Theater der Zeit

Magazin

Radikal aktuell

Die neueste Ausgabe des Radikal-jung-Festivals am Münchner Volkstheater

von Anne Fritsch

Erschienen in: Theater der Zeit: BRACK IMPERieT – „Hedda Gabler“ von Vegard Vinge und Ida Müller in Oslo (09/2022)

Assoziationen: Theaterkritiken Bayern Münchner Volkstheater

Das Schwere leicht präsentieren: Joana Tischkaus Inszenierung „Karneval“ bei Radikal jung am Münchner Volkstheater.
Das Schwere leicht präsentieren: Joana Tischkaus Inszenierung „Karneval“ bei Radikal jung am Münchner Volkstheater.Foto: Katrin Ribbe

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Es war das erste Radikal-jung-Festival seit 2019 – und das erste im neuen Volkstheater im Münchner Schlachthofviertel. Und irgendwie war es auch die Essenz dieser letzten Jahre. Selten oder nie wurden die Debatten, die die Gesellschaft umtreiben, so vielfältig und doch konzentriert in ein Festival gefasst. Selten war die Bandbreite so groß. Den Anfang machte eine ukrainische Inszenierung aus dem Jahr 2019, die heute aktueller ist als damals: „Bad Roads“ von Natalia Vorozhbyt, inszeniert 2019 von Tamara Trunova am Left Bank Theatre in Kyjiw. Das Stück handelt von einem Krieg, der schon damals im Osten der Ukraine brodelte und heute das ganze Land und die Welt beherrscht. Es trägt den Untertitel „Sechs Geschichten über das Leben und den Krieg“. Alle diese Geschichten spielen in Orten, die inzwischen jeder kennt: Donezk, Charkiw, Mariupol. Die Inszenierung führt mitten ins Kriegsgebiet. Beim Applaus hatten einige der Schauspieler: innen Tränen in den Augen. Die Realität hat die Inszenierung überholt, der aktuelle Schrecken den damaligen übertrumpft. Dass diese Inszenierung den Publikumspreis erhielt, war auch eine klare Solidaritätsbekundung.

Am anderen Ende der ästhetischen Skala stand die Arbeit, die die Jury der Nachwuchskünstler:innen aus der Masterclass mit ihrem Preis auszeichnete: „Karadeniz“ von caner teker. Ausgehend von türkischen Hochzeitsritualen setzt sich die autobiografisch geprägte Produktion mit Themen wie heteronormativer Existenz, Queerness und Migration auseinander, kreist dabei aber recht hermetisch um sich selbst.

Zwischen diesen Polen zeigten die eingeladenen Regisseur:innen, wie unterschiedlich und ja: wie divers die Auseinandersetzung mit dem übergreifenden Thema Identität sein kann. Die Fragen „Wer bin ich? Wie werde ich gesehen? Wo ist mein Platz in der Gesellschaft?“ waren so etwas wie Leitmotive in dieser Woche. Zum Beispiel in Joana Tischkaus „Karneval“ vom Theater Oberhausen: Die Regisseurin nimmt sich die deutsche Karnevalstradition vor und all die denkwürdigen Aussagen, die rund um das alkohollastige Verkleidungsfest so bekannt sind. Tischkau verfremdet Hits und Rituale. Sie bringt zusammen, was nicht zusammengehört, aber trefflich zueinander passt. Aus „König der Löwen“-, Kramp-Karrenbauer- und Thomas- Gottschalk-Zitaten bastelt Tischkau sich einen Abend, der vieles, das schiefläuft, auf den Biertisch bringt. Indem sie all die Zitate einfach in den Raum stellt, können sie in gesammelter Kraft noch einmal ihre Wirkung entfalten und hallen nach. Die Musik tut ein Übriges, um eine Gesellschaft zu entlarven, die sich für weltoffen hält, in der der antirassistische Spaß aber ganz schnell aufhört, wenn die geliebte Afro-Perücke oder der Indianer-Kopfschmuck auf dem Spiel stehen. Dieses „Playback Musical“ kommt ganz ohne live gesprochene Worte aus, es setzt komplett auf Original-Zitate. In Verbindung mit den exzentrischen Kostümen von Mascha Mihoa Bischoff wird hier auf sehr unverkrampfte Art und Weise der Wahnsinn Alltagsrassismus sicht-, hör- und erlebbar.

Das Schwere leicht zu präsentieren, ohne seicht zu werden, das ist eine Kunst, die auf dem Vormarsch zu sein scheint. Diesen Eindruck stärken auch die Produktionen „Identitti“ nach dem Roman von Mithu Sanyal in der Regie von Kieran Joel vom Düsseldorfer Schauspielhaus und „It’s Britney, Bitch!“ von Lena Brasch und Sina Martens vom Berliner Ensemble.

Kieran Joel spielt in seiner Roman-Adaption gekonnt und mit großer Empathie für seine Figuren und ihre Spleens seine theatralen Karten aus: Er beginnt mit einem eingespielten Radio-Interview mit einer seiner Schauspielerinnen über die Probenzeit, lässt die indische Gottheit Kali in knallblauem Ganzkörperanzug durch den Abend führen und die Protagonistin Nivedita auf ihrer Identitätssuche zwischen indisch-deutschen Eltern und vermeintlichen Vorbildern hin- und herschleudern. Das große Wort „Identität“ ist schließlich auch nur „ein Spektrum“. Der Roman stand nicht umsonst auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises 2021 – und gäbe es eine solche für Theater, diese Inszenierung hätte definitiv einen Platz darauf verdient!

Lena Braschs Auseinandersetzung mit der Pop-Ikone Britney Spears ist die intimste Inszenierung des Festivals. Sina Martens, die der echten Britney erstaunlich ähnlich sieht, spielt das Solo auf und um ein kleines Bühnenpodest. Sie schlüpft in die Rolle und wieder hinaus, fragt, was das Phänomen Britney über uns sagt, über unseren Umgang mit Idolen, über Väter und Töchter, toxische Beziehungen, Entmündigung und das Ende der Privatsphäre. Sie bricht zusammen und aus ihrem Käfig aus, wütet und singt sehr leise diese Hits, die wie ihre Interpretin Allgemeingut geworden sind. „Zu Ende geliebt zu werden, das wäre so ein Ziel“, sagt sie gegen Ende. Das Festival zu Ende zu lieben, fällt nicht schwer nach diesem Abschluss. //

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