Faust redet darüber, was die Welt im Innersten zusammenhält – und Gretchen über Faust. Hamlet sinniert über Sein oder Nichtsein, Ophelia über ihren Beziehungsstatus mit Hamlet. Karl Moor hebt in den böhmischen Wäldern die Welt aus den Angeln, Amalia wartet zu Hause auf Karl: Kaum eine Frauenfigur in der Theatergeschichte, die unter feministischen Gesichtspunkten nicht schwer zu wünschen übrig ließe. Entsprechend stark ist der dramatische Kanon im Stadttheaterbetrieb unter Beschuss geraten. Neue Frauen braucht die Bühne, lautet der Branchentenor.
Vor diesem Hintergrund erscheint es umso bemerkenswerter, dass sich in dieser Spielzeit gleich reihenweise junge Regisseurinnen – allesamt zwischen dreißig und vierzig – auf kanonische Protagonistinnen beziehen; und zwar auf die ältesten der Dramengeschichte. Zum Beispiel auf Iphigenie, die auf der Liste der verhasstesten Frauenfiguren seit jeher einen Spitzenplatz belegt, weil sie klaglos bereit ist, sich von ihrem Vater Agamemnon – dem Anführer der Griechen im Trojanischen Krieg – fürs Vaterland opfern zu lassen. Konjunktur hat aber auch Iphigenies Schwester Elektra, die – durchaus weniger handzahm – im Verbund mit Bruder Orestes ihre Mutter Klytämnestra nebst deren Lover umbringt. Oder Medea, die sogar die eigenen Kinder tötet. Alles Patriarchatsopfer, die da die Bühne von Berlin über Kassel bis nach Zürich...