Die Un/Sichtbarkeit von Alter in der Kunst
Wings of change
Alter ist kein Handicap – auch nicht im Tanz
von Madeline Ritter
Erschienen in: Recherchen 162: WAR SCHÖN. KANN WEG … – Alter(n) in der Darstellenden Kunst (11/2022)
Assoziationen: Debatte
»Das Ende des Alterns ist näher, als wir es uns vorstellen wollen.«1
Laura Deming weiß, wovon sie spricht. Sie begann sich im Alter von sechs Jahren für den biologischen Prozess des Alterns zu interessieren, mit zwölf forschte sie an der Lebensverlängerung von Würmern und mit 25 sammelte sie mit ihrem Longevity Fund fast dreißig Millionen Dollar ein, um gegen das Diktat des chronologischen Alterns die Verheißung der biologischen Unsterblichkeit zu setzen. Ich glaube nicht, dass wir, die Babyboomer, noch davon profitieren werden. Ich wappne mich lieber gegen das Unvermeidliche, das vor mir liegt. Ich habe die absurde Vorstellung, wenn ich mich vorauseilend mit zukünftigem Unheil beschäftige, trifft es mich später nicht so hart. Ich habe mich vorbereitet, vor zehn Jahren bereits ein Sterbeseminar belegt. Ich will wissen, wie es geht.
Spiegelblind
Mit vierzig habe ich das Büchlein Älter werden, den Klassiker von Silvia Bovenschen, verschlungen. Nun, zwanzig Jahre später, beim Wiederlesen, bin ich mittendrin im Altsein. Beim Älterwerden haben wir es vor allem mit dem Nocebo-Effekt zu tun, also dem schädlichen Effekt von negativen Bildern. Messerscharf beschreibt Bovenschen die Konfrontation mit dem Bild des alternden Ichs. Sie nennt es spiegelblind:
Eine Technik, die ich erst älter geworden beherrschte: in den Spiegel zu schauen (es funktioniert nur bei bestimmten Verrichtungen, wie zum Beispiel beim Kämmen oder Zähneputzen), ohne mich darin wirklich zu sehen. Der Spiegel zeigt ein altersloses Bild – zwar nicht beschönigt, aber auch ohne Grausamkeiten. Irgendwie neutral, als wäre es nicht das eigene. Ein technisches Sehen. Ich habe das nicht geübt. Plötzlich stellte ich fest, dass es so ist. Das erklärt den Schreck, wenn ich mich überraschend und unvorbereitet in einem Spiegel sehen muss (im Kaufhaus kann das leicht passieren, allzumal, wenn man in einem Rollstuhl geschoben wird): O Gott, die alte Frau bin ja ich!2
Aber alt mit vierzig? Ja. Tänzer*innen gelten mit vierzig Jahren als alt. Ich habe – vielleicht nicht ganz zufällig und sicherlich auch um die eigenen Dämonen des Altseins in Schach zu halten – 2014 mit meiner gemeinnützigen Unternehmergesellschaft eine Initiative gegen Altersdiskriminierung im Tanz gestartet: Dance On. Das Herz des Projekts ist das Dance On Ensemble mit Tänzern und Tänzerinnen im Alter von vierzig bis siebzig Jahren. Wir wollten und wollen sichtbar machen, was die Tanzkunst – und die Gesellschaft – durch Ausstrahlung, Souveränität und eindrückliche Darstellungskraft gewinnt, die sich aus gelebter Erfahrung speist.
Schauspieler*innen dürfen auf der Theaterbühne sterben. Tänzer*innen hingegen müssen spätestens mit Anfang vierzig von den Ballettbühnen der Welt abtreten. Im zeitgenössischen Tanz verschiebt sich das Verfallsdatum um einige Jahre. Allein es bleibt eine Kunst, die die Grenzen des Körpers zu überwinden trachtet. Im Ballett schweben ephemere, vorgeblich alterslose Wesen über die Bühne. Diese Bilder sitzen fest in unseren Köpfen. Deshalb finden wir es völlig in Ordnung, dass eine Kompanie mit jungen Tänzer*innen Bundesjugendballett heißt, aber wir haben uns davor gescheut, unser Ensemble 40+ Bundesaltenballett zu nennen. Alle dazu bei der Namensfindung Befragten fanden das abtörnend und, ja, degradierend.
Diskriminierung unseres zukünftigen Selbst
Bereits am Anfang unserer Initiative wurden wir mit der Frage konfrontiert, warum es immer noch in Ordnung ist, altersdiskriminierend zu denken und zu agieren. Die Journalistin Lucy Kellaway konstatiert dazu im Januar 2022 in der Financial Times: »Unsere Blindheit gegenüber Altersdiskriminierung ist besonders rätselhaft, da es sich um ein Vorurteil nicht gegen Menschen handelt, die anders sind als wir (andere Rassen, Geschlechter usw.), sondern gegen unser zukünftiges Selbst.« Sie beobachtet: »Das Alter ist nicht nur das Stiefkind der Diversity-Politik, sondern es ist unter Beachtung kultivierter Umgangsformen immer noch völlig akzeptabel, sich eklatant altersdiskriminierend zu verhalten.«3
In Bewerbungsverfahren erhalten über Fünfzigjährige dutzendweise Absagen mit der Begründung, sie seien überqualifiziert. Eine höflich gemeinte Ausrede. Ein fünfzigjähriger Tänzer geht erst gar nicht zu einer Audition, weil er um seine Chancenlosigkeit weiß, es sei denn, es wird per Typecasting ein alter Tänzer gesucht – dann aber bitte sichtbar für alle richtig alt!
1996 berichtete die damals sechzigjährige amerikanische Tänzerin und Choreografin Trisha Brown in einem Interview, dass sie, wenn sie die Straße entlanglaufe, gemeinsam mit allen anderen älteren Frauen in eine Schublade gesteckt werde. Manchmal sei ihr regelrecht danach, den Menschen, die da an ihr vorbeigingen, zu sagen: »Ihr Narren. Ich bin intelligent und leidenschaftlich. Wie könnt ihr bloß annehmen, dass ich das alles plötzlich nicht mehr bin?«4
Der Professor für Tanzgeschichte Ramsay Burt stellt dazu fest: »Gesellschaftlicher Druck zwingt einen dazu, sich selbst dem eigenen Alter angemessen wahrzunehmen. Dabei bedeuten eingebildete Zeichen des Verlustes und des Verfalls als Folge des Älterwerdens Frauen in der Regel mehr als Männern, weil Weiblichkeit so stark mit dem äußerlichen Erscheinungsbild assoziiert wird.«5 Der Tanz, eine als prädominant weiblich wahrgenommene Kunstform, hat damit ein doppeltes Handicap.
In der Berliner Tanzszene stieß die Dance On Initiative zunächst auf Misstrauen und Unverständnis. In einer Szene, in der jeder Performer sein eigener Autor, jede Tänzerin auch zugleich ihre eigene Choreografin ist, herrscht die Vorstellung der ungebrochenen lebenslangen Kreativität. Sechs Jahre später ist das Thema auch hier angekommen – zu erfahren in einer »Intergenerativen Peer-to-Peer Academy über das Alter(n)« in den Berliner Sophiensælen oder nachzulesen im Abschlussbericht Runder Tisch Tanz, in dem auch die Diskriminierung durch Ageism im Rahmen einer zukünftigen »Impact-Förderung für Ganzhabe« gelistet wird.6
Veränderung üben
Es sind wir, die älteren Menschen, die oft am altersfeindlichsten von allen sind, weil wir ein Leben lang negative Botschaften über das Alter und das Altern unhinterfragt akzeptiert haben. Zum Beispiel, dass ältere Menschen nicht mehr genügend Energie haben. Sie nicht gut darin sind, neue Ideen zu entwickeln. »Wenn man nicht aufhört, diese Botschaften zu hinterfragen, werden sie Teil der eigenen Identität.«7
Im Bewusstsein, dass sich aufgrund des demografischen Wandels etwas ändern muss, haben die Vereinten Nationen 2021 das Jahrzehnt des gesunden Alterns ausgerufen.8 Es zielt darauf ab, das Leben älterer Menschen, ihrer Familien und Gemeinschaften durch kollektives Handeln zu verbessern. An erster Stelle des Aktionsplans steht die Änderung der Art und Weise, wie wir über das Alter und Altersdiskriminierung denken, wie wir fühlen und schließlich handeln. Aber wie bewirkt man diese Veränderung? Die Antwort scheint einfach: üben, üben, üben!
Ein zwölfköpfiges Tanzensemble für Tänzer*innen 40+ ist von außen betrachtet eine bescheidene Übungsplattform, aber sie zeigt, wohin die Reise gehen sollte. Seit dem Bestehen des Dance On Ensembles wissen wir, wie wichtig es ist, die Bühnenlaufbahn von Tänzer*innen zu verlängern. Und wir haben auf eindrucksvolle Weise erlebt, wie positiv sich dies auf die Kunstform als Ganzes auswirkt. Durch die Verneinung einer Altersgrenze hat das Dance On Ensemble eine künstlerische Erfolgsgeschichte vorgelegt und sich in die Herzen des Publikums getanzt. Gleichzeitig hat es gezeigt, was passieren muss, um Altersdiskriminierung im Tanz (und in der Gesellschaft) zu überwinden. Die Reaktionen der Zuschauer*innen haben uns sehr inspiriert. Viele von ihnen sagen, dass der Anblick dieser exzellenten Tänzer*innen ihnen Kraft und Mut gibt, auch in ihrem Leben etwas Neues zu versuchen und sich in einer Welt zu behaupten, in der sie womöglich als zu alt für Veränderung gelten.
Die Frage, ob man durch Quoten gesellschaftliche Veränderung bewirken kann, wird entlang harter Fronten diskutiert. Das Ziel einer jeden Quote, sei es der Frauenanteil in Aufsichtsräten oder der Diversitätsfaktor in Besetzungskommissionen, ist die Beseitigung von ungerechtfertigten Benachteiligungen und Ungleichbehandlungen. Wir haben die Frage nach der Notwendigkeit einer Quote für uns mit Ja beantwortet. Wie soll es sonst gehen? Beim Dance On Ensemble ist die Einstellungsvoraussetzung 40+, also eine Quote von hundert Prozent für ältere Tänzer*innen.
In Zukunft konsequent intergenerativ
In der Zukunft liegt für uns ein Versprechen. Tanzkompanien bieten Tänzer*innen den Raum, um sich zu entfalten und künstlerisch weiterzuentwickeln – sowohl am Anfang wie auch im Verlauf der Karriere. Ensemblemitglieder bilden ganz ohne Altersbeschränkungen eine Gemeinschaft, in der Tänzer*innen, ob am Anfang oder in der Mitte ihrer beruflichen Laufbahn, mit erfahrenen älteren Kolleg*innen zusammenarbeiten und sich gegenseitig inspirieren. Das Klischee von der ›Weisheit des Alters und der Energie der Jugend‹ wird neu formuliert: Die Virtuosität des Alters verbindet sich mit dem Charisma der Jugend. Solche Tanzensembles beschäftigen sich mit den bekannten Stereotypen, um sie dann hinter sich zu lassen. Sie zeigen, dass Ausdauer, Risikobereitschaft und Hingabe keine Fragen des Alters sind.
Um generationenübergreifende Kompanien zu realisieren, müssen sich Strukturen und Einstellungen in der Tanzwelt ändern. Wir brauchen einen Transformationsprozess, der hierarchische Strukturen in kollaborative, unterstützende Beziehungsgefüge umwandelt und Tänzer*innen als Träger*innen, Bewahrer*innen und Repräsentant*innen der Kunstform erkennt und vor allen Dingen anerkennt.
Ein Wandel der (Kultur)politik: Wings of change
Dieser Transformationsprozess bezieht sich nicht nur auf die Institutionen des Tanzes (Ausbildung, Kompanien, Theater etc.), sondern auch auf die bestehenden Mechanismen öffentlicher Förderpraxis. Mit dem Ziel der strukturellen Stärkung der gesamten Tanzszene habe ich mit meinen Mitarbeiter*innen wegweisende Förderinstrumente wie Tanzplan Deutschland, Tanzfonds Erbe und Tanzpakt Stadt-Land-Bund (dies gemeinsam mit dem Dachverband Tanz Deutschland) initiiert. Zahlreiche Evaluierungen belegen, dass diese entscheidend zu einer kulturpolitischen Aufwertung der Kunstform Tanz beigetragen haben. Aber hat dadurch auch die Wertigkeit der einzelnen ausführenden Künstler*innen gewonnen? In der Pandemie wurde sichtbar, dass das schwächste Glied in der ›Verwertung‹ der künstlerischen Leistung für die Gesellschaft der einzelne Tänzer, die Schauspielerin oder der Musiker ist. Wenn sie existenziell gefährdet sind, hört das Herz der Kultur auf zu schlagen. Überall, auf der ganzen Welt. In vielen europäischen Staaten und auch in Deutschland entstanden in kürzester Zeit neue Stipendienprogramme, die bisher vor allem für junge Menschen gedacht waren, um sie auf ihrem Weg zu fördern. Dieser Weg endet aber nicht mit dreißig Jahren! Und er wird nicht allein von den Kulturschaffenden beschritten.
Nach Joseph Beuys ist das Kapital einer Gesellschaft nicht das Geld, sondern die Kreativität eines jeden Menschen. Für ihn ist jeder Mensch ein Sonnenkönig und der Palast, den wir zuerst erobern und dann würdig zu bewohnen haben, ist der Kopf des Menschen, unser Kopf.9 Welche neuen Bilder von dem, was uns das Alter bietet, können in unseren Köpfen entstehen? Produktiv sein ist ein menschliches Grundbedürfnis, das nicht in einem bestimmten Lebensalter erlischt. Keine Gesellschaft kann auf die Expertise von lebens- und berufserfahrenen Menschen verzichten. Das gilt auch für Künstler*innen.
Artikel 3 unseres Grundgesetzes schützt vor Diskriminierung und Benachteiligung aufgrund einer Reihe von Merkmalen wie Geschlecht, Herkunft, politischer Anschauung oder Behinderung. Das Lebensalter findet man hier nicht. Nicht nur die Bilder in unseren Köpfen müssen also geändert werden, sondern auch das Grundgesetz! Dies wäre ein starkes politisches Signal, um in allen Bereichen der Gesellschaft dafür zu sorgen, dass Altersgrenzen sich öffnen und nur dort eingesetzt werden, wo sie in der Sache auch begründet sind.
Wenn es im Tanz, einem Berufsfeld mit einer der härtesten Altersgrenzen, möglich ist, diese zu verändern, wieso dann nicht auch in allen anderen Bereichen unserer Gesellschaft? Was ist also Alter(n) und wie soll eine Gesellschaft des längeren Lebens gestaltet sein? Aus Sicht der Persönlichkeitspsychologie ist Altern Wachstum, Stabilität und Verlust zugleich. Laura Demings Vision der Unsterblichkeit nimmt den Verlust aus dieser Gleichung und damit das, was uns menschlich macht.
Ich möchte glauben, dass Älterwerden eine jedem Menschen zuteilwerdende, stete Weiterentwicklung und Wandlung ist, ein Immer-in-Bewegung-Sein. Im gemeinsamen Raum der Verantwortung geben wir der Veränderung Flügel. Worauf warten wir?!
1Deming, Laura: The longevity fund. www.longevity.vc, 9. Februar 2022.
2Bovenschen, Silvia: Älter werden, Frankfurt am Main 2006, S.89.
3Kellaway, Lucy: »Why is it still considered OK to be ageist?«, in: The Financial Times, 14. Januar 2022.
4Zitiert nach Burt, Ramsay: »Älterwerden und Tanzen«, in: Dance On 1. Edition, hrsg. von Madeline Ritter und Christof Roman, Berlin 2018, S.18. https://dance-on.net/en/wp-content/uploads/sites/3/2021/03/DO-Publ-final.pdf, 09.02.2022.
5Ebd.
6Kirchhoff, Karin und Nehring, Elisabeth: Abschlussbericht Runder Tisch Tanz Berlin, Berlin 2019, S. 60, https://www.tanzraumberlin.de/fileadmin/user_upload/02_Kulturpolitik/RTT/rtt_2019_abschlussbericht.pdf, 09.02.2022.
7Kellaway: »Why is it still considered OK to be ageist?«
8https://www.unbonn.org/index.php/de/news/das-jahrzehnt-des-gesunden-alterns-2021-2030, 9. Februar 2022.
9Beuys, Joseph in seinem letzten Interview mit dem Journalisten Michele Bonuomo im Dezember 1985 anlässlich der Präsentation seines Werks Palazzo Regale im Museo di Capadimonte in Neapel, zitiert nach Blume, Eugen und Nichols, Catherine: Beuys. Die Revolution sind wir, Göttingen 2008, S. 22.