Die Interviews mit „Menschen vom Bodensatz der Gesellschaft“ – so der Titel der amerikanischen Originalausgabe von 2002 –, die der spätere Friedenspreisträger Liao Yiwu über mehrere Jahre hinweg in China führte, sind ein politisches und literarisches Ereignis. Zunächst natürlich wegen der Rechercheergebnisse, der ungeschminkten Lebenszeugnisse aus dem Mund der Totengräber, Klomänner, Prostituierten und Ausbrecherkönige, die das nach außen hin prosperierende China von seiner dunklen Gegenseite her zeigen. Dann aber auch, und das erwartet man kaum, wegen ihres Humors. Es ist zweifellos das Verdienst des Interviewers Liao Yiwu, seine Gesprächspartner nicht einfach nur reden zu lassen, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist, sondern diesen Schnabelwuchs gewissermaßen in eine Form zu bringen, die eine Beichte – oder einen Wutanfall – in ein Juwel dokumentarischer Literatur verwandelt.
Der Leser im Westen weiß ja eher wenig über die verwirrenden Widersprüche im Reich der Mitte; Begriffe wie „großer Sprung“, „fünf Übel“, „Rechtsabweichler“ oder „Kampfkritik“ erscheinen ihm wie bizarre Blüten einer nicht erwachsen gewordenen Pfadfinderromantik, während sie in China zum Alltagsbesteck gehören und ganz selbstverständlich von jedermann im Mund geführt werden. Es ist relativ leicht, sich über Sprachregelungen oder Rituale in einem weit entfernten Teil der Erde zu mokieren, wenn man selbst beispielsweise auf einem Theatersessel...