Bühnenbildes und der Einsatz technischer Mittel, vor allem Videoprojektionen. Oft gibt es weder Figuren im klassischen Sinn noch eine vierte Wand. Es sind Strategien, die auf symbolische Weise danach streben, althergebrachte Maßstäbe umzukehren – in Bezug auf den Autor, auf allgemeingültige Wahrheiten und vertikale Prozesse. Narratives Theater, Dokumentartheater und Dokufiktion sind häufig anzutreffen. Auffällig ist, mit welchem Nachdruck die Inszenierungen die Zerbrechlichkeit des Menschen thematisieren, seine Verfehlungen und die fragmentierte Identität; auch das wiederholte Durchbrechen der Fiktion ist typisch, damit die Schauspieler von sich selbst erzählen können. Häufige Themen sind Kritik an der Gewalt, der Zerfall von Familien, die Konsumgesellschaft sowie unkonventionelle Untersuchungen der Geschichte Mexikos.

Das junge mexikanische Theater vereint so viele und verschiedenartige Stimmen, dass es nicht möglich ist, sie alle in diesem Rahmen ausführlich zu behandeln. Es gibt eine Strömung, die mich begeistert: Begründet wurde sie von der Gruppe Lagartijas Tiradas al Sol (Eidechsen in der Sonne) unter der Leitung von Luisa Pardo und Gabino Rodríguez, die 2006 beim nationalen Theaterfestival Muestra Nacional de Teatro mit ihrem Stück „Asalto al agua transparente“ (Wortspiel: Sprung ins/ Anschlag aufs klare Wasser) bekannt wurden. Das Stück erzählt die Geschichte der Beziehung der Einwohner von Mexiko-Stadt zum lebenswichtigen Nass seit vorkolonialen Zeiten. Auf dieser Schiene folgten weitere Arbeiten, die Ausbeutung, Ausrottung und Ungleichheit auf nationaler und globaler Ebene anprangerten, all dies im Bewusstsein eines möglichen und durch den Menschen selbst verursachten Untergangs. In diesem Zusammenhang stehen auch Diego Álvarez Robledo mit seiner Trilogie „Terminal“ (2012–2014), Mariana Gándara mit ihrer Inszenierung „El último arrecife en tercera dimensión“ (2014, Das letzte Riff in der dritten Dimension), Laura Uribe, Regisseurin einer Version von „El matrimonio Palavrakis“ von Angélica Liddell (2014, Das Ehepaar Palavrakis), die eine erschütternde Parallele zwischen dem Franco-Regime in Spanien und der blutigen Gegenwart Mexikos zieht.

In diesem Kontext darf das Festival Teatro para el Fin del Mundo – la escena en estado de emergencia (Theater für das Ende der Welt – die Bühne im Ausnahmezustand) nicht vergessen werden, das 2012 von Ángel Hernández ins Leben gerufen wurde. Es findet in Tampico statt, einer im Nordosten Mexikos gelegenen Stadt im Bundesstaat Tamaulipas – reich an Erdölvorkommen und von der Drogenmafia verwüstet. Bei diesem Festival werden verlassene Gebäude spartenübergreifend bespielt; das Ergebnis sind faszinierende künstlerische Beiträge vonseiten der jungen Teilnehmer. Beinahe zeitgleich verläuft der Werdegang von David Jiménez, des Vaca 35 Teatro (Theater Kuh 35), Idiotas Teatro (Theater Idioten), von David Gaitán und seinem Ensemble Legeste, von Mariana García Franco, Juan Carrillo, Xavier Villanova und Mónica Jasso, um nur einige zu nennen.

Das Verschwinden von 43 jungen Menschen – Studenten des Lehrerseminars von Ayotzinapa im Bundesstaat Guerrero – in der Nacht vom 26. auf den 27. September 2014 löste eine Welle von Demonstrationen aus, die eine Aufklärung dieses grausamen Verbrechens forderten. Als Antwort stellten die jungen Theaterleute die Ethik ihres Tuns nachdrücklich und radikal infrage und suchten selbst nach geeigneten Anklagestrategien. Dabei griffen sie auf verschiedene Ansätze zurück, wie die escena expandida (erweiterte Bühne, ein experimentelles Theater, das über traditionelle Räume und Inszenierungsformen hinausgeht), das unsichtbare Theater Augusto Boals, die Performance sowie verschiedene Arten der Intervention im öffentlichen Raum. Diese bahnen den Weg für eine neue Poetik und neue Strategien, um sowohl auf als auch jenseits der Bühnen den riesigen Herausforderungen der mexikanischen und globalen Realität entgegenzutreten. //

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