Theater der Zeit

Alterität konstruieren

Was uns Texte aus dem frankophonen Exil zu sagen haben

von Leyla-Claire Rabih und Frank Weigand

Erschienen in: Scène 16: Neue französische Theaterstücke (11/2013)

Assoziationen: Nordamerika Europa Dramatik

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„Wichtig ist, dass Sie hier sind, um zu hören, wie komplex die Dinge sind, selbst wenn Sie nicht verstehen, selbst wenn Sie weit weg sind. Wichtig ist, dass Sie da sind, um diese Zerrissenheit der Welt zu hören. (…) Danke für diese Alterität, die wir gerade gemeinsam konstruieren.“

Mit diesen Worten wendet sich der 1976 in Kongo-Brazzaville geborene Theatermacher Dieudonné Niangouna an das Publikum des Festival d‘Avignon, das er gerade durch seine neueste Kreation „Sheda“ verstört hat. Ebenso bemerkenswert wie die Tatsache, dass in diesem Jahr (2013) mit Niangouna erstmals ein „artiste associé“ aus Afrika das renommierte Theaterereignis mitgestaltet, ist seine Stellungnahme. Zwischen einem Unterschiede nivellierenden Multikulturalismus und einer wütenden Anprangerung des Kolonialismus hat der Autor und Regisseur einen ungleich komplexeren dritten Weg gefunden: Unter dem „gemeinsamen Konstruieren von Alterität“ ist ein wirklicher Austausch zwischen Partnern aus der ersten und der dritten Welt zu verstehen, die sich beide durch die Erfahrung des Anderen verändern.

Diese Betonung des Adjektivs „gemeinsam“ ist umso erstaunlicher, da sich die Kulturpolitik der ehemaligen frankophonen Kolonialherren Frankreich und Belgien in Afrika und rund um das Mittelmeer nach wie vor hauptsächlich auf paternalistischen Kulturexport beschränkt und Kunsterzeugnisse aus den ehemaligen Kolonien bestenfalls als „authentische“, „exotisch-poetische“ oder „humanistisch engagierte“ Werke wahrnimmt.

Dabei lässt sich die Welt längst nicht mehr in „métropole“ und frankophone Peripherie einteilen. Wirft man einen Blick auf die französische Gesellschaft, so ist sie weitaus heterogener als manche zunehmend populärer werdenden rechtsnationalen Diskurse vermuten lassen. Doch wo sind die Nachkommen der Einwanderer aus Nordund Westafrika, die Flüchtlinge aus dem Nahen Osten und Indochina auf der Theaterbühne? In einer immer vielgestaltiger werdenden Gesellschaft werden hybride Diskurse und Identitäten immer noch gerne in soziokulturelle Nischen verbannt. Migranten (erster, zweiter und dritter Generation) sind in der französischen Gesellschaft zwar zunehmend präsent, bleiben jedoch aus den Bereichen der sichtbaren Repräsentation – wie Politik und Hochkultur – weitgehend ausgeschlossen.

Denn im Gegensatz zu Deutschland, wo sich ganz behutsam eine Entwicklung „von unten“ vollzieht und die Heterogenität der Gesellschaft in den letzten zehn Jahren nach und nach auch Eingang in die Spielpläne und Ensembles der Stadt- und Staatstheater findet, ist in Frankreich der kulturelle Umgang mit Migration zentralistisch gesteuert. Festivals wie die „Francophonies“ von Limoges und das einzig überregionale Theater in Paris, an dem regelmäßig Produktionen aus Afrika und dem Maghreb zu sehen sind – le TARMAC – erfüllen einen staatlichen Auftrag, der vor allem darin besteht, das koloniale Erbe zu „verwalten“. Viel getan für den Erfolg und die Sichtbarkeit von Migranten im und auf dem Theater weltweit hat der frankokanadische Libanese Wajdi Mouawad. Indem er die disparaten Erfahrungen des Exils in antike Mythen einbettet, schafft Mouawad als einer der letzten Theatermacher eine „große Erzählung“, in der alles zusammengehört. Sein internationaler Durchbruch „Incendies“ (als „Verbrennungen“ in SCENE 8 veröffentlicht und mittlerweile über vierzig Mal im deutschen Sprachraum inszeniert) verschränkte die Identitätssuche zweier Migrantenkinder in Kanada mit den drastischen Bürgerkriegserfahrungen ihrer Mutter und ließ die beiden am Ende auf einen schicksalhaften Familienfluch stoßen. Im Gegensatz zu Niangouna, der Zersplitterung und Bruch als Grundprinzipien der Welt und damit auch der Kunst erkennt, versucht Mouawad durch Form und Mythos immer noch dramaturgisch nachvollziehbare „Geschichten“ zu erzählen. Der Einfluss von Mouawad ist bei den meisten in diesem Band versammelten „Exil“-Autoren deutlich spürbar. Trotz gravierender Unterschiede im Detail versuchen sie alle, eine – oftmals relativ konventionelle – Form zu finden, um ihre komplexe Realitätserfahrung als Fremde in einem Gastland (oder als Fremde im eigenen Land) zusammenzuhalten. Inhalt steht hier vor Form: drängende persönliche Geschichten von den Rändern der Mehrheitsgesellschaft, die nicht nur eine andere Perspektive in die Theaterlandschaft einbringen, sondern dort auch Menschen und Ereignisse sichtbar machen, die bislang ein Schattendasein fristeten.

Am eindrücklichsten zeigt sich dies in dem Text „Unsichtbar“ von Nasser Djemaï. Formal stark von der mythisch verbrämten mouwadschen Identitätssuche geprägt, schickt er einen jungen „Mehrheitsfranzosen“ auf die Suche nach seinem Vater, der sich schließlich als schwerkranker algerischer Immigrant entpuppt. Weitaus beeindruckender als die dramaturgisch simple Geschichte ist die Dringlichkeit mit der Djemaï ein Kapitel dem Vergessen entreißt, das in der offiziellen französischen Geschichtsschreibung kaum vorkommt. Sein Protagonist Martin findet den Vater in einem Heim für algerische Gastarbeiter wieder, die seit Jahrzehnten in Frankreich arbeiten, sich längst von der Heimat entfremdet haben, aber für die Gesellschaft ihres Gastlands nach wie vor „unsichtbar“ sind. Diese Arbeiter im Bergbau, in Fabriken und in der Schwerindustrie, die mit zum Wiederaufbau Frankreichs nach dem zweiten Weltkrieg beigetragen haben, haben dafür niemals auch nur die geringste Anerkennung erhalten. „Das ganze Leben lang haben sie gelogen“, sagt der alte Gastarbeiter Hamid verbittert zu dem jungen Martin. „Während dem Krieg gegen die Deutschen haben sie gelogen, während dem Algerienkrieg haben sie gelogen, über die Arbeit haben sie gelogen, über den Lohn haben sie gelogen, über die Wohnung haben sie gelogen, über die Rente haben sie gelogen, über die Geschichte haben sie gelogen. Und du willst jetzt, dass wir ihnen trauen?“

Djemaïs Text, der in seiner eigenen Inszenierung seit drei Jahren äußerst erfolgreich durch ganz Frankreich tourt, lässt die Protagonisten quasi ungefiltert selbst auftreten. Aus Bruchstücken der Geschichte seiner Eltern und zahllosen Interviews hat der Autor einen mehr dokumentarischen als dramatischen Text destilliert, der vor allem durch seine Authentizität anrührt.

Ähnlich persönlich – doch weitaus stärker künstlerisch geformt – präsentiert sich Sonia Ristics zeitenübergreifendes Stück „Holiday Inn“, das den Bogen vom Beginn des libanesischen Bürgerkriegs 1975 bis zur Belagerung von Sarajevo 1995 schlägt. Zusammengehalten wird dieser sehr subjektive Geschichtszugriff durch die Figur der Schweizer Kriegsfotografin Anna, die in ihrem Hotelzimmer in Sarajevo auf ein perverses Detail in der Biographie ihres Vaters stößt: Er, der schwerreiche, zynische Banker, kaufte sich während des libanesischen Bürgerkriegs bei palästinensischen Terrorkommandos für „sniper safaris“ ein und schoss als Freizeit-Heckenschütze auf Zivilisten. Ristic benutzt die Identitätssuche der fotografierenden Tochter, die ebenso wie ihr Vater im Angesicht des Grauens „auf den Auslöser drückt“, für eine eindrucksvolle Reflexion über den immergleichen Umgang von Medien und Politik mit dem Phänomen Krieg.

Auch „Am Rand“, der 2011 verfasste Text der türkischstämmigen Sedef Ecer, verwendet Bilder, die uns aus den Medien nur allzu vertraut sind. Anhand des Schicksals zweier Generationen von Slumbewohnern am Rande einer Millionenmetropole, die Istanbul, Sao Paolo oder auch Mumbai heißen könnte, erzählt die Autorin im Stile eines Märchens aus 1001 Nacht von Gentrifizierung, Militärdiktatur, Flüchtlingsschicksalen und Kämpfen im Stadtraum. Das Besondere daran ist jedoch der leichte, humorvolle Tonfall, den sie dabei anschlägt. Selbst die dramatischsten Ereignisse werden mit augenzwinkerndem fatalistischen Humor transportiert – ähnlich wie im Bollywoodkino oder den türkischen Trashfilmen der 70er-Jahre.

Humor und eine extrem lakonische Sprache zeichnen auch den Monolog „Geschwister im Leerlauf“ der Kongolesin Marie-Louise Mumbu aus. In einer Art afrikanischen Umkehrversion von Tschechows „Drei Schwestern“ sorgt nach einem Regimewechsel die jüngste Tochter einer ehemals schwerreichen Herrscherfamilie für ihre drei Brüder, die sich weigern, den riesigen, verfallenden Palast der Eltern aufzugeben – und selbstverständlich tut sie dies durch Prostitution. Ohne Exotismus oder Larmoyanz erzählt Mumbu mit bitterer Ironie vom Schicksal einer selbstbewussten afrikanischen Frau, das gleichzeitig beinahe allegorisch für die desolate politische Realität der heutigen Demokratischen Republik Kongo steht.

Am stärksten literarisch ambitioniert ist der Text „Fremdkörper“ des jungen Exil-Iraners Aiat Fayez, der in vier verschiedenen Dramoletten das Gefühl der Fremdheit thematisiert – von der Fremdheit des Emigranten in der Administration seines Gastlandes über die Fremdheit in der Paarbeziehung zweier Rassisten, bis hin zu dem grotesken Portrait einer Mörderin in Männerkleidern, die sich gezielt an erfolgreichen Migrantinnen vergreift. Nach zwei Romanen bei dem renommierten Pariser Verlagshaus P.O.L. ist „Fremdkörper“ Fayez‘ Debüt als Dramatiker.

Fremdheit, als geografisches und intellektuelles Exil, hat auch die Biographien unserer Autoren entscheidend geprägt:

Sonia Ristic wuchs zwischen Westafrika und dem ehemaligen Jugoslawien als Tochter eines serbo-kroatischen Diplomatenpaares auf und erhielt ihren Schulunterricht auf Französisch. Diese Zweisprachigkeit und Prägung durch zwei Kontinente wird von ihr keineswegs nur als positiv erlebt: „Es wird mir immer stärker bewusst, dass ich mich weder auf Französisch noch auf Serbo-Kroatisch vollkommen „legitim“ fühle. Dies liegt bestimmt an der Position, die man als Exilierter/ Emigrant/Immigrant einnimmt, die im Wesentlichen eine Position des Dazwischen ist, in der man gleichzeitig nirgends und überall zu Hause ist.“ Obwohl sie seit 1991 in Frankreich lebt und arbeitet, gilt sie nach wie vor institutionell als „frankophone“ Autorin, die wegen ihrer Exotik geschätzt wird, der jedoch der Weg auf die großen nationalen Bühnen verwehrt bleibt.

Sedef Ecer, die mit einem Franzosen verheiratet in Paris lebt und gleichzeitig weiterhin als Drehbuchautorin und Journalistin für türkische Medien tätig ist, verarbeitet dieses Gefühl des „Dazwischen- Seins“ in all ihren Texten: „Ich spreche nur über Nicht-Zugehörigkeit, die Unmöglichkeit, irgendwo wirklich dazu zu gehören“. Seit 2008 schreibt sie ebenfalls auf Französisch, ihrer „Gastsprache“, wie sie es ausdrückt: „Ich bin fest davon überzeugt, dass man eine Sprache ebenso bewohnt wie ein Land“, schreibt sie im Vorwort zu „Am Rand“, das einmal mehr die eigene kulturelle Wurzellosigkeit thematisiert. Ironischerweise findet sich die Autorin in ihrer Eigenschaft als Journalistin im Juni 2013 als kulturelle Mittlerin zwischen Frankreich und der Türkei wieder, als sie für die renommierte Tageszeitung „Libération“ aus Istanbul über die gewaltsame Niederschlagung der friedlichen Demonstrationen gegen die Zerstörung des Gezi-Parks berichtet.

Nasser Djemaï, der im Gegensatz zu seinen Kolleginnen in Frankreich geboren und aufgewachsen ist, kennt die Exil-Erfahrung lediglich (und dann umso schmerzhafter) durch den Blick, den manche „richtigen“ Franzosen auf ihn richten: „Ich kann dem Exil im Blick des anderen begegnen, desjenigen, der nicht versteht, was ich hier seit meiner Geburt vor ihm zu suchen habe“, sagt der Autor und Schauspieler, der 1971 als drittes Kind algerischer Emigranten in Grenoble geboren wurde. „Ich würde das als ein Exil von innen bezeichnen.“

Aiat Fayez, der zwischen Frankreich und Iran aufwuchs, verspürt statt einer doppelten Verbundenheit ein Gefühl der absoluten Fremdheit und Wurzellosigkeit. In einem bedrückenden Text für „Libération“ begründet er im Herbst 2010 seinen Entschluss, Frankreich aus Protest gegen die immer rassistischer werdende Ausländerpolitik der Sarkozy-Regierung und den zunehmenden Ausländerhass in der Gesellschaft zu verlassen. Wesentlich bestürzender als seine Anklagen gegen Bürokratie und Alltagsanfeindungen ist jedoch sein Schmerz über die eigene gespaltene Biografie: „Ich bin ein Fremder in Frankreich und ein Fremder in meinem eigenen Land. Und dieses Geburtsland, dessen Namen ich nicht zu schreiben wage, das ich endgültig verlieren wollte, hat schließlich gewonnen. Ich trage seine Spuren auf meinem Gesicht, ich habe seine Nationalität, seinen Pass, seinen Familiennamen und Vornamen, die mich vor Zorn erröten lassen, und die Muttersprache, deren Sohn ich nicht bin.“

Auf den ersten Blick unterscheidet sich die Erfahrung der Kongolesin Marie-Louise Mumbu grundlegend von den in diesem Band versammelten Kollegen. Trotz ihres selbstgewählten Exils in Montréal schreibt sie nach wie vor über Themen ihrer Heimat und betrachtet den geographischen Abstand als etwas Positives, Bereicherndes – und nicht als Handicap: „Ich lebe in Kanada, und der Kongo lebt in mir. Ich bin weggegangen, doch bin ich voll von dort, und dies macht es mir möglich, hier zu leben. Weggehen hat mich schon immer inspiriert, mir geholfen, Dinge zu hinterfragen. Exil, Tod, das Ende einer Regierung oder einer Idylle, ist immer eine Veränderung, die einen Neubeginn mit sich bringt.“

Egal ob das Exil nun als qualvoll oder bereichernd erlebt wird, Tatsache ist, dass es Perspektiven eröffnet, die in der Mehrheitsgesellschaft so nicht vorkommen. Geopolitische Ereignisse wie der Libanon- und der Jugoslawienkrieg, der Sturz des kongolesischen Dikators Mubutu, Gesellschaftsphänomene wie die Immigration aus Algerien und die Statistiken der Ausländerämter erfahren so neue unerwartete Lesarten.

Gerade jetzt, wo sich auch die deutsche Theaterlandschaft langsam darauf besinnt, dass sie vielleicht nicht nur die Geschichten weißer und christlich sozialisierter Menschen zu erzählen hat und die unsägliche Debatte über „deutsche Leitkultur“ wieder in der Mottenkiste des Populismus gelandet ist, wären Zuschauer und Künstler auch hierzulande bereit, Stücke zu ertragen, die an der offiziellen Geschichtsschreibung kratzen.

Wir wünschen all unseren fünf Autoren, dass ihre Versuche bei Ihnen auf Interesse und Begeisterung stoßen. Denn dies wäre, im Sinne des eingangs zitierten Dieudonné Niangouna, eine Möglichkeit, auch im deutschen Stadttheater „gemeinsam Alterität zu konstruieren“.

 

Leyla-Claire Rabih und Frank Weigand im August 2013

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