Ausland
Steine, Pflanzen, Sounds
Das Theater der Chilenin Manuela Infante ist politisch im Geist des Zweifels
von Renate Klett
Erschienen in: Theater der Zeit: Thema Ukraine: Serhij Zhadan „Lieder von Vertreibung und Nimmerwiederkehr“ (04/2022)
Assoziationen: Akteure Südamerika Dossier: Chile Dossier: Klimawandel
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Für Manuela Infante hat Theater mehr mit Philosophie zu tun als mit Geschichtenerzählen. In ihren Stücken sind die Protagonisten Steine oder Pflanzen, die sich ständig verwandeln, auch schon mal in Menschen, wie es scheint. Ihr Kosmos ist groß und nicht immer verständlich, aber stets faszinierend. Sie gehört zu jenen Auserwählten, die alles dürfen und ergo tun. Sie ersinnt ungewöhnliche Narrative, jenseits des Anthropozäns. Die Menschen sind eh verloren, also übernehmen Bäume, die sich verbreiten und dabei sprechen, und Mineralien, die sich ihrer Lebenskunst versichern.
Das hat manchmal fast märchenhafte Züge und oft auch recht brutale. Man weiß nie so recht, woran man bei ihr ist, und gerade das scheint Zuschauer wie Mitspieler zu inspirieren. Daraus ergibt sich ein politisches Theater ganz eigener Art, mit Fantasie statt Propaganda, lässiger Überlegenheit statt bitterer Abrechnung.
„Was mich am Theater am meisten interessiert, ist nicht, was man damit alles machen kann, sondern, was es eigentlich ist“, sagt sie. „Dazu habe ich viele Theorien ausgebrütet. Mich fasziniert Theater als materielle Praxis, wie es auf verschiedene Weise funktioniert.“
An ihrem wohl berühmtesten Stück „Estado Vegetal“ (deutscher Titel „Gegen den Baum“) lässt sich das gut ablesen. Es beginnt wie eine Vorstadtkomödie. Ein Junge fährt mit dem Motorrad gegen den großen Baum, der den Platz beherrscht. Die Anwohner streiten darüber, ob der Baum gefällt werden soll oder nicht. Der zuständige Beamte wiegelt ab, weil er die Verantwortung nicht übernehmen will. Die Streitereien versiegen, und weil niemand was tut, übernimmt der Baum die Führung. Alles ändert sich.
Schließlich ist die Erde in Gefahr, und da die Menschen nichts dagegen tun, müssen eben die Pflanzen ran. Die Autorin zitiert Pflanzenforscher und Pflanzenneurologen, und die wunderbare Schauspielerin Marcela Salinas spielt sie alle gleichzeitig.
Bäume sind älter (und oft auch schöner) als Menschen, haben mehr Kraft als sie. Warum sollten sie nicht die Welt regieren, warum sollten sie die Welt nicht retten können?! Es gibt eine pflanzliche Intelligenz, die sich in Sachen Überleben durchaus an der des Menschen messen kann.
Auch in „How To Turn To Stone“ vertritt Infante das von ihr erfundene „nicht humane Theater“, will sagen: Hier geht es nicht um Menschen, sondern um Materie. Steine können nicht sterben, außer der Mensch mischt sich ein und zerhackt sie. Aber der Stein ist stärker und kann sich rächen. „Ein Stein wird nicht geboren, er bildet sich. Er wächst in Schichten. Das Gewicht eines Steins ist angesammelte Zeit. Darum tut es so weh, wenn dich ein Stein trifft. Denn was dich trifft, ist geballte Geschichte.“ So wird gleich zu Beginn des Stücks die Marschrichtung vorgegeben. Anfangs wähnt man sich auf dem Mars, aber Schicht um Schicht wird klar, dass dies die malträtierte Erde ist.
All die Erdlöcher, Abrutsche, massives Gerät und Sprengungen lassen sie aussehen wie der Mars, und das wird nie wieder zu ändern sein. Das harte Leben der Bergleute in der Kupfergrube verbindet sich mit ausgegrabenen Kadavern, die auf eine Steinigung hindeuten. „Die Leichen sind Produktionsfehler“, sagt das Management. Auch auf der Straße liegen Leichen, einige angeblich schon seit 300 Jahren, und auch die Lebenden versteinern. Es ist eine Zukunft, die uns schon erreicht hat. Ob die besser ist, wird nicht gesagt, aber das zu erkunden, wäre allemal gut.
„Für mich ist das Theater nicht das Medium oder der Inhalt, nicht, was man dort sagt, sondern, was man nicht sagt – es ist in gewisser Weise ein heiliger Ort. Als ich jung war, wollte ich Philosophie studieren oder Musik. Theater kam mir gar nicht in den Sinn. Aber die Musik hatte für mich nicht genug Inhalt und die Philosophie nicht genug Dunkelheit. Das Theater hingegen erschien mir als der Ort, an dem wir über das sprechen können, was wir nicht verstehen und vielleicht auch nie verstehen werden. Deshalb nenne ich es einen Heiligen Ort.“
Manuela Infante, 1980 in Santiago de Chile geboren, ist Autorin und Regisseurin von Theaterstücken, Drehbuchautorin und Musikerin. Sie studierte in Santiago und Amsterdam, gründete 2002 das Teatro de Chile, mit dem sie 15 Jahre lang Süd- und Nordamerika sowie Europa bereiste. 2019 gewann sie den Stückemarkt des Berliner Theatertreffens mit „Estado Vegetal“. Die Auszeichnung ist verbunden mit einer Auftragsarbeit für das Schauspielhaus Bochum. So entstand das Solo „Noise. Das Rauschen der Menge“, das Anfang Juli 2019 seine Premiere feierte. Die hinreißende Schauspielerin Gina Haller entfesselt anderthalb Stunden lang das Abbild einer Welt, die nicht mehr lebensfähig scheint und doch nicht untergehen kann. Am Anfang versteht man eher nichts in diesem Chaos aus Höllenkrach, ‚loop pedal‘ und Satzfetzen, doch allmählich bilden sich Situationen und Schrecken heraus. Es geht um Frauen, die in den Wald flüchten und später erhängt gefunden werden, um Hunde, die den Herzschlag verschütteter Menschen hören und sie dadurch retten können, um die Rebellion in Chile, bei der die Polizei den Studenten direkt ins Gesicht schoss – mehr als 340 haben ihr Augenlicht dabei verloren.
„Gerüchte sind das Geräusch der vielen, und Geräusch ist ein Land ohne Grenzen!“ heißt es im Text, und Haller spielt genau das. Sie zirpt, kreischt, quietscht, jault und bellt, kriecht auf dem Boden, springt in die Höhe, reißt die riesigen Plastikfolien herunter, wickelt sich darin ein, leckt ihre Wunden und spuckt Feuer aus Worten. Das Land ohne Grenzen bäumt sich auf, und alles scheint möglich – doch wie meist bei Revolten erstirbt es in Gewalt und Resignation.
„Noise“ ist komplex wie alle Stücke Infantes, es ist politisch aus dem Geist des Zweifels, nicht der Unterwerfung, und der Soundscape aus Hallers vielfältigen Stimmen, nebst ihrer elektronischen Verarbeitung, erzeugt eine Identifikation, der sich niemand entziehen kann. Und das will man auch gar nicht – schließlich ist der Aufstand gerecht, und selbst seine Gerüchte sind glaubhaft. Die Atmosphäre ist entrückt und unheimlich. Was ist Realität, was Halluzination?
Man kann gar nicht so schnell gucken, wie Haller sich verwandelt und beides gleichzeitig ist. Sie spielt die komplette Revolte mit allen Machtkämpfen, Missverständnissen und Triumphen. „Alles hat seine dunkle Seite“, sagt Infante, „und die interessiert mich mehr als die schöne, glitzernde. Meine Stücke entstehen während der Proben, ich stelle viele Fragen, und die Akteure beantworten sie, jeder auf seine Weise. Wir improvisieren viel, verändern viel und machen es neu. Und aus all diesen Situationen entsteht der Text.“
Ihre Dramaturgie ist assoziativ, mitunter reziprok. Die vielen Handlungsstränge verknüpfen sich wie in einem geheimen Ritual, das die Oberhand gewinnt und dennoch jederzeit verändert werden kann. Es ist diese Freiheit, die den Aufführungen ihre Stärke verleiht und ihre Glaubwürdigkeit.
Dass Infante sich mit Ovids „Metamorphosen“ auseinandersetzen musste, liegt auf der Hand. Schließlich hatte er schon vor 2000 Jahren Menschen in Pflanzen, Felsen oder Wasser verwandelt. Und die berühmte erste Zeile seines fünfbändigen Gedichts lautet: „Neue Gestaltung, in die sich Körper verwandeln, treibt zu künden mein Herz.“ Das tut er denn auch in mehr als 250 Mythen und Sagen. Für ihre Aufführung sucht Infante vorwiegend solche Episoden aus, in denen Männer/Götter junge Frauen/Nymphen verfolgen, vergewaltigen und schnell wieder verlassen. „Ovid versteht es sehr gut, eine Geschichte in einer anderen zu verstecken“, sagt sie, „und ich versuchte, diese Methode zu übernehmen, was sehr schwer war.“
Ihre Binnenerzählungen kreisen um das Schicksal der Frauen, von Daphne, die zum Lorbeerbaum wird, bis zur elfenbeinernen Statue, die Pygmalion für seine Lust zum Leben erweckt. Durch das Begehren der Männer werden die Frauen verdinglicht, gehören also nicht mehr zur humanen Welt. Infante erfindet dafür mysteriös verbrämte Bilder, die antike Götter und moderne Menschen ineinander verweben. Dabei gelingt ihr das Kunststück, die Schönheit des alten Textes zu bewahren und ihn gleichzeitig zu hinterfragen. „Ursprünglich sollte das Stück fünf Stunden dauern“, sagt sie und lacht, „aber dann hab ich gekürzt und gekürzt und gekürzt, und das ist auch gut so.“
„Metamorphoses“ wurde in Brüssel erarbeitet. Ihre nächste Premiere ist in Barcelona – „ein Stück über das Feuer“, (mehr will sie nicht verraten). Danach macht sie in Basel „a piece about endings“, und sie ist noch mit einigen anderen europäischen Theatern im Gespräch. Manuela Infante ist „in“, und sie weiß, was das bedeutet, kennt die Verlockungen und Bedrohungen dadurch. Aber sie ist klug genug, nicht in die Fallen zu tappen, und offen genug, sich darüber zu freuen. //