Die Stimme als gesellschaftliches Vademecum
Erschienen in: Recherchen 113: Die Zukunft der Oper – Zwischen Hermeneutik und Performativität (06/2014)
Stimmen sind immer Stimmen ihrer Zeit. Moden und Geschmacksfragen sind sie ebenso unterworfen wie politischen, kulturellen und klimatischen Veränderungen. Notenpapier mag geduldig sein, und unsere editorischen Praktiken sind sicher so differenziert und „kritisch“ wie nie. Eine ideale Fiordiligi oder Aida, ein idealer Tristan oder Wozzeck aber lässt sich daraus nicht destillieren, oder wenn, dann nur auf dem Papier für das Papier. Gesangspartien sind kein Fall für absolute Maßstäbe und wasserdichte Analysen (und das gilt nicht nur für die Wissenschaft, sondern auch und gerade für meinen Berufsstand). Sicher gibt es in der Betrachtung von Stimmen ein gewisses Handwerkszeug: Man kann eine Tessitura bestimmen; man kann Spitzentöne zählen oder ein dynamisches Profil erstellen – wann hat die Sängerin/der Sänger was wie laut oder leise zu singen; man kann die Größe der Partie definieren – wie viel ist zu singen, vor allem: wie viel am Stück; man kann die Anzahl und Frequenz der Auftritte als Kriterium dafür ins Feld führen, ob eine Sängerin/ein Sänger der Partie gewachsen ist oder nicht; überhaupt kann man sich Gedanken über die nötige Kondition und Konstitution machen, die Körperlichkeit jenseits der beiden mit etlichen Mythen belegten blassrosa Muskelchen, die da am Rachenausgang über Wohl und Wehe (mit)entscheiden, über...