Stück
Abend über Potsdam
von Sarah Nemitz und Lutz Hübner
Erschienen in: Theater der Zeit: Dickicht der Städte – Shermin Langhoff über die Dialektik der Migration (04/2017)
Assoziationen: Dramatik Hans Otto Theater
PERSONEN
LOTTE LASERSTEIN
31 Jahre, Malerin
TRAUTE ROSE
28 Jahre, Angestellte
ERNST ROSE
34 Jahre, Dramaturg
BODO IMHOFF
33 Jahre, Journalist
LISE HENKEL
19 Jahre, Telefonistin
MARIA GOLDMANN
24 Jahre, Modell
ORT
Terrasse über Potsdam (1. Szene) Atelier Lotte Laserstein (2.–11. Szene)
ZEIT 29.9.1929 – 15.9.1930
1. SZENE
29. SEPTEMBER 1929
Terrasse über Potsdam, ein schmiedeeisernes Geländer, eventuell Blick auf Potsdam oder offene Bühne bis zur Brandmauer. Über der Spielfläche hängt ein 2x1Meter großes weißes Holzbrett, auf das projiziert werden kann. Von der Seite tritt Lotte auf.
LOTTE So, hier ist es.
Traute, Ernst, Bodo und Lise treten auf, stellen sich ans Geländer und betrachten die Aussicht.
LISE Ist das schön.
BODO Bist du dir sicher, dass du uns mit auf dem Bild haben willst? Wir stören doch nur.
LOTTE (lacht) Ja, ich bin mir sicher.
ERNST Was ist das dort hinten eigentlich?
TRAUTE Was denn?
ERNST Dieser Turm da am Berg, den kenne ich gar nicht.
TRAUTE Schatz, woher soll ich das wissen.
ERNST Ich habe allgemein in die Runde gefragt. Ich bin nicht sattelfest in Heimatkunde und ich stehe erhobenen Hauptes dazu.
BODO Das ist die Erlöserkirche.
ERNST Gut, dass wir wenigstens einen gebildeten Menschen dabei haben.
BODO In meinem Beruf muss ich mich mit allem auskennen.
LOTTE Und was der Dichter nicht kennt, erfindet er.
BODO Aber es könnte der Turm einer Erlöserkirche sein, oder?
Lachen.
TRAUTE Es zieht sich langsam zu, wir sollten anfangen.
LISE Fehlt nicht noch jemand? Sollten wir nicht fünf sein?
LOTTE Maria Goldmann, sie kommt direkt hierher.
ERNST Haben wir eine Original-Potsdamerin dabei?
LOTTE Nein, sie arbeitet zufällig heute in Babelsberg.
BODO Arbeit? Wir haben eine Original-Proletarierin dabei?
LOTTE Sie ist Modell.
LISE Sie ist Mannequin? Wirklich?
LOTTE Nein, sie steht Modell. Für Künstler.
LISE In Babelsberg?
LOTTE Das kann sie euch nachher alles selbst erklären.
TRAUTE Sollen wir anfangen, Lotte?
LOTTE Ja, ich muss das Licht nutzen, wir sind spät dran.
Sie setzen sich in Bewegung. Traute und Lise gehen vor.
BODO Also, gesamte Bagage nach draußen. Erster Zug Tisch und Hocker, zweiter Zug Körbe, danach weitere Befehle abwarten, wann Gefechtsstellung bezogen wird.
ERNST Klingt vertraut.
BODO Hat es dich noch erwischt?
ERNST Letzter Jahrgang. Grundausbildung, kurz vor der Frontverschickung war Schluss.
BODO Glück gehabt.
ERNST Und selbst, wenn man fragen darf?
BODO Dito. Etappenhengst. Schreibstube.
Lise und Traute kommen mit Körben und Pappkoffern wieder.
TRAUTE Hat es die Blüte des deutschen Kriegertums dann mal oder sollen wir alles alleine machen?
Bodo und Ernst gehen ab.
LOTTE Ich kann euch leider nicht helfen, sonst zittern mir nachher die Hände.
TRAUTE Ist doch klar.
LISE Frau Laserstein? Ich habe noch ein paar andere Kleider dabei …
LOTTE Lotte.
LISE Verzeihung, das fällt mir immer noch schwer. Soll ich das rote anbehalten?
LOTTE Ich mache heute nur Hintergrund und Silhouetten, das entscheiden wir im Atelier.
Ernst und Bodo kommen mit einer Bierbank wieder.
ERNST Wohin?
LOTTE Da, direkt vor das Geländer.
BODO Es sind nur vier Hocker da.
LOTTE Das reicht.
Bodo und Ernst wieder ab. Traute legt ein schweres weißes Leintuch auf den Tisch. Lotte beginnt ihre Tasche auszupacken.
TRAUTE Lise, hilfst du mir?
Lise kommt zu Traute und breitet mit ihr das Leintuch aus.
TRAUTE Wem gehört das Haus eigentlich?
LOTTE Den Eltern einer Schülerin, sie sind bis Sonntagabend in Warnemünde. Ich kann hier an den Wochenenden arbeiten, bis ihr Boot aus dem Wasser kommt.
TRAUTE Soll ich die Falten ausbügeln? Gibt es hier im Haus ein Plätteisen?
LOTTE Ohne Faltenwurf keine Renaissancemalerei, ergo keine abendländische Kunstgeschichte. So hieß es auf der Akademie immer.
LISE Also lassen wir das so?
TRAUTE Ich glaube, das wollte sie damit sagen.
LISE Man muss die ja nicht mit malen.
Traute und Lotte lachen.
Habe ich was Dummes gesagt?
TRAUTE Du bist goldrichtig.
Bodo und Ernst kommen mit Hockern. Die Frauen holen aus den Körben Teller, Gläser, Flaschen, Obst und Brot und drapieren es auf dem Tisch.
ERNST Welches Arrangement? Klassisches Abendmahl? Da Vinci? Flämisch?
BODO Ich bin der Erlöser. Erster ohne Streit.
ERNST Judas, die Verräter sind immer die interessanteren Rollen.
LISE Über so etwas kann man doch keine Witze machen.
BODO Doch, das geht, Lischen, es ist ganz einfach, probiere es aus.
LOTTE Ich danke euch, den Rest mache ich selbst.
Lotte ändert das Arrangement der Requisiten auf dem Tisch, Lise zieht sich einen Hocker heran und setzt sich an den Tisch, sie gähnt und reibt sich über das Gesicht. Bodo und Ernst gehen etwas seitab, um eine Zigarette zu rauchen und sich leise zu unterhalten. Traute streckt sich, um ihren verspannten Rücken zu entlasten.
LOTTE Ist es wieder spät geworden, Lise?
LISE Bisschen. Aber nichts meiner Mutter sagen, sie hat geschlafen, als ich heimkam.
LOTTE Ein frommer Wunsch. Wo warst du diesmal?
LISE Tanztee Columbiahaus, danach in der Eisenacher bei einer privaten Party.
LOTTE Party? Nennt man das jetzt so?
Maria kommt, sie wirkt abgehetzt, auf ihrem hellen Rock sind Dreckspuren. Sie spricht mit leichtem polnischen Akzent.
MARIA Entschuldigung vielmals, ich bin zu spät.
LOTTE Nein, alles gut.
MARIA Diese dummen Köter sind an mir hochgesprungen, ich habe ewig versucht, es auszuwaschen. So kann ich doch nicht auf die Straße. Sogar der Taxifahrer hat schief geschaut.
LOTTE Was bekommst du dafür?
MARIA Für Taxi? Nein, das war meine eigene Schuld. Darf ich einen Schluck Wasser?
Maria geht zum Tisch und schenkt sich ein Glas Wasser ein.
ERNST Finger weg! Requisite.
TRAUTE Hör nicht auf ihn.
MARIA Wo ist das Bad? Ich versuche es noch einmal.
LOTTE Ist egal. Es wird kein Foto.
TRAUTE Und man muss es ja nicht mit malen.
Lachen.
TRAUTE Soll ich dir eines von meinen Kleidern geben? Wir müssten ungefähr dieselbe Größe haben.
MARIA Oh bitte, wenn das geht?
Maria und Traute ab.
LISE Sie ist so schön. Wie Camilla Horn.
BODO Großartig, wir werden wie hässliche Zwerge neben ihr aussehen.
ERNST Sehr charmant gegenüber allen anwesenden Damen.
LISE Mir macht das nichts, ich weiß, dass ich nicht schön bin. Meine Mutter sagt immer, ich bin apart, das muss reichen.
Bodo setzt sich neben Lise.
BODO Pardonnez moi, Mademoiselle, ich meinte natürlich nur die Männer.
ERNST Das wird ja immer besser.
BODO Aber Lotte wird uns alle schöner aussehen lassen.
ERNST Irgendeinen Vorteil muss diese altmodische Darstellungsform schließlich haben, oder?
LOTTE Entschuldigung, ich habe gerade nicht zugehört.
BODO Gottseidank.
Traute und Maria kommen wieder, Maria trägt jetzt ein dunkelgrünes, leicht changierendes Seidenkleid.
TRAUTE Ist nur ein Vorschlag.
LOTTE Sehr schön.
ERNST Und wo haben Sie Ihre Hunde gelassen, wenn ich fragen darf?
MARIA Ich führe sie nur aus. Ich muss Geld verdienen.
LISE Ich dachte, du bist Mannequin.
TRAUTE Vielleicht eine kurze Vorstellungsrunde?
LOTTE Bodo Imhoff, Journalist bei der Vossischen Zeitung.
BODO Vorhin war ich noch ein Dichter.
LOTTE Genau, Dichter.
BODO Nur ein Scherz. Unveröffentlichter Schriftsteller, vulgo: Journaille.
LOTTE Elisabeth, die Tochter meiner Concierge.
LISE Und Telefonistin.
LOTTE Brauchen wir das so ausführlich? Die Figuren mache ich sowieso in Einzelsitzungen mit euch.
BODO Wenn wir schon zusammen in die Kunstgeschichte eingehen, sollten sich alle kennen.
ERNST Ernst Rose. Ich bin Dramaturg.
MARIA Was ist das?
ERNST Das frage ich mich praktisch jeden Tag, den Gott werden lässt. Ich bin übrigens nur hier, weil ich ein markantes Kinn habe.
LOTTE Traute kennst du. Maria, Malermodell.
Alle haben sich die Hand gegeben.
ERNST Seit wann müssen Modelle mit den Hunden raus? Verdient man da so wenig?
TRAUTE Ich glaube nicht, dass du das gerade wirklich fragst, Ernst.
MARIA Fleisch ist billig. Menschenfleisch. Und alle denken, Modell stehen ist einfach. Ist es aber nicht.
BODO Mach uns nur Mut.
TRAUTE Fangen wir an?
LOTTE Gern.
BODO Was sollen wir tun, Madame?
LOTTE Ich weiß es noch nicht.
ERNST Es ist ja eigentlich ein Bühnenarrangement. Ich könnte mir, als Theatermensch gesprochen, vorstellen, dass …
TRAUTE Ernst, lass es.
ERNST Gut. Ich wollte nur helfen.
Kurze Stille.
LOTTE Schiebt den Tisch ein wenig nach links.
Man tut es.
TRAUTE Lotte, willst du vorher vielleicht beschreiben, welche … Stimmung du haben möchtest?
LOTTE Eine Gruppe von Freunden auf einer Dachterrasse.
BODO Zwei machen Handstand, einer eine Brücke, der Rest steht auf einem Bein.
ERNST Versuch, sachlich zu bleiben, Bodo, so wie Lotte.
BODO Neusachlich.
Die Männer lachen.
MARIA Sie müssen ruhig sein, Männer, sie malt das Bild, ihr seid nur Farbe auf Leinwand, ihr müsst Respekt haben.
BODO Haben wir ja prinzipiell.
ERNST Ja, aber trotzdem, man sollte vielleicht doch eine gewisse Vorstellung haben.
LOTTE Wenn ich es klar formulieren könnte, müsste ich es nicht malen.
ERNST Typische Künstlerausrede.
MARIA Ihr seid wie Kinder, die immer plappern, sie muss jetzt nachdenken, versteht ihr das nicht? Das ist nicht so schwer, jeder Dummkopf kann das verstehen!
TRAUTE Danke.
ERNST Bitte um Entschuldigung.
BODO Schließe mich an.
Stille. Dann nimmt Lotte Lise an der Hand und platziert sie in der Mitte des Tisches.
LISE Ich soll in die Mitte?
LOTTE Stütz dich auf dem Tisch ab, die Arme übereinander, müde und zufrieden, wie eben, als du von gestern Nacht erzählt hast. Ernst mit dem Hocker vor den Tisch, stütz den Kopf auf die Linke, ein Glas in der Rechten. Wie vorhin, als keiner mit dir sprach, genieße die Aussicht, ein bisschen hingeflegelt. Bodo neben Lise, du willst sie mit einem Scherz oder einem Kompliment aus ihrer Versunkenheit holen, du überlegst.
BODO Und wird es mir gelingen?
LOTTE Das überlasse ich dir. Traute? Du hast dich vorhin etwas gedehnt, nachdem du die Kisten abgestellt hast. Stell dich neben Ernst, als ob du deine Rückenmuskeln lockerst, entspannt, nur ein wenig, so, ja.
TRAUTE Ist das gut? Also ein gutes Gefühl? Oder schmerzhaft.
LOTTE Eher gut. Maria, du hast dir vorhin ein Glas Wasser eingeschenkt, als du ankamst. Nimm den Krug und schenke dir ein.
Maria nimmt die Pose ein. Lotte betrachtet die Szene.
LOTTE Etwas stimmt nicht.
MARIA Verzeihung. Darf ich etwas vorschlagen?
LOTTE Bitte.
Maria dreht sich etwas mehr zum Tisch.
LOTTE Ja, das ist besser.
BODO Darf ich auch meine Haltung ändern?
LOTTE Nein.
BODO Aber mir schläft der rechte Arm ein. Das Geländer ist zu hoch.
ERNST Frag meine linke Hinterbacke.
LOTTE Nicht bewegen. Ich mache ein Foto für die Ateliersitzungen. Ist nur eine Erinnerungsstütze.
Lotte fotografiert die Szene, die Silhouetten der Sitzenden erscheinen als Linien auf dem weißen Brett über der Bühne.
2. SZENE
NOVEMBER 1929
Das Atelier von Lotte Laserstein in Berlin-Charlottenburg. Der gedeckte Tisch aus der ersten Szene, eine alte Ballettstange, welche die Brüstung andeutet. Seitlich ein Tisch mit Farbtuben, Kaffeekanne, Pinseln etc. Lotte mischt Farben auf der Palette an. Ernst kommt nervös und abgehetzt herein.
LOTTE Ich habe schon befürchtet, du kommst nicht mehr.
ERNST Tut mir leid, es geht gerade einfach drunter und drüber.
LOTTE Das weiß ich, Ernst.
ERNST Ich meine, auch im Theater.
LOTTE Danke, dass du trotzdem gekommen bist.
ERNST Ich habe mir zwei Stunden freigeschaufelt. Genügt dir das?
LOTTE Wunderbar.
ERNST Dann also los. Du musst mir auf die Sprünge helfen. Ich weiß nicht mehr genau, welche Pose ich einnehmen soll.
LOTTE Dort auf dem Tisch liegt die Fotografie.
Ernst geht zum Tisch, sieht sich das Foto an.
ERNST Anderthalb Monate her. Da waren wir noch doof und unschuldig, was?
LOTTE Atme erst mal durch, so kannst du nicht stillsitzen. Kaffee?
ERNST Gern.
Ernst nimmt sich einen Kaffee.
LOTTE Du hast an die Kleidung gedacht.
ERNST Traute hat mich in den letzten drei Tagen etwa alle fünf Minuten daran erinnert. Viele Grüße übrigens.
LOTTE Danke, ich habe sie gestern kurz gesehen.
ERNST Dann bist du wahrscheinlich über alles auf dem Laufenden.
LOTTE Müsst ihr Leute entlassen?
ERNST Bisher noch nicht, aber wenn es so weitergeht mit dem Kartenverkauf … wir haben schon die Preise gesenkt, aber seit dem Bankencrash halten die Leute ihr Geld zusammen. Wenn sie überhaupt welches haben.
LOTTE Verständlich.
ERNST Im Gegenteil. Sonst war die Hütte immer voll, wenn Krise war. Komödie funktioniert antizyklisch. Wenn es den Leuten schlecht geht, wollen sie abschalten. Aber diesmal? Wenn es weiter so schlecht läuft, können wir auch gleich politisches Theater machen.
LOTTE Würdest du denn?
ERNST Das war ein Scherz.
LOTTE Ich weiß, aber würdest du?
ERNST Das soll Piscator machen. Wir sind ein Volkstheater. Da kann man nicht einfach das Ruder herumreißen.
LOTTE Bedauerlich. Das wäre sicher etwas für dich.
ERNST Dank für die Blumen. Fangen wir an.
Ernst zieht sich einen Hocker heran.
LOTTE Das war nicht abschätzig gemeint.
ERNST Der eine betreut Possen, der andere malt gesellige Freundeskreise. Jeder, was er kann und will.
LOTTE Ich bin nicht die Kollwitz. Will ich auch nicht sein.
ERNST Und ich nicht Piscator. Der ohne seine Mäzene übrigens aufgeschmissen wäre. Wir können es nicht, weil wir zwanzig Angestellte haben und die bezahlen wir auch mit dem Geld, das die SA-Leute an der Abendkasse lassen. Ich bin leider erpressbar.
LOTTE Trotzdem danke, dass du dich für etwas zur Verfügung stellst, das für dich höchstens besserer Kaminschmuck ist.
Kurze Stille.
ERNST Ich wollte nicht flegelhaft wirken. Traute hat mir schon letztes Mal den Kopf gewaschen.
LOTTE Ich habe sie nicht darum gebeten.
ERNST Ich weiß. Ich respektiere deine Arbeit.
LOTTE Ich kann Kritik vertragen.
ERNST Dann wärst du kein Künstler. Und ich sitze im Glashaus, das ist mir bewusst. Alles geht zum Teufel und bei mir auf der Bühne wird der Liebhaber im Schrank entdeckt. Und der Saal johlt und jeden Abend werden es mehr Braunhemden. Furchtbare Montur. Aber sie gockeln damit in der Pause herum, als käme sie vom besten Herrenschneider am Hausvogteiplatz. Dann betrachtet man die anderen, noch in Zivil, und fragt sich, ob die auch so denken. Ich traue unserem Publikum nicht mehr. Da klatschen sie sich vor Vergnügen auf die Schenkel und den Sohn unserer Garderobiere haben sie letzten Freitag zusammengekloppt, weil er für die Rote Hilfe gesammelt hat. Mitten auf der Frankfurter. Fangen wir an, ich will dich nicht mit meinen Sorgen behelligen. Weiß man denn schon, was für einen Geschmack die nationale Revolution in der Malerei hat?
LOTTE Bei Gurlitt verkehren sie jedenfalls nicht. Außerdem schert mich nicht, wer meine Bilder schätzt.
ERNST Du hast mich falsch verstanden.
LOTTE Fangen wir an.
ERNST Ich versuche den Schnabel zu halten. Ich bin nur Form und Farbe, wie dieses Mädchen gesagt hat. Woher kommt sie?
LOTTE Aus einem Schtetl im Norden Polens, ihre Mutter lebt im Scheunenviertel, Maria muss für beide verdienen.
ERNST Das wird nicht leichter seit dem Schwarzen Freitag. Keiner weiß, was kommt.
LOTTE Wir haben die Inflation überstanden, schlimmer kann es nicht werden.
ERNST Schlimmer kann es nicht werden, heißt es bei uns immer kurz vor der Pause, danach wird es schlimmer.
Ernst setzt sich in Positur.
Etwa so?
LOTTE Das Bein weiter ausgestreckt.
ERNST Was soll der Pelz?
LOTTE Es wird ein Schäferhund unter dem Tisch liegen.
ERNST Eine Bestie. Ein Menetekel.
LOTTE Nein, ein schlafender Hund. Sonst ist die weiße Tischdecke zu präsent.
ERNST Ein Bild des Friedens. Ja, vielleicht ist es das. Ein Bild des Friedens, das wir alle irgendwann gerührt betrachten.
LOTTE Wir können die Sitzung verschieben, wenn du keinen Kopf dafür hast.
ERNST Verzeihung, ich lasse mich gehen. Ich sehe schwarz, Traute hat Recht.
Ernst nimmt seine Positur wieder ein.
Es fällt mir nur schwer, den Eindruck zu erwecken, entspannt eine schöne Aussicht zu genießen.
LOTTE Ich kann dir nicht vorschreiben, worüber du nachdenken sollst.
Lotte nimmt die Palette auf, wählt einen Pinsel, auf dem Bildträger füllt sich die Stelle mit Ernsts Profilansicht mit hellen Brauntönen, während die Figur nur im Umriss erscheint.
3. SZENE
DEZEMBER 1929
Musik setzt ein: Nick Lucas „Tiptoe through the tulips“ (eventuell wird der Ausschnitt aus „Golddiggers of Broadway“ von 1929 auf den Bildträger projiziert). Auf der Bühne ist nun quer durch das Atelier eine Wäscheleine gespannt, an der mit Wäscheklammern Geldscheine aufgehängt sind. Auf dem Arbeitstisch stehen eine Flasche Sekt und Gläser, Spuren einer kleinen Feier. Lise kommt mit einem Koffergrammofon und einer Schellackplatte herein, sie legt die Platte auf, Lichtwechsel, sie tanzt zu Tiptoe, nimmt zwischendurch einen Schluck aus der Sektflasche. Lotte kommt herein und legt ihren Mantel ab.
LOTTE Kannst du das bitte ausmachen? Ich habe Kopfschmerzen.
Lise schaltet das Grammofon aus.
Na? Hat dich deine Mutter wieder verjagt?
LISE Habe ich ganz neu, das ist ein richtiger Ohrwurm.
LOTTE Ich habe es nicht so gern, wenn du hochkommst, wenn ich nicht da bin.
LISE Entschuldigung, ich wollte nur das Geschirr abwaschen und fegen. Mutter hat wieder Wasser in den Beinen.
LOTTE Hilf mir mal schnell.
Lotte beginnt die Geldscheine von der Leine zu nehmen.
LISE War das nass geworden?
LOTTE Ich habe gestern ein Bild verkauft und wollte mir das anschaulich machen. Man muss die Penunzen sehen, damit man weiß, dass es ein Beruf und kein Spleen ist.
LISE Wer hat denn da gestern so schön gesungen?
LOTTE Traute.
LISE Und Sie haben die Quetschkommode gespielt?
LOTTE (lacht) Waren wir zu laut?
LISE Nein, klang schön. Traute ist so richtig Ihre beste Freundin, oder?
LOTTE Warum siezt du mich? Willst du eine alte Frau aus mir machen?
Lotte legt das Geldbündel in eine leere Kaffeedose auf dem Arbeitstisch.
LISE Ich kann mich nicht daran gewöhnen, das habe ich einfach intus.
LOTTE Schon gut.
LISE Welches Bild haben Sie denn verkauft?
LOTTE Die Sechzig-mal-Vierziger-Garnisonskirche Potsdam. Man schätzt die Landschaften, wenn die Zeiten stürmisch sind.
LISE An einen Deutschen?
LOTTE Was spielt das für eine Rolle?
LISE Nur so.
LOTTE Ich will es aber wissen. Was soll diese Frage?
LISE Es haben doch so viele jetzt ihr Geld verloren und wer jetzt noch welches hat, muss Amerikaner oder Jude sein, also jemand, der Informationen hatte oder ganz oben mitgemacht hat, oder?
LOTTE Lise, was redest du denn da?
LISE Ich glaube das ja auch nicht, aber auf der Arbeit sagen das viele.
LOTTE Das ist Unsinn.
LISE Das habe ich denen auch gesagt. Und Sie sind ja auch Jüdin und … ich freue mich so, dass Sie ein Bild verkauft haben, wirklich.
LOTTE Ich muss jetzt die Farben anmischen. Maria kommt gleich. Ist die Tür unten offen?
LISE Ja. Darf ich Ihnen helfen?
LOTTE Das musst du nicht.
Lotte beginnt Farben vorzubereiten, Lise nimmt ihr Grammofon und die Platte.
LISE Es tut mir leid, ich wollte nichts Dummes sagen.
LOTTE Schon gut.
Maria kommt.
MARIA Soll ich noch warten?
LOTTE Komm ruhig rein, wir können gleich anfangen. Lässt du uns allein, Lise?
Maria legt ihren Mantel ab, Lise beobachtet sie fasziniert.
MARIA Was ist, Mädchen?
LISE Ich habe versucht, mir die Augen so wie du zu schminken, aber irgendwas habe ich falsch gemacht.
MARIA Soll ich dir zeigen?
LOTTE Lise, wir wollen anfangen.
LISE Natürlich.
Lise geht.
MARIA Wie lange soll ich bleiben?
LOTTE Zwei Stunden? Und nächsten Sonntag weiter?
MARIA Gut.
LOTTE Wir hatten fünf Mark die Stunde ausgemacht, oder? Ich gebe es dir besser gleich.
Lotte geht zur Kaffeedose und sucht einen Zehnmarkschein, Maria beobachtet sie, Lotte gibt ihr das Geld.
MARIA Haben Sie das Kleid, das ich tragen soll?
Lotte gibt ihr das dunkelgrüne Kleid.
LOTTE Du kannst dich in der Kammer umziehen.
Maria lacht und beginnt sich auszuziehen.
LOTTE Du hast schöne Haut.
MARIA Wir können auch ein Aktbild machen, wenn das fertig ist.
LOTTE Ich muss erst das hier beenden.
MARIA Oder Zeichnungen, ich wüsste auch, wer das kaufen kann, wir könnten das Geld teilen. Mit einer Frau ist das einfacher für mich.
LOTTE Ziehst du bitte das Kleid an?
Maria zieht das Kleid an.
Soll ich dir schon das Geld für die nächste Sitzung geben? Ich habe ein Bild verkauft.
Lotte nimmt einen zweiten Zehnmarkschein aus der Dose und gibt ihn Maria.
MARIA Ich danke Ihnen.
Maria kontrolliert kurz ihr Make-up und den Sitz des Kleides.
Haben Sie etwas gemerkt an meiner Sprache?
LOTTE Was?
MARIA Der Akzent.
Lotte ist irritiert, weil sich an Marias polnischem Akzent seit dem letzten Mal nichts geändert hat.
Es klingt nicht mehr polnisch oder nur noch ein bisschen. Ich habe geübt, mit einem Schauspieler, die sind auch billig geworden. Ich habe ihn für drei Mark die Stunde gemietet. Er hat Übungen mit mir gemacht … weit wanderte Waltraud im winterlichen Walde … er hat ganz scharf aufgepasst. Drei Mal habe ich ihn gemietet, es ist lustig, einen Mann zu mieten. Aber es hat geholfen, das hat sogar meine Mutter gesagt: Du klingst wie eine Schickse.
Maria sieht sie erwartungsvoll an.
LOTTE Ja, das ist verblüffend.
MARIA Keiner stellt mehr Polen an, Juden schon gar nicht. Und die reichen Amerikaner und Engländer, denen das egal ist, wollen nur Jungs. Ich werde auch meinen Namen ändern, ganz offiziell, auch im Pass. Müller, so wie der Kanzler. Maria Müller. Dann bin ich unsichtbar.
LOTTE Wenn das hilft.
MARIA Natürlich hilft das. Maria Müller aus Breslau.
LOTTE Der wahre Berliner kommt aus Breslau.
Sie lachen.
Ich finde Goldmann schöner.
MARIA Ich habe mich beworben, um bei einem Fest zu kellnern, riesige Villa, wie ein Schloss, die Mädchen standen Schlange bis auf die Straße, ich war die Erste in der Reihe und als ich meinen Namen sagte, wollte mich die Gnädige Frau nicht, sie wollte nur deutsche Bedienungen. Frau Doktor Ashkenasy will nur Deutsche. Kurwa. Aber Sie sind doch auch Jüdin, habe ich gesagt, so wie ich. Da ging es los, wir haben nichts mit euch zu tun, schafft das Polackenmädel hier raus, Unverschämtheit … Weißt du, was ich gemacht habe? Ich habe „Judensau“ geschrien und ausgespuckt. Alle Mädchen haben gekichert, der Diener hat mich am Arm gepackt und rausgeworfen und ich habe nochmal gebrüllt: „Judensau!“ Alle raus hier, hat die Dicke gebrüllt, war mir egal. Das hat gut getan, einfach mal „Judensau“ zu brüllen.
Stille.
LOTTE Wie geht es deiner Mutter?
MARIA Sitzt in ihrem Loch in der Schendelgasse und betet, sonst hat sie ja nichts gelernt. Jammern und Beten. Beten und Jammern, dass ich mich versündige und ein gefallenes Mädchen bin, das kein anständiger Mann haben will, weil ich in einer Kneipe arbeite. Mein Geld nimmt sie trotzdem.
LOTTE Du hast eine feste Stelle?
MARIA Einer jiddischen Mamme sollte man entweder die Wahrheit sagen, die sie hören will, oder eine, die sie grade noch ertragen kann.
LOTTE Was machst du außer Modell stehen?
MARIA Hunde ausführen.
LOTTE Reicht das denn zum Leben?
MARIA Das hat mich dieser Mann auch gefragt.
LOTTE Welcher?
MARIA Der neben mir auf dem Bild stehen soll. Er hat mich auf dem Anhalter Bahnhof noch eingeladen. Was der alles wissen wollte.
LOTTE Ich hoffe, er ist nicht aufdringlich geworden.
MARIA Ich gehe zu einem alten General im Grunewald, habe ich gesagt, ich ziehe mir schwarze Stiefel an, sonst nichts, und setze mich auf einen Stuhl und er kommt auf allen Vieren und muss die Stiefel sauber lecken, mit der Zunge, kein Fleckchen darf mehr zu sehen sein. Er fasst mich nie an, er darf mir nicht mal in die Augen sehen und ich sage ihm, dass er ein ganz Braver ist. Dann bekomme ich mein Geld.
LOTTE Das hast du Bodo erzählt?
MARIA Dann war er ganz still und ist bald gegangen.
Lachen.
LOTTE Machst du sowas wirklich?
MARIA Fangen wir an, Frau Laserstein. Sie bezahlen mich nicht für dumme Geschichten.
Maria stellt sich in Position an den Tisch. Lotte holt zur Kontrolle das Foto.
MARIA Gut so?
LOTTE Vollkommen.
Auf dem Bildträger erscheint die Silhouette der rechten Figur, Maria ab.
4. SZENE
JANUAR 1930
Lotte allein im Atelier, sie hat einen Brief entworfen. Während sie ihn laut vorträgt, kommt Traute herein und hört zu.
LOTTE Sehr geehrter Herr Gurlitt, es ist sehr bedauerlich, dass Sie nicht die Zeit erübrigen konnten, zu meinem kleinen Neujahrsempfang ins Atelier zu kommen. Ich hatte einige treue Sammler zu Gast, ebenso Galeristen, die sich für meine neuen Werke interessieren. Das sind im Moment vor allem Arbeiten auf Papier und kleine Stadtansichten, da eine große Arbeit mich völlig in Beschlag nimmt. Es handelt sich um ein Hundert-auf-Zweihundert-Format, Öl auf Holz, welches eine Gruppe von Freunden auf einer abendlichen Terrasse in Potsdam zeigt. Seit September arbeite ich daran und langsam nimmt das Bildgeschehen Form an. Ich bin eine langsame Arbeiterin, das habe ich sicher gesprächsweise einmal erwähnt. Gedacht war es als ein Bild der Zeit, gespiegelt in einer Figurengruppe, welche sich motivisch aus der Beschäftigung mit Vermeer und klassischen Abendmahlsdarstellungen speist. Nun aber frage ich mich zuweilen, was diese Zeit denn ist, die ich da einfangen will, ob sie über mich, über uns alle hinweg rast, sich von mir entfernt oder sich drohend hinter mir aufbaut, wie ein böser Dschinn. Keiner kann die heutige Zeit beschreiben, warum sollte es mir als bildender Künstlerin gelingen. Nun male ich nur noch, was ich in den Gesichtern lese, aber ob vom fertigen Gemälde Dorian Gray oder selige Erinnerung zurückblickt, müssen Sie entscheiden. Ihr Urteil wäre mir wichtig. Ich kann Ihnen gern Zustandsbilder zusenden, um Ihrer Entschlusskraft aufzuhelfen, und wäre froh, wenn Sie mir mitteilen würden, falls eine Präsentation meiner Arbeiten in Ihrer schönen Galerie für Sie völlig ausgeschlossen ist. Ich hoffe auf eine baldige Begegnung und verbleibe mit den besten Grüßen Ihre Lotte Laserstein.
Lotte dreht sich zu Traute um.
TRAUTE Zu unterwürfig. Genauer gesagt, es ist unterwürfig und gleichzeitig fordernd.
LOTTE Ich schreibe ihm besser nicht.
TRAUTE Aber nein, es stecken interessante Gedanken darin.
LOTTE Das könnte ihn abschrecken, der Mann kann es sich leisten, wählerisch zu sein.
TRAUTE Du bist nicht auf ihn angewiesen.
LOTTE Eine Arbeit dieser Größe darf man nicht an kleine Galerien verschleudern. Übrigens waren keine anderen Galeristen da. Aber viele Fremde. Ich hatte einige Einladungen verschickt und einen Zettel an die Haustür gehängt, dass mein Atelier im obersten Stockwerk ist. Und den ganzen Tag waren Menschen da, die ich noch nie gesehen habe. Manche haben sich schweigend die Bilder angesehen, andere haben interessiert nachgefragt, meinen Kaffee getrunken und lange auf die Bilder gestarrt, bis mir klar wurde, dass das Menschen sind, die sich nur aufwärmen wollten, sie hatten unten den Zettel gesehen. Keine Bettler: Beamtentypen, junge Burschen und ältere Ehepaare, die wahrscheinlich durch die Stadt laufen, weil sie sich keine Kohlen mehr leisten können oder aus der Wohnung geworfen wurden.
TRAUTE Was hast du mit ihnen gemacht?
LOTTE Was sollte ich machen? Sie waren still, höflich, müde, einer ist drüben im Schüleratelier einfach auf der Chaiselongue eingeschlafen … sie waren diskret, haben zugehört, wenn ich mit einem Sammler gesprochen habe … als wäre der Raum voller Geister, nach einiger Zeit gingen sie wieder, neue kamen … es war unheimlich.
TRAUTE Ich treffe kaum noch Leute, keiner verabredet sich mehr. Ich dachte schon, dass es mit mir zu tun hat, aber die Leute haben kein Geld mehr fürs Restaurant, deshalb sagen sie lieber ab. Kürzlich sehe ich einen alten Freund bei Aschinger sitzen, ich habe ihm durch die Scheibe zugewunken, aber er tat so, als ob er mich nicht erkennt.
LOTTE Wir sind früher auch zu Aschinger, ohne Aschingers Freischrippen wäre die Hälfte der Berliner Maler in den letzten Jahren verhungert.
TRAUTE Aber der hat mal im Alsenviertel gewohnt. Und hast du schon gehört, dass die Vossische alle freien Journalisten rausgeworfen hat?
LOTTE Ich habe mich schon gewundert, dass Bodo nicht mehr schreibt.
TRAUTE Ernst vermutet, dass er jetzt für den Völkischen Beobachter arbeitet. Da unterzeichnet einer mit „Bodim“. Traust du ihm das zu?
LOTTE Genug davon, das interessiert mich alles nicht.
TRAUTE Was ist denn?
LOTTE Nichts. Mich lenkt das alles ab.
TRAUTE Gut. Das kann ich verstehen.
LOTTE Nein, das kannst du nicht! Wie willst du das denn verstehen? Du weißt doch gar nicht, was es bedeutet, so etwas nicht zu Ende bringen zu können, was für ein Mühlstein das ist.
TRAUTE Aber das wird großartig, wirklich.
LOTTE Du musst mir jetzt nicht schmeicheln.
Stille.
Entschuldige, ich bin etwas gereizt, das hat nichts mit dir zu tun.
TRAUTE Vielleicht brauchst du deine Ruhe.
LOTTE Ich will einfach keine schlechten Nachrichten mehr.
TRAUTE Soll ich dir den Nacken massieren?
Traute beginnt Lotte den Nacken zu massieren.
Willst du gute Nachrichten hören?
LOTTE Ja.
TRAUTE Ich werde eine Ausbildung zur Fotografin machen. Dann stehst du mir Modell, ja?
LOTTE Für so etwas tauge ich nicht.
TRAUTE Das ist alles, was du dazu zu sagen hast?
LOTTE Was willst du denn hören? Du willst Fotos machen, schön, aber was soll ich denn dazu sagen? Ich bin Malerin. Für mich sind Fotos nur Erinnerungsstützen.
Traute steht auf.
TRAUTE Ich komme wieder, wenn du bessere Laune hast.
LOTTE Was habe ich denn gesagt? Willst du dafür gelobt werden wie ein kleines Kind?
TRAUTE Nein. Ich wollte nur etwas Eigenes beginnen.
LOTTE Aber du arbeitest doch hier mit mir, ohne dich kann ich nicht arbeiten. Du musst wegen mir doch nicht …
TRAUTE Ich mache es für mich.
LOTTE Aber dann hat es nichts mit mir zu tun.
TRAUTE Ist schon gut.
LOTTE Wenn dieses Monstrum fertig ist, habe ich den Kopf wieder frei und dann will ich ein Bild von uns beiden machen. Ich habe auch schon eine Bildidee. Willst du sie hören?
TRAUTE Ja.
Lotte rollt einen Standspiegel heran, schiebt eine kleine Staffelei heran, zieht einen weißen Malerkittel an, nimmt einen Pinsel in die Hand.
Und ich?
LOTTE Stell dich hinter mich. Näher. Kannst du deinen Pullover ausziehen?
Traute zieht ihren Pullover aus.
Nicht in den Spiegel sehen, sieh mir über die Schulter auf das Bild. Leg die Hand auf meine Schulter. Ist das gut?
TRAUTE Für mich ja, für dich?
LOTTE Ja. Sehr. Einen Moment so halten, dann kann ich es mir einprägen. Kannst du dir das auch merken?
TRAUTE Ja.
Freeze, eventuell eine Projektion des Gemäldes auf dem Bildträger. Lise kommt herein.
LISE Störe ich?
LOTTE Herrgott nochmal, Lise, du kannst hier nicht einfach reinstürmen, wie oft soll ich dir das noch sagen!
LISE Entschuldigung.
LOTTE Verzieh dich bitte.
LISE Sie dürfen nicht so mit mir reden, Frau Laserstein, ich bin ein erwachsener Mensch.
LOTTE Wer hat dir das denn eingeredet. Und jetzt raus, komm in einer halben Stunde wieder.
Lise geht tief beleidigt.
TRAUTE Sei nicht so streng mit ihr.
LOTTE Als sie noch von ihren nächtlichen Eskapaden erzählt hat, war es noch ganz lustig, aber neuerdings wirft sie sich auf die Politik, hetzt gegen den Youngplan und dass wir unsren Enkeln noch die Kriegsschuld vererben werden, das ganze Gedröhne. Neulich kommt sie in Tränen aufgelöst, weil die Kommunisten irgendeinen SA-Mann aufgemischt haben. Kennst du den Kerl, habe ich sie gefragt, tut sie natürlich nicht, reines Sentiment und Pathos. Als sie noch erzählt hat, wie sie irgendwelchen grünen Jungs nachts am Wannsee einen geblasen hat, war sie amüsanter. Warum beschäftigt sich so eine Göre auf einmal mit Politik?
TRAUTE Weil das alle tun.
Traute beginnt sich umzuziehen.
LOTTE Ich nicht. Vielleicht, wenn das Bild fertig ist, vorher nicht. Und wenn es fertig ist, ist auch der Spuk vorbei. Die Reparationen sind geregelt, Demonstrationen sind verboten und in Thüringen werden sich die Nazis in der Regierung so blamieren, dass sie entzaubert sind, und dann hat es ein Ende mit dieser Schreckensstille, dann schimpfen sie wieder, und wenn geschimpft wird, ist Berlin wieder, was es immer war, die Hauptstadt der Meckerköppe.
Traute geht in Positur.
Wir werden dieses Bild von uns beiden malen, ja?
5. SZENE
MÄRZ 1930
Ein Radio steht auf dem Ateliertisch, Lotte dreht am Senderknopf, Nachrichtenstimmen, ein Vortrag, sie dreht weiter, bis Musik kommt, eine Operette, Lotte hört ein Weilchen zu, dann beginnt sie mit den Vorbereitungen zur Sitzung und zieht sich ihren weißen Kittel an. Bodo kommt herein, umarmt Lotte und überreicht ihr einen kleinen Blumenstrauß.
LOTTE Wie komme ich zu der Ehre?
BODO Ich war so froh, endlich von dir zu hören. Ich hatte schon befürchtet, du hättest mich gestrichen. Aber das sagt man in deinem Metier wahrscheinlich nicht. Sagt man ausgewischt?
LOTTE Dazu muss es erst einmal etwas zum Auswischen geben.
BODO Ich werde alles tun, um das zu verhindern. Du bist meine letzte Chance, unsterblich zu werden.
LOTTE Wolltest du das nicht als Schriftsteller werden?
BODO Hast du das je ernst genommen? Knabenträume, nichts weiter, der Bedarf an Dichterfürsten scheint gedeckt. Der an Journalisten übrigens auch. Die Vossische hat alle Freien entlassen.
LOTTE Ich weiß.
BODO Ach ja?
LOTTE Traute hat es mir erzählt.
BODO Ich hatte gehofft, du hättest meine geistreichen Kolumnen bei der morgendlichen Zeitungslektüre schmerzlich vermisst.
LOTTE Ich lese keine Zeitungen mehr.
BODO Natürlich, wer ein Radio hat, braucht keine Zeitungen. Aber ich will dich nicht dafür verantwortlich machen, dass ich den Winter von gedünstetem Stiefelleder gelebt habe. Natürlich nur bildlich gesprochen.
LOTTE Ich male gerne bei Musik, deshalb habe ich es mir angeschafft.
BODO Verständlich, wer will diese Nachrichten hören. Darf ich sehen, womit du eine so immense Ausgabe finanzieren kannst?
Bodo sieht sich das Bild lange an. Lotte schaltet das Radio aus.
BODO Es wird ein Meisterwerk, Lotte.
LOTTE Darin stecken jetzt schon fast sechs Monate Arbeit.
BODO Gut Ding will Weile haben.
LOTTE Ich habe diese Künstlerallüren von der schweren Geburt des Werkes immer verachtet, aber dieses … Ding … egal, ich male zum Ausgleich Potsdamer Ansichten.
BODO Kann ich sie sehen?
LOTTE Alle schon beim Galeristen.
BODO Ja, die Kunst geht nach Brot, darauf kann man sich zumindest verlassen.
LOTTE Ich male sie, weil es mich entspannt und weil ich dann einen Tag aus der Stadt komme.
BODO Das war nicht böse gemeint. Wer bin ich, das zu verurteilen: ein Köter, der nach jedem Brosamen schnappt, der vom Tisch fällt. Eine Mietfeder und es ist kein sonderlicher Trost, dass man mit solchen wie mir in Berlin gerade Straßen pflastern kann.
LOTTE Und wer mietet dich? Sei ehrlich.
BODO Irre ich mich oder bekommt das Gespräch gerade einen leicht inquisitorischen Charakter?
LOTTE Schreibst du für dieses Naziblatt?
BODO Ich weiß nicht, was du meinst.
LOTTE Ernst meint, er hätte deine Initialen unter einem Artikel im Völkischen Beobachter gelesen.
BODO Dann hast du ihn doch hoffentlich gefragt, warum er so eine Zeitung liest.
LOTTE Ernst liest alles, was er in die Finger bekommt.
Stille.
BODO Ja, ich schreibe manchmal für diese Leute, sie bezahlen gut, ich muss leben. Ernst als Festangestellter kann sich moralische Grundsätze leisten – übrigens in einem zutiefst reaktionären Theater – ich kann mit meinen Idealen leider nicht die Wohnung heizen.
LOTTE Diese Leute sind gefährlich.
BODO Sie werden dämonisiert. Sie kämpfen für Leute, die nicht so viel Glück und Talent haben wie du beispielsweise, die Menschen haben Angst, machen sich Sorgen, über ihre Existenz, über Deutschland, das muss man respektieren.
LOTTE So wie sie die Juden respektieren?
BODO Leg das nicht auf die Goldwaage, dieser Antisemitismus ist im Kern ein Antikapitalismus, das ist die eigentliche Stoßrichtung und gegen die Auswüchse des Börsenkapitalismus zu sein, ist nachvollziehbar, oder? Außerdem wirst auch du nicht bestreiten können, dass ein Großteil des Finanzkapitals in jüdischen Händen liegt. Das wird man wohl noch sagen dürfen, oder?
LOTTE Da wird der alte Sauerteig breit getreten.
BODO Das ist eine junge Bewegung.
LOTTE Junge Arbeitslose, die man fürs Brüllen und Zuschlagen bezahlt.
BODO Studenten, vierzig Prozent an den Universitäten. Soll man der Jugend verwehren, eine bessere Zukunft zu denken? Die Demokratie hat versagt, Brüning regiert mit Notverordnungen, wer nimmt die Quasselbude denn noch ernst? Die Jungen schon lange nicht mehr, die wollen politische Führer, die ihnen sagen, wo es lang geht, die wollen Gemeinschaft, die wollen, dass ihnen jemand zuhört, die wollen sich in ihrer Regierung wiederfinden, in der Gesellschaft, in der sie leben und übrigens auch in der Kunst. Mit uns kommt eine neue Kunst. Die ganzen Experimente, Expressionismus, Dada, Kubismus … das war Kunst für rebellierende höhere Töchter oder versnobte Knaben, die sich interessant machen wollten. Die neue Sachlichkeit war Schonungslosigkeit für eine Bourgeoisie, die sich den ganzen Tag schonen konnte und in der Kunst den abendlichen Kitzel der Lustmörder, Huren und Krüppel suchte – falls sie das nicht bei Herrn Brecht am Schiffbauerdamm auf der Bühne besichtigen. Eine kleine Blase bürgerlicher Revolutionäre, der Rest die Nachäfferei kleiner Büromädchen, die Mode mit Moderne verwechseln.
LOTTE Du verschwendest deine Zeit, meine übrigens auch.
BODO Du solltest nicht so schlecht von Leuten denken, die genau deine Kunst zu schätzen wissen. Deine Meisterschaft. Übrigens hat dich diese ganze sogenannte Avantgarde auch nie interessiert, du hast bei diesem Rattenrennen nie mitgemacht, du hast Haltung bewahrt und getan, was du tun musstest, und das ist das Deutsche an dir.
LOTTE Ich bin aber Jüdin.
BODO Ja, das ist nun mal eine Tatsache. Aber das spielt für mich keine Rolle.
LOTTE Wie generös und mutig von dir.
BODO Ich meine es ernst.
LOTTE Es wird viel Engagement von einer Mietfeder verlangt heutzutage. Und irgendwann fängt man an zu glauben, was man schreibt, oder?
BODO Die Zeiten ändern sich, schon bald wird alles anders und wenn ich das nicht wüsste, wäre ich schon längst zugrunde gegangen.
LOTTE Ist das eine Entschuldigung?
BODO Nein, eine Erklärung in jedem Sinne des Wortes.
LOTTE Setz dich bitte, wir müssen anfangen, bevor sich das Licht ändert.
Bodo setzt sich hinter den Tisch, Lotte wirft einen Blick auf das Foto.
Den Arm auf das Geländer. Und in diesem speziellen Fall würde ich dich bitten, deine Haltung nicht zu ändern.
6. SZENE
OSTERSONNTAG, 20. APRIL 1930
Ostern, Lotte und Traute räumen den Arbeitstisch frei, packen Käse, Wurst und Brötchen aus, waschen Geschirr … Frühstücksvorbereitungen. Ernst sitzt in der Ecke und liest in der Weltbühne, vielleicht läuft das Radio.
ERNST Ich kann euch wirklich nicht helfen?
TRAUTE Bleib uns aus den Füßen, so geht es schneller.
LOTTE Sei nicht so altmodisch. Wenn er doch will?
TRAUTE Er kann es einfach nicht, du kannst einem alten Hund keine neuen Kunststücke beibringen.
ERNST Wusstet ihr eigentlich, dass Hunde ein sehr feines Gehör haben?
TRAUTE Wir sind gleich fertig.
ERNST Es war sowieso eine rhetorische Frage, ich wollte mich nur beliebt machen.
LOTTE Lass gut sein, Ernst, du bist beliebt.
Ernst vertieft sich wieder in seine Lektüre. Lotte überlegt.
LOTTE Wir nehmen den Motivtisch. Seit Monaten sitzt ihr vor einem Gastmahl, jetzt muss man das mal nutzen.
TRAUTE Und das Arrangement?
LOTTE Wollte ich sowieso überdenken.
TRAUTE Sicher?
Traute und Lotte beginnen den Motivtisch zu decken.
ERNST Die Weltbühne schreibt über die Neue Sachlichkeit. Soll ich euch vorlesen?
LOTTE Nein, danke.
ERNST Hier: „Die Sättigung durch die Wirklichkeit kann auch auf einer sehr begrenzten Berührungsfläche erfolgen – in einem Stillleben etwa oder in einer kleinen Landschaft, in einem Portrait oder wenigen Figuren.“
TRAUTE Niemand hört dir zu, Ernst.
ERNST Gleich fertig: „Es kommt auf die Bauspannung und die Atmosphäre an, auf jene innere Weite und Beweglichkeit, die selbst bei letzter Beschränkung im Gegenstand und Format zugleich greifbare Wirklichkeit und visionäre Steigerung dieser selben Wirklichkeit ist.“ Was sagt man dazu?
LOTTE „Leider lässt der detailbegrenzte Realismus unserer sogenannten jungen Kunst solche Steigerung vermissen.“ So geht es doch weiter, oder?
Kurze Stille.
ERNST Ich wusste nicht, dass du die Weltbühne liest.
LOTTE Man muss seine Feinde besser kennen als seine Freunde.
TRAUTE Mein lieber Mann, könntest du versuchen, heute Morgen alle Reizthemen zu vermeiden?
ERNST Kunst ist ein Reizthema? In einem Maleratelier?
LOTTE Nein, natürlich nicht.
ERNST Könnte ich eine Liste bekommen, welche Themen bei einem Osterfrühstück unpassend sind?
TRAUTE Deine sämtlichen Lieblingsthemen. Sprich über alles, was du uninteressant findest, dann kannst du nichts falsch machen.
ERNST Habe ich zumindest das Menschenrecht auf Notwehr? Wenn zum Beispiel dieser Wendehals von der völkischen Presse mit seiner jüdischbolschewistischen Verschwörung des Kapitals anfängt?
TRAUTE Lass ihn reden und sprich über das Wetter.
ERNST Er unterschreibt inzwischen übrigens mit vollem Namen.
LOTTE Ach Gottchen, soll er doch.
Ernst will etwas erwidern, ein Blick von Traute lässt ihn stumm bleiben. Er steht auf und betrachtet die Bilder im Atelier.
TRAUTE Werden alle kommen?
LOTTE Ich habe Maria eine Nachricht bei ihrer Hauswirtin hinterlassen. Die sagt, dass sie jetzt im Grunewald wohnt, aber das muss nicht stimmen. Sie ist weg, spurlos. Dabei hatten wir noch zwei Sitzungen vereinbart. Im Voraus bezahlte Sitzungen.
TRAUTE Machst du dir Sorgen um sie?
LOTTE Was denkst du denn? Natürlich.
TRAUTE Ich wusste nicht, dass ihr euch so nahesteht.
LOTTE Tut sie nicht und wenn, dann wüsstest du es.
Ernst lüftet ein wenig das Leintuch über „Abend über Potsdam“ und wirft einen Blick auf das Bild.
ERNST Wann malst du die Bildmitte?
LOTTE Nächste Woche, falls Maria nicht auftaucht.
ERNST Ich hätte immer angenommen, dass man vom Zentrum her arbeitet.
LOTTE Ich wollte erst die äußeren Farbverläufe.
ERNST Wir sind die dunkle Seite, Traute. Der Nazi ist bis jetzt die hellste Figur.
TRAUTE Hör doch auf.
LOTTE Es sind warme Erdfarben.
ERNST Es war nur ein Scherz.
TRAUTE Warum hast du Maria eigentlich nicht in die Mitte gesetzt?
LOTTE Lise hatte ein offeneres Gesicht.
ERNST Hatte?
LOTTE Nicht so wichtig.
TRAUTE Willst du nicht noch etwas lesen, Ernst? Oder an die frische Luft?
ERNST Ich könnte mir noch schnell Zigaretten holen.
Ernst geht.
TRAUTE Er wollte nur nett sein.
LOTTE Einen ganzen Morgen habe ich mich über diesen Artikel geärgert. Und dann noch den ganzen Nachmittag darüber, dass mich so etwas verärgert. Aber vielleicht stimmt es ja, für mich zumindest, ich schaffe die Steigerung nicht. Es ist ein Haufen stummer Menschen um ein leeres Zentrum. Pappkameraden, ohne ein Vorher und Nachher, reine Erstarrung ohne Erzählung, drei Schuss ein Groschen und dafür verschwende ich ein halbes Jahr meines Lebens.
TRAUTE Warum lädst du uns zum Frühstück ein, wenn dich das Bild nur deprimiert? Vielleicht bräuchtest du etwas Abstand davon.
LOTTE Ich habe Abstand, das ist mein Problem. Ich brauche Nähe. Ich muss hören, was da gesprochen wurde. Vor dieser Stille.
TRAUTE Aber das wird nicht mehr das Gespräch vom Spätsommer sein.
LOTTE Ihr seid auch nicht mehr diese Menschen im Spätsommer. Außer dir. Du bist dir treu geblieben, dich kenne ich noch. Den anderen will ich zuhören.
TRAUTE Und wenn Maria nicht kommt?
LOTTE Sie ist auf dem Bild sowieso mit ihren Gedanken woanders.
TRAUTE Ernst wird sich mit Bodo streiten.
LOTTE Warum nicht. Sollen sie doch.
TRAUTE Und die Kleine?
LOTTE Ich weiß es nicht. Ich muss sie beobachten, muss sehen, wie sich die Muskeln in ihrem Gesicht bewegen, wie ihr Körper sich spannt, wie sie reagiert, auch wenn ich es nicht malen kann, ich brauche irgendeinen Ausdruck.
TRAUTE Und wenn sie einfach nur ein dummes Gör ist?
LOTTE Glaubst du Vermeers Dienstmägde waren große Kirchenlichter?
TRAUTE Ich weiß nicht, was du suchst.
LOTTE Ich auch nicht. Und wenn ich es nicht finde, zerschneide ich das Bild. Ein Doppelportrait für euch zu Ostern, eine Frau in Grün für Gurlitt und Bodo kann sich aus seinem Kopf einen Lampenschirm schneidern.
Bodo kommt.
BODO Frohes Osterfest die Damen. Und vielen Dank für die Einladung. Ist es denn vollbracht?
LOTTE Nein, die Mittelfigur und Details fehlen noch.
BODO Dann haben wir noch eine Sitzung?
LOTTE Wenn du es einrichten kannst?
BODO Ich bitte darum.
LOTTE Dein rechter Arm fehlt noch.
BODO Ist mir noch gar nicht aufgefallen. Entschuldige, das war platt.
(zu Traute)
Ist Ernst heute verhindert?
Ernst kommt wieder herein.
ERNST Ich muss Sie enttäuschen.
BODO Waren wir nicht per du?
ERNST Das Du hätte nicht zu diesem dramatischen Auftritt gepasst.
BODO Polonius hinter der Tapete?
ERNST Dann wäre ich jetzt abgespielt.
TRAUTE Möchte jemand einen Kaffee?
Ernst bemerkt Bodos Parteiabzeichen.
ERNST Und stolz glänzt das Fettauge am Revers des edlen Recken. Gratulation zum Teufelspakt.
BODO Ich dachte, du schätzt Menschen, die Gesicht zeigen und ihre Haltung vertreten.
ERNST Soldatische Haltung. Und das Fähnchen flattert im Wind.
TRAUTE Lasst es gut sein.
ERNST Es ist gut, wir schärfen nur die Klingen.
TRAUTE Bei Frauen würde man sagen, sie zicken sich an.
BODO Wir verstehen uns, oder? Hast du meine Kritik gelesen?
ERNST Eine Eloge. Vielen Dank, es hat sich sofort an der Kasse bemerkbar gemacht.
BODO Ich helfe, wo ich kann.
ERNST Cum grano salis. Es bedeutet, dass ein Großteil unseres Publikums den Völkischen Beobachter liest.
BODO Es ist eine Zeitung wie jede andere auch.
ERNST Einspruch.
BODO Stattgegeben. Sie wird vom Volk gelesen. Im Gegensatz zur Systempresse.
ERNST Sagen wir, sie wird von verängstigten Kleinbürgern gelesen, das ist genauer.
LOTTE Zucker? Milch?
BODO Keine Umstände, ich bediene mich.
ERNST Ich bin schon bedient.
TRAUTE Ernst, bitte.
BODO Kommen die Fräuleins auch noch?
LOTTE Lise kommt noch, Maria wahrscheinlich nicht. Ihr habt noch ein wenig geplaudert das letzte Mal?
BODO Eine … interessante Person, Messalina in natura.
TRAUTE Wollen wir schon anfangen?
ERNST War diese Kritik eine Gefälligkeit oder mochtest du den Abend wirklich?
BODO Die Rote Fahne hat verrissen, oder?
ERNST Weil der Völkische gelobt hat.
BODO Nicht sehr souverän.
ERNST Aber immerhin gut geschrieben.
TRAUTE Bitte, es ist Ostern, vor dem Frühstück.
Lise kommt, sie hat sich offensichtlich herausgeputzt.
LISE Entschuldigung, ich bin zu spät, das tut mir leid.
LOTTE Das macht nichts, Kindchen.
ERNST Dann können wir jetzt beginnen.
Man sieht Lotte an.
LOTTE Ich werde jetzt nicht feierlich, fangt einfach an, das ist nur ein Frühstück, als kleines Dankeschön fürs Modellstehen. Also keine Förmlichkeiten, bitte.
TRAUTE Sollen wir uns auf Position platzieren?
LOTTE Nicht nötig, setzt euch so, dass ihr alle an die Schrippen kommt.
BODO Aber wir sollten vorher einen gemeinsamen feierlichen Blick auf das Bild werfen.
Lotte zieht ein Leintuch von der Staffelei.
LOTTE Die Mitte fehlt.
ERNST Ein Bild unserer Zeit.
Sie sehen sich das Bild an.
LISE Ich habe richtig Bammel vor der ersten Sitzung.
LOTTE Du kannst nichts falsch machen.
LISE Oh doch. Vielleicht kann ich nicht so lange stillsitzen. Oder ich werde rot, weil man mich so genau betrachtet, mich hat noch nie jemand so lange angesehen und wer weiß, was Sie dann so alles sehen und wie ich dann sehe, wie Sie mich sehen, und vielleicht haben Sie dann Recht und nicht mein Spiegel, weil Sie genauer hingucken … ich weiß auch nicht, das ist wie bei den Hottentotten, die Angst haben, dass man ihnen die Seele klaut, wenn man sie fotografiert.
Lachen.
TRAUTE Na, wenn dir danach was fehlt, weißt du ja, wen du fragen kannst.
LISE Oder vielleicht muss ich auch lächeln, wenn ich da so Stunden stillsitze und nachdenke.
BODO Vielleicht sollst du ja lächeln.
LISE Hoffentlich, ich könnte nämlich den ganzen Tag lächeln.
ERNST Da gehörst du zu einer kleinen Minderheit im Reich.
LISE Ach nein, das hat private Gründe.
Ernst summt Lehárs „Lächeln, immer nur lächeln“.
BODO Nehmen wir uns einen Moment der Stille vor dem Werk. Lotte macht uns unsterblich.
LOTTE Nun bleib mal auf dem Teppich. Zu Tisch.
ERNST Unsterblich? Ich würde sagen, es kommt darauf an.
TRAUTE Worauf denn?
ERNST Wer weiß, was aus der bildenden Kunst wird, wenn ein gewisser Herr an die Macht kommt, der als Maler kläglich gescheitert ist.
BODO Da der Führer eine Künstlernatur ist, hat er großes Verständnis für die bildende Kunst.
ERNST Du sagst wirklich „Führer“?
LISE Aber das sagen doch alle, oder?
ERNST Ich fasse es nicht.
TRAUTE Das ist jetzt egal, sehen wir uns das Bild an.
LOTTE Nun lasst den Kokolores, das Bild ist noch nicht fertig, jetzt wird gegessen.
LISE Danke, Frau Laserstein, ich hab solchen Kohldampf. Ich bin ja auch noch gar nicht auf dem Bild.
LOTTE (lacht) Ganz genau.
Alle gehen langsam zum Tisch und beginnen zu frühstücken.
LISE Ich kann auch nicht so lange, ich werde nachher noch abgeholt.
ERNST Immer dran denken: Nur zugeben, was man dir nachweisen kann.
TRAUTE Nun frag doch einer das Mädchen endlich, die platzt uns sonst.
LOTTE Da muss man doch nicht fragen, das sieht man an der Nasenspitze.
ERNST (singt) Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt, das ist meine Welt …
LISE Haben Sie den gesehen? Ist der nicht spitze?
TRAUTE Du wolltest doch was erzählen.
LISE Nein, das passt, da war ich nämlich mit ihm drin, zwei Stunden standen wir an, da kannten wir uns gerade eine Woche, und er wollte erst nicht, aber ich habe gesagt, ich bin das Mädchen, ich suche den Film aus, so gehört sich das: Das Mädchen sucht aus und der Junge zahlt.
ERNST Stimmt, das ist fair.
TRAUTE Wie heißt denn der Glückliche?
LISE Richard! Richard Mahlow.
LOTTE Wie hast du ihn denn kennengelernt?
LISE Das ist eine ganz verrückte Geschichte. Ich muss ja zur Arbeit Jannowitzbrücke umsteigen und da stand er immer an der Treppe und hat mir Flugblätter in die Hand gedrückt und immer so nett gelächelt und eines Abends fragt er mich, ob ich die auch wirklich lese, habe ich nicht, habe ich ihm auch gesagt, und dass mir das leidtut. Ich bin eben immer so müde nach Feierabend und dann sagt er, egal, wir können ja irgendwann zusammen ausgehen und dann erklärt er mir das alles. Und das hat er so nett gesagt und dann sind wir einen Samstag auf den Schlesischen Rummel.
TRAUTE Ist das nicht gefährlich da?
LISE Da waren noch ein paar Kameraden dabei und das sind Jungs, an die sich keiner rantraut. Wenn die in Uniform übern Rummel gehen … aber das müssen sie auch, damit sie nicht angegriffen werden. Richard haben sie im Winter in der Mulackei abgepasst und verdroschen, einfach so. Weil die das nicht haben können, dass einer sagt, was er denkt, und dafür einsteht, und in der Presse heißt es dann, die würden den Krawall machen.
ERNST Können wir das Thema wechseln?
BODO Lass sie doch erzählen.
ERNST Entschuldigung, ich muss mir hier nicht die Casinoballade vom aufrechten SA-Mann anhören! Wirklich nicht!
Kurze Stille.
BODO Darf sich das Mädchen nicht verlieben? Das ist eine ganz private Geschichte, da sollte man sich einfach mitfreuen.
ERNST Der nette Kerl, der verdroschen wird. Wir reden hier über die übelsten Schlägertypen von Berlin und wenn dieses Mädel mit einem Sturmtrupp übern Rummel marschiert, ist das politisch. Wenn einer Flugblätter verteilt auch und wenn einer von der SA durchs Scheunenviertel marschiert, will er Radau, damit die Bewegung wieder einen Grund hat, auf ihre Feinde loszugehen.
LISE Das stimmt überhaupt nicht! Die werden angegriffen, das sind alles Presselügen.
ERNST Bodo, ich appelliere an deinen Verstand. Willst du mir hier erzählen, dass die SA friedliche Pfadfinder sind, die von neidischen bolschewistischen Bestien angegriffen werden? Ist das deine Meinung?
BODO Natürlich schlagen sie manchmal über die Stränge …
ERNST Über die Stränge? Eine Truppe, welche die öffentliche Ordnung massiv zerstört, um sich dann als Retter der öffentlichen Ordnung anzubiedern? Rechtfertigst du den Straßenterror?
BODO Das sind Randerscheinungen …
ERNST Randerscheinungen?!
BODO Solltest du mich als Demokrat nicht ausreden lassen? Danke. Es sind Randerscheinungen, die von der Parteileitung auch verurteilt werden. Aber grundsätzlich muss man die Sorgen des Volkes ernst nehmen, die Krise ist real, die Arbeitslosigkeit, der Schandvertrag von Versailles, die Demütigung des Deutschen Reiches. Und Brüning regiert mit Notverordnungen, die Demokratie ist am Ende, weil sie eine Regierungsform für Schönwetterzeiten ist. Im Sturm braucht es einen Kapitän, der sagt, wo es langgeht.
ERNST Diktatur.
BODO Ich sage nur, dass die Demokratie nicht funktioniert. Und dass die Menschen Hoffnung brauchen. Arbeit. Und Brot! Und dass die Deutschen das Recht haben, auf ihr Land stolz zu sein.
LISE Genau.
TRAUTE Ich glaube, das genügt.
BODO Ich habe damit nicht angefangen. Ernst scheint von diesem Thema besessen zu sein.
ERNST Ich habe diese ewige Propaganda satt! Ich will nicht bei einem Osterfrühstück diese Lügen hören.
BODO Wenn du das sowieso für Propaganda hältst, dann solltest du mich vielleicht nicht provozieren!
ERNST Das ist der Terror, der sich als Vaterlandsliebe tarnt. Und du machst ihnen den Leierkastenmann, weil es für einen Saint-Just nicht reicht.
TRAUTE Lass es, Ernst, auch wenn du gerne diskutierst, man muss auch mal fünf Minuten Ruhe von der Politik haben!
Ein Moment der Stille, alle sitzen in sich versunken am Tisch, es ähnelt dem Motiv des Gemäldes.
ERNST Ich gehe mal kurz an die frische Luft.
Ernst steht auf und geht ab. Stille.
LISE Ist das jetzt meine Schuld? Hätte ich das nicht erzählen sollen?
TRAUTE Das konntest du nicht wissen.
LISE (zu Bodo) Aber Sie verstehen, was ich sagen wollte.
Bodo steht auf.
BODO Ich glaube, es ist besser, wenn ich jetzt aufbreche. Ich möchte nicht die Stimmung verderben und wenn Ernst noch bleiben will, dann muss ich es wohl sein, der das Feld räumt.
LOTTE Tut mir leid, ich dachte, es ist eine Verständigung möglich.
Ernst kommt wieder herein und bleibt an der Tür stehen.
BODO Vielleicht ist die Zeit der Verständigung einfach vorbei, so bedauerlich ich das auch finde. Empfehle mich.
Bodo küsst Lotte die Hand, nickt den anderen kurz zu und geht ab. Stille.
LISE Richard ist nicht so, er ist ein ganz lieber Mensch und er ist voller Hoffnung, er glaubt an etwas und das kommt von Herzen. Das spürt man doch. Jeder will an etwas glauben, oder? So ein stolzer Mensch, der macht einen auch selbst stolz. Er kommt gleich, ich kann ihn kurz hochbitten, ihr werdet sehen, dass er ganz anders ist.
LOTTE Ich glaube, das ist heute keine gute Idee, Lise.
ERNST Wenn hier jetzt ein SA-Mann hereinmarschiert, kann ich für nichts garantieren.
Lise steht auf.
LISE Wegen Leuten wie Ihnen …
ERNST Ja? Was?
LISE Der kämpft auch für Sie.
LOTTE Schon gut, Lise, mach dir einen schönen Ostersonntag.
Lise geht ab. Ernst zittert vor Wut, Traute will ihn umarmen, Ernst wehrt sie ab.
ERNST Jetzt bitte nicht. Ich „diskutiere“ lieber.
TRAUTE Das war dumm von mir, tut mir leid.
ERNST Ich hätte mir das nicht antun sollen. Das geht mir an die Nieren. Und da bin ich wohl leider der Einzige. Wundert mich. Hätte ich nicht erwartet.
LOTTE Du hast ja Recht.
ERNST Das wäre vor fünf Minuten ein wunderbarer und hilfreicher Satz gewesen. Ich gehe jetzt.
Ernst nimmt seinen Mantel.
TRAUTE Bleib bitte hier.
ERNST Ich versuche hier das Leben zu verteidigen, dass nicht nur ich führe, sondern ihr auch, gerade ihr. Aber komischerweise war ich der Querulant, weil diese Nazibrut peinlich berührt ist, wenn man ihren Lügen widerspricht. Ich, ich war hier der Störenfried, weil ich das nicht hinnehmen will, und muss mir anhören, dass ich gerne diskutiere …
TRAUTE Ich habe gesagt, dass es mir leidtut!
ERNST Das bringt mir jetzt nichts mehr! Die konnten sich als die bürgerliche Normalität inszenieren, als nette Menschen, die voller Sorgen sind und Träume haben, und das ist das Schlimme! Versteht ihr das nicht? Ich habe einen Redakteur beleidigt, der mir Gutes will und einer blonden deutschen Maid die große Liebe madig gemacht, so sind die hier rausmarschiert, als empörte Unschuld. Dabei reden wir über Totschläger, Rassefanatiker, Büttel der Großindustrie … über den Hass im Schafspelz und ihr haltet den Mund, ihr haltet einfach den Mund!
LOTTE Ernst. Ich bin Jüdin. Ich bin eine berufstätige Frau. Ich bin alleinstehend. Ich bin eine der ersten Frauen, die auf der Akademie zugelassen wurde. Ich stehe auf allen schwarzen Listen ganz oben. Ich kann es mir nicht leisten.
ERNST Das musst du dir aber leisten, gerade du. Ich bin Deutscher, blond, Vorfahren im Märkischen seit vierhundert Jahren, Dramaturg eines Possentheaters in einem Nazibezirk. Ich bin nicht in Gefahr. Du schon.
LOTTE Das habe ich doch gerade gesagt. Aber ich bin Malerin, ich habe nicht die Kraft und den Willen, dauernd meine Meinung vor mir herzutragen.
ERNST Das könnte ja deine Karriere gefährden. Deine Kunden. Aber manchmal muss man es sich mit Leuten verderben.
LOTTE So wie du.
ERNST Ich gehe jetzt, ich habe genug Porzellan zerschlagen. Hast du genug Geld für ein Taxi, Traute?
TRAUTE Ich komme mit.
ERNST (zu Lotte) Ich werde dich sicher morgen anrufen und mich für alles entschuldigen, was heute passiert ist. Heute schaffe ich das noch nicht.
Ernst ab. Traute umarmt Lotte.
TRAUTE Ich kann ihn jetzt nicht alleine lassen. Er nimmt sich immer alles so zu Herzen.
LOTTE Rufst du mich an?
TRAUTE Ja.
LOTTE Bald?
TRAUTE Ja.
LOTTE Habe ich etwas falsch gemacht?
TRAUTE Ich weiß es nicht. Ich muss zu Ernst.
Traute ab.
7. SZENE
MAI 1930
LOTTE Sehr geehrter Herr Gurlitt, lange habe ich Sie um einen Besuch im Atelier gebeten und nun, da Sie den Wunsch geäußert haben, meine neuen Arbeiten zu sehen, muss ich Ihnen leider absagen. Oder um eine Verschiebung bitten, um genau zu sein. Ich muss an dem beschriebenen Werk noch einen Schritt weiterkommen, um selbst beurteilen zu können, ob es sich lohnt, dass ein vielbeschäftigter Mann wie Sie den Weg nach Friedenau dafür auf sich nimmt. Ich habe Ihnen schon im letzten Brief beschrieben, welches Eigenleben dieses Bild für mich entwickelt hat und wenn Sie nun den Kopf schütteln, weil das sicher dem üblichen Künstlergeschwätz ähnelt, muss ich das hinnehmen. Das Bild braucht noch eine klare Entscheidung, dann wird sich weisen, ob es für eine Galerie oder eine Schießbude im Lunapark taugt. Nicht dass das Werk wider mich aufsteht, solche Schnurren sind bei Hoffmann besser aufgehoben als in einem Brief an einen Galeristen. Aber ich fürchte Entscheidungen, denn alles, was ich male, verschwindet. Ich habe währenddessen ein Selbstportrait mit Modell gemalt, welches mir gelungen erscheint. Es ist stilistisch den Impressionisten näher als die vorigen Werke und ein Liebermannscher Trost geht von dem Bild aus, der mir den Mut gibt, manchmal wieder einen Blick auf meinen Fluch zu werfen. Aber ich bin eine Kämpfernatur, ich werde bald berichten können, ob das Bild galeriewürdig ist oder kommenden Winter mein Atelier heizen wird.
8. SZENE
JUNI 1930
Lotte legt eine Platte von Beniamino Gigli auf. Dann beginnt sie den Motivtisch mit den Requisiten zu decken. Es klopft, Maria kommt herein, ihre Haare sind nun wasserstoffblond gefärbt, es wächst am Ansatz schon dunkel nach, ihr gesamtes Erscheinungsbild ist abgerissen und etwas verwahrlost, sie trägt einen zu roten Lippenstift und wirkt übermüdet. Lotte sieht sie einen Moment staunend an.
MARIA Erkennen Sie mich nicht mehr, Frau Laserstein? Habe ich mich so verändert?
LOTTE Nein, ich habe nur nicht damit gerechnet, dich wiederzusehen.
MARIA Darf ich hereinkommen?
LOTTE Bitte sehr.
Lotte macht die Platte aus, Maria setzt sich, zieht ihre Schuhe aus und reibt sich die schmerzenden Füße, sie sieht sich um und bemerkt das Bild.
MARIA Es wird schön.
LOTTE Ich habe einen Monat Pause gemacht. Gerade wollte ich den Motivtisch wieder einrichten.
MARIA Dann komme ich ja genau richtig.
LOTTE Du kommst vier Monate zu spät. Wir hatten einen Termin.
MARIA Ich war da. Aber Sie nicht.
LOTTE Und wann?
MARIA Vor vier Monaten? Ich habe einen Zettel an die Tür gesteckt.
LOTTE Ich habe nichts gefunden.
MARIA Mit allem. Mit Adresse und allem. Sie können sich auf mich verlassen.
LOTTE Warum hast du es nicht nochmal probiert?
MARIA Ich konnte nicht.
LOTTE Wo warst du? MARIA Jetzt bin ich da. Ist nicht meine Schuld.
Kurze Stille.
LOTTE Willst du einen Kaffee?
Lotte bringt ihr einen Kaffee.
MARIA Schön, wie der Tisch gedeckt ist. Wie im Sommer.
LOTTE Greif zu.
MARIA Aber das ist für das Bild.
LOTTE Hast du Hunger oder nicht?
MARIA Darf ich?
Lotte nickt, Maria geht zum Tisch und beginnt zögernd zu essen, dann immer gieriger. Lotte beobachtet sie.
LOTTE Wie geht es deiner Mutter?
MARIA Zurück in Białystok, sie war krank. Ich konnte ihr nicht mehr helfen.
LOTTE War?
MARIA Ist krank. War. Ich weiß nicht. Sie dürfen mich nicht so ansehen, Frau Laserstein, ich will das nicht.
LOTTE Das gehört zu meinem Beruf.
MARIA Aber man sieht nicht zu, wie Leute essen. Nur gemeine Menschen wollen sehen, wie andere essen, wenn sie hungrig sind. Wollen Sie so etwas sehen? Nein, oder? Wollen Sie sehen, wie ich scheiße? Nein. Oder wie ich von einem Mann gefickt werde? Nein, wollen Sie nicht, weil man das nicht tut, wenn man nicht ein Schwein ist. Sie sind kein Schwein, also schauen Sie nicht zu. Bitte.
Lotte geht zum anderen Tisch, nimmt sich Kaffee, sieht Maria nicht mehr an.
LOTTE Iss nicht so viel auf einmal, dein Magen muss sich wieder gewöhnen.
MARIA Ich weiß, wie ich essen muss.
LOTTE Du kannst dir den Rest einpacken.
MARIA Danke. Es ist nicht für mich.
LOTTE Sagst du mir, für wen?
MARIA Freunde, die auf mich aufpassen. Haben Sie ein Tuch oder eine Tasche?
Lotte wirft ihr ein Tuch hin, Maria packt die restlichen Esswaren vom Tisch in das Tuch.
Und Sie? Ist alles gut bei Ihnen?
LOTTE Alles gut.
MARIA Auf Ihnen ruht ein Segen. Noch einen Kaffee, dann fangen wir an, ja? Haben Sie das Kleid?
Lotte sucht in einer Kiste nach dem grünen Kleid und gibt es ihr. Maria zieht ihr Kleid aus, darunter hat sie verschlissene Unterwäsche, sie hat blaue Flecken und entzündete Schürfungen an den Oberschenkeln und den Armen. Lotte sieht sie an.
MARIA Sie finden mich schön, oder? Ich weiß das, ich kenne diesen Blick. Schauen Sie ruhig.
LOTTE Was ist passiert?
MARIA Was wollen Sie sehen?
LOTTE Was ist los mit dir?
Sie mustern sich.
Ich habe dich was gefragt.
MARIA Du bist nicht meine Mutter, du Fotze.
Stille.
LOTTE Raus hier.
MARIA Willst du nicht, dass ich so mit dir spreche? Ich kann auch anders. Ganz wie du willst.
LOTTE Ich habe gesagt, raus hier.
MARIA Dann will ich das Geld für die letzten Sitzungen. Sie haben mich betrogen, ich will sofort, was mir zusteht.
LOTTE Raus, sofort, ich sage es nicht nochmal.
MARIA Ich kann auch sagen, dass Sie mich angefasst haben, mich küssen wollten. Wenn das meine Freunde erfahren, werden sie sehr wütend. Sie müssen mir nur das Geld für die Sitzungen geben, dann ist alles gut.
Lotte geht zu Maria, dann gibt sie ihr eine schallende Ohrfeige.
LOTTE So redest du nicht mit mir! Verstanden?
Maria hält sich die Wange. Stille.
MARIA Entschuldigung.
Lotte geht zu der Kaffeedose und entnimmt ihr einen Zehnmarkschein, gibt ihn Maria.
LOTTE Du weißt genau, dass ich dir nichts schulde. Das ist ein Geschenk. Wie das Essen. Ich will nichts von dir. Ich will auch nicht wissen, warum du im Gefängnis warst. Oder ob du anschaffen gehst, wer deine Freunde sind. Interessiert mich nicht. Ich bin dir gut. Noch. Aber überspann den Bogen nicht. Ist das klar?
Maria nickt.
MARIA Meine Mutter ist krank. Ich muss ihr Geld schicken.
LOTTE Ich habe dir gerade welches gegeben.
MARIA Danke.
LOTTE Was ist das an deinen Schenkeln?
MARIA Weiß nicht mehr.
LOTTE Es hat sich entzündet, du musst Jod darauf machen.
MARIA Das ist nicht schlimm.
Lotte holt Watte und ein Jodfläschchen.
LOTTE Hier, mach das auf die Wunde.
MARIA Machen Sie, ich kann das nicht.
Lotte zögert kurz, dann kniet sie vor Maria und tupft vorsichtig die Wunde ab.
MARIA Es waren drei. Erst nur einer, plötzlich kamen noch zwei.
LOTTE Deine Freunde?
Maria schüttelt den Kopf, dann fährt sie Lotte einmal durch die Haare.
MARIA Sie sind ein guter Mensch.
Lotte steht auf, bringt das Fläschchen weg.
LOTTE Du stinkst, du musst dich waschen. Drüben im Schüleratelier ist eine Schüssel und Seife. Nimm das Handtuch, das neben dem Wasserhahn hängt. Ich sehe nach, ob ich noch Ersatzwäsche für dich habe.
Maria geht ab, Lotte beginnt in den Kisten unter dem Arbeitstisch zu suchen. Lise kommt.
LOTTE Lise, kannst du mir Unterwäsche leihen?
LISE Sie haben doch gar nicht meine Größe.
LOTTE Es ist nicht für mich. Warte, ich habe hier etwas. Kannst du es Maria bringen? Sie wäscht sich im kleinen Atelier.
Lise wirkt völlig verständnislos.
Nun sieh mich nicht an wie eine Kuh beim Blitz, bring es ihr schnell. Ihr seid ein Alter, dann ist es einfacher.
LISE Wieso einfacher? Daran ist nichts schwierig.
LOTTE Herrgott, dann mache ich es eben selbst.
LISE Ich komm später wieder.
LOTTE Was immer du jetzt denkst, ist falsch.
Maria kommt wieder, sie hat nur ein Handtuch um. Lise starrt sie an.
LOTTE Willst du deine alten Sachen mitnehmen?
MARIA Ja.
LOTTE Zieh dich um, ich packe sie dir inzwischen ein, hier sind frische Sachen.
Lotte ab. Maria setzt sich.
LOTTE (off) Du hast ja alles unter Wasser gesetzt!
MARIA Entschuldigung, ich mache gleich sauber.
LOTTE (off) Nein, lass, zieh dich an, ich mache das schnell.
MARIA Du bist das Mädchen, das in die Mitte soll, oder?
LISE Warum fragst du, wenn du es weißt?
MARIA Warum guckst du so böse? Du musst nicht eifersüchtig sein.
LISE Willst du dir nicht was anziehen?
MARIA Du wolltest wissen, wie ich mich schminke. Ich erinnere mich.
LISE Das will mein Freund nicht.
MARIA (lacht) Keine Schminke bei seinem Mädchen? Ist er ein Bauer?
LISE Nicht so eine Schminke. Zieh dich endlich mal an.
MARIA Dann dreh dich um, ich bin schüchtern.
LISE Kann ich mir nicht vorstellen.
MARIA Dann sieh es dir eben an, wenn du gern möchtest.
LISE Muss nicht sein.
Lise dreht sich um, Maria schlüpft in die neue Unterwäsche, packt schnell die Kaffeedose mit dem Geld in das Tuch, streift sich dann das grüne Kleid über und nimmt das Tuch mit den Esswaren. Sie geht zur Tür, Lise dreht sich wieder um.
LISE Was gibt das denn?
Maria ab. Lise zögert, ob sie ihr hinterhergehen soll.
LISE Lotte?
Lotte kommt wieder herein.
LISE Sie ist weg. Irgendwas stimmt da nicht. Lise bemerkt, dass die Kaffeedose fehlt. Die hat Sie beklaut! Diese Nutte hat Ihre Geldbüchse geklaut.
Lise will Maria hinterher. Lotte hält sie auf.
LOTTE Das ist in Ordnung so. Das wollte ich ihr sowieso geben, alles gut.
LISE Das stimmt doch nicht.
LOTTE Es waren nur noch fünfzig Mark drin.
LISE Ja und? Das ist viel Geld.
LOTTE Und es ist mein Geld. Lass gut sein.
Lise sieht Lotte misstrauisch an.
LISE Sie wollen mich für dumm verkaufen.
LOTTE Sie war in Not, ich habe ihr geholfen.
LISE Und dann beklaut Sie diese Polackenhure und Ihnen ist das schnurzegal? Das ist pervers. Jetzt zieht sie weiter und schädigt andere und das ist dann Ihre Schuld. Weil Sie das zulassen.
LOTTE Beruhige dich, es gibt Wichtigeres als fünfzig Mark.
LISE Wenn Sie ohne Strafe davonkommt, weil Ihnen das gleichgültig ist, sind Sie moralisch genauso verkommen wie die!
LOTTE Du hast keine Ahnung, Kindchen!
LISE Sie lassen Gesindel davonkommen und das gehört sich nicht. Oder Sie haben mich angelogen.
LOTTE Ist dir das Wort Mitgefühl geläufig? Aus dem Konfirmandenunterricht oder dem Weihnachtsgottesdienst?
LISE Ich habe Mitgefühl mit dem armen Deutschen, den sie als Nächstes bestiehlt, weil Sie etwas für Judenhuren übrig haben.
Lise ab.
9. SZENE
JULI 1930
Lotte alleine.
LOTTE Liebes Hundchen, ich habe ein Problem, das ich nur mit dir lösen kann. Könntest du bitte recht bald zu mir kommen? Ich bin diese Woche jeden Tag ab zwei Uhr im Atelier. Komm, wann immer du Zeit hast, ich bitte dich und ich warte auf dich. Dein Lotteken.
Nach Ende des Briefes kommt Traute herein, Lotte umarmt sie.
TRAUTE Was ist passiert?
LOTTE Danke, dass du gleich gekommen bist.
TRAUTE Was ist denn?
LOTTE Kannst du für Marias Beine Modell stehen? Sie kommt nicht mehr.
Stille.
TRAUTE Deswegen schickst du mir einen Rohrpostbrief? Weißt du, was für Sorgen ich mir um dich gemacht habe? Ich dachte, es ist wer weiß was passiert, ich habe alles abgesagt … dafür?
LOTTE Ich bin dir sehr dankbar. Ich muss dieses Bild beenden, sonst erdrückt es mich.
TRAUTE Kannst du immer nur an dich denken? Weißt du, was bei Ernst und mir gerade los ist?
LOTTE Nein, woher soll ich das wissen, du lässt ja nichts mehr von dir hören.
TRAUTE Es geht nicht immer nur um dich auf der Welt.
LOTTE Wen hätte ich sonst fragen sollen?
TRAUTE Ich habe gesagt, ich melde mich bei dir!
LOTTE Aber das hast du nicht getan!
TRAUTE Lotte … wirklich …
Traute will gehen, Lotte hält sie auf, umarmt sie.
LOTTE Hundchen, nicht gehen, bitte nicht gehen. Bitte!
Lotte und Traute stehen umarmt, Traute beginnt Lotte über die Haare zu streichen. Lotte lässt Traute unvermittelt los und setzt sich.
Entschuldige.
TRAUTE Schon gut.
LOTTE Ich will dich nicht auch noch verlieren.
TRAUTE Was redest du denn da?
LOTTE Wen habe ich noch außer dir.
Traute setzt sich neben Lotte.
Ich habe Kopfschmerzen.
TRAUTE Alles gut, Lotteken, du arbeitest nur zu viel.
LOTTE Zu wenig. Oder das Falsche, ich weiß überhaupt nicht mehr weiter.
Traute legt den Arm um sie.
TRAUTE Das Bild von uns beiden ist wunderschön geworden.
LOTTE Ich brauche keinen Kindertrost. Du bist schön darauf, ja. Aber ich sehe aus wie ein blasierter barocker Malerfürst, alles nur Pose und Kunsthandwerk. Egal. Nicht jammern, klar bleiben. Fehler sehen. Niederlagen eingestehen.
TRAUTE Du hast immer gesagt, dass Zweifel dazugehören.
LOTTE Akademiegeschwätz, Künstlerweirauch … sieh dir das Potsdamer Bild an. Fällt dir etwas auf?
Traute sieht sich „Abend über Potsdam“ an.
TRAUTE Es wird immer besser.
LOTTE Sieh genau hin. Bodos Arm auf der Brüstung setzt zu hoch an, seine Hände sind Pranken, die Rechte kommt zu steil von unten, anatomisch unmöglich, passt nicht zum Oberarmansatz … Frankensteins Monster.
TRAUTE Wenn du ihn so siehst.
LOTTE Ach was. Er hat nicht mehr auf meine Briefe reagiert, ich habe nach dem Foto gemalt, Pfusch, überall Pfusch auf diesem Bild. Ich habe kein Talent für große Formate. Oder für gar nichts, ich habe keine Kontrolle über das Bild, damit bin ich erledigt.
TRAUTE Der leere Tisch gefällt mir besser. Es passt zur Stimmung.
LOTTE Leere Tische und Brot kann jeder meiner Schüler nach der ersten Stunde.
TRAUTE Hör auf, dir so unendlich leidzutun. Vier Millionen in dieser Stadt hätten gern deine Probleme.
Traute geht zum Grammofon, sucht eine Platte heraus und legt sie auf: Greta Keller: „Das Lied vom schwachen Stündchen“. Sie hören zu, sehen sich an, dann streckt Traute den Arm aus, Lotte reagiert nicht, Traute beginnt zu tanzen, Lotte sieht ihr eine Weile zu, dann kommt sie zu Traute, sie tanzen bis zum Ende des Liedes, dann nimmt Traute Lottes Hand und küsst sie.
TRAUTE Vielen Dank, Madame.
LOTTE Nochmal?
Traute schüttelt den Kopf.
TRAUTE Soll ich dir die Füße massieren?
LOTTE Würdest du?
Lotte zieht ihre Schuhe und Strümpfe aus.
TRAUTE Leg dich hin.
Lotte legt sich auf das Sofa. Traute beginnt, ihre Füße zu massieren.
LOTTE Du kannst das so gut.
TRAUTE Irgendwas muss ich auch können.
LOTTE Sei nicht so schrecklich kokett.
Stille, Traute massiert Lottes Füße.
Weißt du, wann du mir das letzte Mal die Füße massiert hast?
TRAUTE Als wir in Holland waren vor zwei Jahren.
LOTTE In dem Hotel an der Keizersgracht, nach dem Tag im Rijksmuseum. Weil ich so dumm war, mit hochhackigen Schuhen ins Museum zu gehen.
TRAUTE Weil du dich dafür schöner gemacht hast als für den Abend in der Bar. Sechs Stunden.
LOTTE Ich habe dich nicht gezwungen, mich zu begleiten.
TRAUTE Doch, das hast du.
LOTTE Man muss das im Original sehen. Und da ist diese dumme Idee entstanden, dieses Bild zu malen. Vor all diesen Gilden und Kaufleuten, den Dienstmägden und Kupplerinnen, den satten roten Gesichtern, der Selbstzufriedenheit der Pfeffersäcke, vor ihrem Witz, ihrer Intelligenz, ihrem Bürgersinn und dem Selbstbewusstsein, in einer goldenen Republik zu leben. Der Spott und die Menschenliebe dieser Maler, das warme Licht und diese Farben … und dann will man das auch als dummes Akademiehuhn. Ein kolossaler Irrtum, eine grandiose Selbstüberschätzung.
TRAUTE Es war schön, das mit dir zu sehen.
LOTTE Alles war schön in Holland. Auch die versoffene Idee, ein Abendmahl zu malen, nicht mit einem Christus in der Mitte, sondern mit einer Frau, einem Backfisch, einem Büromädchen mit Kodderschnauze und einem frechen Gesicht. Wenn die Holländer aus ihrem Christus einen friesischen Bauern machen können, dann mache ich daraus eine Berliner Göre, der die Zukunft gehört. Wahrscheinlich gibt es da oben einen alttestamentarischen Gott, der mich für diese Hybris bestraft, und es ist ihm egal, ob ich an ihn glaube oder nicht.
TRAUTE Holland war unsere schönste Zeit.
Lotte richtet sich auf.
LOTTE Hundchen, was soll das?
TRAUTE Was ist?
LOTTE Du legst so einen pastoralen Ton auf, ich fühle mich wie auf meiner eigenen Aussegnung.
Kurze Stille.
TRAUTE Ernst hat ein Angebot, ans Ronacher nach Wien zu gehen. Er fühlt sich nicht mehr wohl in Berlin.
LOTTE Man kann nicht von Berlin nach Wien ziehen. Das ist widernatürlich.
TRAUTE Er hat Angst, dass es nicht mehr lange gutgeht in Deutschland.
Stille.
TRAUTE Noch ist nichts entschieden.
LOTTE Wer entscheidet?
TRAUTE Wir beide. Aber er verdient natürlich das Geld.
LOTTE So schlimm wird es nicht kommen mit Deutschland.
TRAUTE Ich würde auch lieber bleiben.
Stille.
LOTTE Alle auf diesem Bild verlassen mich, alle. Und du jetzt auch.
TRAUTE Das hat nichts mit dir zu tun.
LOTTE Nein, die einen gehen wegen der anderen und ich kann es mir nur ansehen, ansehen, wie alles zerbricht und in tausend Scherben fällt.
TRAUTE Dann beende es. Schaff es dir von der Seele.
LOTTE Mit einem kleinen Nazimädchen in der Mitte? Einem antisemitischen Balg, das einer der Gründe ist, dass du und Ernst gehen? Dann hätte ich nicht die Zukunft in der Mitte, sondern Judas.
TRAUTE Vielleicht ist das ja die Zukunft.
Lotte steht auf und zieht sich ihren Kittel an.
LOTTE Sag mir, dass ich eine gute Malerin bin, dann fangen wir an.
TRAUTE Bist du. Und vergiss nicht: Es ist noch nichts entschieden.
LOTTE Dann denke ich auch nicht darüber nach.
Traute geht in Position.
Die Judasfarbe ist gelb, das passt auch besser, ich gebe ihr ein gelbes Kleid.
TRAUTE Stimmt die Position?
LOTTE Jetzt müsstest du nur noch so schöne Beine wie Maria haben.
TRAUTE Dann benutz doch einfach mal deine Phantasie beim Malen.
10. SZENE
AUGUST 1930
Lise hat sich ein gelbes Kleid angezogen, betrachtet sich im großen Spiegel. Lotte kommt aus dem Schüleratelier, eine Kanne Kaffee, sie schenkt sich ein.
LOTTE Auch einen Kaffee?
LISE Nein, sonst werde ich zu nervös und kann nicht stillhalten.
Lise wirft noch einen Blick in den Spiegel.
Eigentlich steht mir Gelb nicht.
LOTTE Es steht dir wunderbar. Es ist Vermeers Farbe. Und es harmoniert viel besser mit den anderen Farbverläufen auf dem Bild.
LISE Von sowas habe ich keine Ahnung. Kann ich doch einen kleinen Kaffee haben, bevor es losgeht?
Lise nimmt sich einen Kaffee.
Nochmals danke. Ich dachte wirklich … es tut mir leid, ich wollte nicht so schimpfen, ich war nur so sauer, dass Sie sich einfach so beklauen lassen.
LOTTE Schwamm drüber.
LISE Ich habe nichts gegen Juden, wirklich. Ich gehe immer noch zu Wertheim, auch wenn Richard sagt, dass ich nicht soll, aber da lasse ich mir keine Vorschriften machen. Ich kenne viele nette Juden und nur weil Richard da so ein Hundertfünfzigprozentiger ist …
LOTTE Lise, ich sagte: Schwamm drüber.
LISE Entschuldigung.
Kurze Stille.
Ich war nur so froh, dass ich Ihnen Modell stehen darf, ich dachte später: So, das hast du dir verscherzt, selber schuld. Was kannst du auch nicht deine Klappe halten.
LOTTE Ehrlich gesagt habe ich darüber nachgedacht.
LISE Dann lag ich gar nicht so falsch.
LOTTE Nein.
LISE Und warum nun doch, wenn ich fragen darf?
LOTTE Nicht wichtig. Setz dich, wir fangen gleich an, ich muss noch die Farben mischen.
Lotte trägt Farben auf der Palette auf, Lise setzt sich, beobachtet Lotte.
LISE Weil ich mich verändert habe? Weil ich nicht mehr das naive Trampel vom letzten Sommer bin?
LOTTE Und was bist du jetzt? Erwachsen?
LISE Ich habe einen Freund, ein Ziel, ich ludere nicht mehr herum und ich habe einen Plan für mein Leben. So wie es war, konnte es nicht weitergehen.
LOTTE Warum nicht?
LISE Das wissen Sie wirklich nicht?
LOTTE Ich mochte das Trampel, ich mochte deine Geschichten, wie du dich schminkst und dein Leben genießt, ausgehst, arbeitest, unabhängig bist, dein eigenes Geld verdienst, deine Frechheit, alles, was du tust und was ich in deinem Alter nicht konnte. Und jetzt plapperst du nach, was dir dein Freund vorsagt.
Stille.
Vergiss es, nur ein Anfall von Nostalgie.
LISE Sind Sie eifersüchtig auf Richard?
LOTTE Du verstehst überhaupt nichts.
LISE Ich hätte nie gedacht, dass Sie mich überhaupt ernst nehmen.
LOTTE Ich war stolz auf dich. Auf dich und all die anderen schönen jungen Mädchen da draußen, die getan haben, was ihnen gefällt.
LISE Normale Frauen wollen irgendwann eine Familie haben. Zumindest in Deutschland ist das so. Wer nur das tut, was ihm gefällt, vernachlässigt seine Pflicht. Das können Sie wahrscheinlich nicht verstehen.
LOTTE Ja, völlig richtig, Lise.
Stille.
LOTTE Ich könnte dich als deutsche Frau von heute malen. Wäre dir das recht?
LISE Natürlich.
LOTTE Kennst du den „Faust“?
LISE Goethe?
LOTTE Gelesen?
LISE Nein.
LOTTE Gretchen ist ein schönes deutsches Mädchen, das sich in Faust verliebt. Im Film war das Camilla Horn.
LISE Echt? Aber ich hab doch nichts von der Horn.
LOTTE Aber auf der Bühne ist das oft so ein Mädchentyp wie du.
LISE Kann ja sein. Aber Faust ist mit dem Teufel im Bund.
LOTTE Das weiß sie ja nicht. Sie ist einfach nur verliebt in ihn. Und Faust ist schließlich der deutsche Mann schlechthin.
LISE Aber stirbt die nicht am Schluss? Oder fährt zur Hölle?
LOTTE Das weiß sie ja auch noch nicht. Mir geht es nur um deinen Ausdruck. Du hast Faust gesehen, er hat um dich geworben, du hast dich verliebt und denkst den ganzen Tag an ihn.
LISE Haben Sie den anderen auch Geschichten erzählt, damit sie wissen, wie sie gucken sollen?
LOTTE Natürlich.
LISE Passt das denn in das Bild?
LOTTE Sonst würde ich dir das nicht erzählen.
LISE Ich glaube, ich hab es noch nicht verstanden. Also Liebeskummer? Oder traurig? Wie soll das gehen mit Gretchen?
LOTTE Trauer, eine große Trauer, weil etwas unwiederbringlich vorbei ist. Eine Seelenruhe, eine goldene Zeit … oder eine große Liebe.
LISE Ich dachte, ich muss einfach nur stillhalten.
LOTTE Versuche es mal.
Lise konzentriert sich, Lotte beobachtet sie, Stille, nach einiger Zeit kommen Lise die Tränen.
Sehr schön. Woran hast du gedacht?
LISE Ganz was anderes. Ich dachte, wie es wohl sein wird, in zehn Jahren das Bild anzusehen. 1940. Da bin ich dann schon Anfang dreißig. Was dann wohl ist? Ob ich mit Richard verheiratet bin? Wo ich wohne, ob ich Kinder habe oder ob ich überhaupt noch da bin? Man weiß ja nie, was passiert. Oder wenn ich irgendwann als verhutzeltes altes Reff, was weiß ich, 1990, mich sehe, wie ich da so sitze und an die Zukunft denke … Entschuldigung, das ist blöd, oder?
LOTTE Nein, das war gut. Danke. Wir fangen an.
11. SZENE
15. SEPTEMBER 1930
Ernst, Traute und Lotte. Das Gemälde, „Abend über Potsdam“ ist fertig. Der Bildträger ist mit einem Leintuch verhüllt. Lotte hat eine Flasche Champagner in einem Eiskübel bereit stehen, drei Gläser.
LOTTE Danke, dass ihr gekommen seid.
ERNST Sind wir die Einzigen?
LOTTE Lise ist unten und wartet mit ihrer SA-Clique auf die Ergebnisse. Ich habe ihr nicht Bescheid gesagt, sonst wären wohl alle hochgekommen.
ERNST Leider kein guter Tag für einen so festlichen Anlass.
TRAUTE Doch, gerade. Sonst hätte ich den ganzen Tag mit dir am Radio verbracht. Ich bin froh um jede Ablenkung.
ERNST Warst du heute wählen?
LOTTE Nein.
TRAUTE Das ist jetzt egal, Ernst.
ERNST Was habe ich denn gesagt?
LOTTE Ich war den ganzen Tag im Atelier.
TRAUTE Sei froh, dass du nicht draußen warst, es ist eine seltsame Stimmung in der Stadt. Als ob was brodelt.
ERNST Es kann sein, dass die Nazis ihre Mandate vervierfachen, vielleicht werden es sogar sechzig Mandate für sie. Kann ich nachher schnell das Radio anschalten?
LOTTE Wann kommen die Ergebnisse?
ERNST Irgendwann jetzt, jeden Moment.
TRAUTE Jetzt geht es erst einmal um dein Bild, Lotteken.
LOTTE Wollen wir zuerst etwas trinken?
TRAUTE Du bist der Zeremonienmeister.
LOTTE Ich mache schon mal die Flasche auf.
ERNST Lass mich das machen.
Ernst öffnet die Champagnerflasche.
LOTTE Ich wechsle schnell meine Schuhe, man trinkt keinen Schampus in Galoschen.
Lotte geht ab.
ERNST Warum ist sie so nervös?
TRAUTE Sie hat ein Jahr an dem Bild gearbeitet.
ERNST Macht sie immer so einen Hokuspokus, wenn ein Bild fertig ist?
TRAUTE Nein, es ist was Besonderes.
ERNST Muss ich auch irgendwas Besonderes sagen?
TRAUTE Werde nicht humoristisch, das ist alles.
Lotte kommt wieder, sie trägt hochhackige Schuhe.
LOTTE So geht es besser. Lasst uns schon mal ein Glas trinken.
TRAUTE Du machst es spannend.
LOTTE Nein, ich habe einfach Schiss, dass es euch nicht gefällt. Ihr müsst ehrlich sein.
TRAUTE Natürlich.
ERNST Schließlich ist es meine Ehrlichkeit, die dich am meisten an mir nervt.
LOTTE Ich schätze deine Ehrlichkeit, Ernst, wirklich.
TRAUTE Geh nicht darauf ein, er wollte nur geistreich sein.
LOTTE Also?
Lotte enthüllt das Bild. Traute und Ernst sehen es sich lange an.
LOTTE Und?
Traute umarmt Lotte.
TRAUTE Es ist ein Meisterwerk, Lotteken.
LOTTE Ich danke dir. Und du, Ernst?
ERNST Gleich, ich muss es mir genau betrachten.
Ernst sieht sich das Bild an. Von draußen hört man plötzlich Jubelschreie, es wird gesungen, das Horst-Wessel-Lied, Ernst geht wortlos zum Radio, wo die Ergebnisse der Reichstagswahl bekanntgegeben werden: „In der Wahl zum Reichstag hat die Kommunistische Partei siebzig Mandate errungen, die Hugenberg-Partei 41, die NSDAP 107 Mandate, was einem Stimmenanteil von 6,4 Millionen entspricht …“
Ernst schaltet das Radio wieder aus und geht zurück zu dem Bild. Traute und Lotte sitzen schweigend am Tisch.
ERNST Ich muss mich bei dir entschuldigen, Lotte. Für alles, was ich über deine Kunst gesagt habe. Ich habe dir Unrecht getan.
LOTTE Warum?
ERNST Das ist nichts, was man über einen Kamin hängt. Das ist ein Bild der Zeit. Das taugt mehr als tausend Artikel und Analysen. Das sind wir. Was wir waren. Was wir sind. Nicht wissend, was wir sein werden. Und wo.
Stille.
LOTTE Ich danke dir, Ernst.
ERNST Ich habe dir zu danken. Was wird nur aus uns allen werden? Entschuldigt mich, ich muss an die frische Luft.
Ernst ab.
LOTTE Hat ihn das Wahlergebnis so erschüttert?
TRAUTE Nein, dein Bild.
LOTTE Du schmeichelst mir.
TRAUTE Du weißt gar nicht, was du da gemalt hast, oder?
LOTTE Wenn ich es gewusst hätte, hätte ich es nicht malen können. Ich weiß nur, dass ich so etwas nie wieder malen kann.
TRAUTE Und warum nicht?
LOTTE Weil ich jetzt weiß, wie schwer die Aufgabe ist. Und als ich Ernst betrachtet habe, als er das Bild betrachtet hat, wurde mir klar, dass da nicht die Freunde voneinander Abschied nehmen, sondern ich von ihnen.
TRAUTE Wir werden nicht nach Wien gehen.
LOTTE Das ist sehr schön, aber das meine ich nicht.
TRAUTE Du bist niedergeschlagen, weil du erschöpft bist.
LOTTE Erschöpft von der Arbeit an einem Bild erschöpfter Menschen aus einem erschöpften Land.
Traute umarmt Lotte.
TRAUTE Ich muss jetzt nach Ernst sehen. Ich komme morgen bei dir vorbei, dann fahren wir nach Caputh und machen uns einen schönen Tag, ja?
Lotte nickt, Traute geht. Lotte zieht sich die hochhackigen Schuhe wieder aus, setzt sich und betrachtet das Bild. Von unten hört man SA-Kampflieder, Lotte trink Sekt. Fade out. Black.
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