Theater der Zeit

Diskurs & Analyse

Theater schlägt Netflix

Serie: Warum wir das Theater brauchen #04

In unserer TdZ-Serie schreiben Theatermacher:innen über innere Antriebe, gesellschaftliche Bedingungen und künstlerische Motivationen

von Jonny Hoff

Erschienen in: Theater der Zeit: Theater & Erinnerung – Gedächtnistheater – Wie die Vergangenheit spielt (05/2023)

Assoziationen: Dossier: Digitales Theater

Foto: Nathan Ishar

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Ich sitze in einem mittelgroßen Theater und sehe die Neuinterpretation eines Klassikers, „Antigone“, in der Inszenierung einer etablierten Regie. Ausverkauftes Haus, das Publikum meist im Alter meiner Eltern oder Großeltern. Tolle Spieler:innen auf der Bühne, die alles geben. Schwere Sätze über sechs Zeilen hören sich bei ihnen an wie „Hallo, Tschüss, wie geht´s dir?“, das Regiekonzept ist klar zu erkennen. Zwei Stunden vergehen, Held:innen sterben, existenzielle Emotionen werden spürbar, am Ende zu Recht großer Applaus. Aber ich merke, dass mich nichts in diesen zwei Stunden wirklich berührt hat. Es gab keine Katharsis, keine Läuterung, und ich denke, dass liegt nicht daran, dass hier irgendwer etwas falsch gemacht hat. Aber woran dann?

Theater ist ein Ort der greifbaren Identifikation mit etwas, der Ort, an dem Lebensrealitäten eine künstlerische Übersetzung bekommen, sodass sie für mich erlebbar werden. Dabei gilt nach meiner Beobachtung, je entfernter die Lebensrealität von meiner eigenen ist, desto mehr muss die Übersetzung leisten, damit sie spürbar für mich wird.

Antigones Kampf, ihrem Bruder die letzte Ehre erweisen zu dürfen, Kreons unmenschlicher Entschluss, sie dafür zum Tode zu verurteilen, oder der Umstand, dass sie bei lebendigem Leibe begraben wird – alles grausame Dinge und trotzdem ungreifbar für mich. Nichts davon hat seinen Wert verloren, aber ich kann mich damit nicht mehr identifizieren. Briefe, die auf der Bühne überreicht werden, Machtkämpfe innerhalb von Königshäusern, religiöse Rituale usw. – alles Dinge, die ich kenne, zu denen ich aber keinen emotionalen Bezug habe, weil sie mir in meinem Leben nicht mehr begegnen.

Ich erinnere mich daran, wie meine Oma mir die Briefe gezeigt hat, die sie und Opa sich schrieben während des Kennenlernens – wie viel sie ihr bedeutet haben, jeder einzelne! Aber ich habe meinen letzten emotionalen Brief mit 13 geschrieben, finde die Lebensrealität von Monarchen maximal noch in der Netflix-Serie „The Crown“ interessant und bin aus der Kirche ausgetreten. Jetzt wird mir jemand erklären: Aber das ist doch das Tolle am Theater, dass du das dann da erleben darfst. – Ja! Stimmt! Aber ich erlebe nicht, obwohl ich weiß, was gemeint ist, ich schaue von außen zu. Jetzt versetze ich mich mal in die Lage eines 15-Jährigen, der heute zum ersten Mal im Theater sitzt, seine Urgroßoma nicht kennt, ohne Religion aufgewachsen ist und Briefe eigentlich nur in Form von Rechnungen kennt, die seine Eltern jeden Monat mit der Post bekommen. Dem wird das doch alles noch viel weiter weg vorkommen als mir.

Warum genau spielen wir den Kanon? Weil das unsere einzige Legitimation als Kunstform ist? Weil das Theatertradition bedeutet? Oder weil wir wirklich, wahrhaftig und jedes Mal aufs Neue nach dem Universellen, das zweifelsohne existiert, in diesen Texten und ihren Konflikten suchen?

Verstehen Sie mich bitte richtig, das hier wird kein Manifest, um traditionelles Sprechtheater abzuschaffen. Nein! Dieses Sprechtheater war nämlich der Grund, warum ich Schauspieler werden wollte. Es wird die Formulierung des Wunsches, sich nochmal des gesamtgesellschaftlichen Auftrags des Theaters als Spiegel der Gesellschaft bewusst zu werden. Die Verantwortung darin zu sehen, dass diese Legitimation auch zukunftsfähig bleibt, und sich als kulturschaffender Mensch immer wieder zu fragen: Ist unser Theater wirklich für alle? Ohne dass jedes Stück allen gefallen muss.

Eine Identifikation mit dem, was auf einer Bühne passiert, kann durch verschiedenste Dinge hervorgerufen werden, und ich glaube, wir müssen da unser Repertoire nochmal ein bisschen erweitern, um andere Formen, aber auch um andere Geschichten, sodass jeder den Zugang zu dieser wunderbaren Kunstform findet.

Der Alltag unserer Gesellschaft wird immer digitaler, aber Digitalität gibt es im Theater kaum, allerdings zwang die Pandemie zu einem Auftrieb als ein Ersatz. Ich glaube fest daran, dass es eine realistische Chance ist, das Theater um neue Bühnen und Geschichten zu erweitern, Theater überregional zu machen und ganz andere Menschen mit diesem Medium anzusprechen und zu erreichen als die, die wir eh schon fürs Theater gewinnen konnten.

Wie oft haben Sie, während Sie das hier lesen, schon auf Ihr Handy geschaut? Vielleicht eine tolle Nachricht erhalten, die sie zum Lachen gebracht hat, oder eine Sprachnachricht abgehört, die mal wieder viel zu lang war, oder eine Nachricht an die Liebsten geschickt, dass sie an sie denken? Sind das keine Geschichten, die uns bewegen? Wir verlieben uns online, wir bilden uns online, wir erleben uns selbst online – klar, sicherlich unterschiedlich häufig, von den Generationsunterschieden ganz abgesehen, aber wir tun es alle tagtäglich!

Mit meinem Kollektiv punktlive versuchen wir uns daran, Social Media mit Theater und Film zu fusionieren. Wir begreifen Digitales Theater als neue und eigene Sparte, für die es gilt, eine Sprache zu finden. Eine Sprache, die verständlich ist, denn für ganz neue künstlerische Übersetzungen müssen wir unserem Publikum und auch uns selbst neue Sehgewohnheiten antrainieren. Digitalität rein um der Digitalität willen kann nicht der Weg sein. Sie muss aus den Geschichten heraus begründet sein, Narration und Lebensrealitäten bedienen, damit sich ein Publikum, gerade eines, das vielleicht eigentlich nicht ins Theater geht, darauf einlassen und damit identifizieren kann. Um es konkret zu machen: Hamlet in der Schlegel-Tieck-Fassung wird niemals in einem Videocall funktionieren, weil es schlicht einfach keine Lebensrealität dafür gibt.

Mit unseren ersten Arbeiten („werther.live“, „möwe.live“ und „odysseus.live“), die entweder rein digital oder hybride Formate sind, durfte ich feststellen, dass diese digitalen Geschichten nicht nur gut funktionieren, sondern auch ganz andere Menschen tief bewegen, die ich mit analogem Theater niemals erreicht hätte. Bestes Beispiel: mein älterer Bruder. Er hat noch nie verstanden, was ich daran toll finde, mich acht bis zehn Stunden in dunkle Räume einzusperren und klassische Texte zu erarbeiten. Er geht auch nie ins Theater, es sei denn, ich spiele und habe ihn vorher angefleht, sich ein Stück anzuschauen. Weil er denkt, er sei zu dumm, um es zu verstehen, weil er glaubt, es sei ein Relikt aus längst vergangener Zeit, weil er keine Lust auf die gesellschaftliche Etikette eines Theaterbesuchs hat und weil es ihn in seinem Alltag nicht abholt.

Mit den digitalen Formaten gelang es mir, ihn zu Hause auf der Couch zu erreichen, mit beispielsweise einer Form von „Die Leiden des jungen Werther“, bei der Lotte und Werther feststellen, dass es viel leichter ist, sich online bei Instagram, WhatsApp und Co. zu verlieben, sich in endlosen Chats und Sprachnachrichten miteinander zu verlieren, als sich in Realität wirklich zu begegnen. Etwas, das mein Bruder kennt, das viele kennen, schließlich ist das die Lebensrealität beim Online-Dating. Diesen Theaterabend konnte nicht nur mein Bruder in Wien genießen, sondern auch rein theoretisch andere Menschen rund um den Globus, gleichzeitig, während ich in Bochum live gespielt habe.

Theater schlägt Netflix an diesem Abend, ist genauso mit einem Klick zu erreichen und stülpt sich damit ganz neu in die Leben der Menschen, die es schauen. Das empfinde ich als eine Chance und als Möglichkeit, Menschen so sehr fürs Theater zu begeistern, dass sie vielleicht auch den Weg ins nächstgelegene Theater wagen, weil sie sich eben doch von diesem Medium verstanden fühlen. Vielleicht ist da meine Generation auch ein bisschen im Vorteil: Ich weiß noch, was es bedeutet, ein selbst zusammengestelltes Mix-Tape oder eine selbstgebrannte CD zu verschenken, aber ich verstehe genauso, wie sich jemand durch das Instagram-Profil einer Person in sie verknallen kann. Vielleicht müssen genau wir, die Millennials, uns das zur Aufgabe machen und Verantwortung übernehmen, weil wir diese Brücke schlagen können.

Ohne Goethe, Tschechow und Homer wären wir nie auf diese Ideen gekommen, ohne die Erfahrung des analogen Theaters hätten wir nicht gewusst, dass diese Geschichten funktionieren und berühren, und ohne Digitalität hätten wir sie nicht erzählen können.

Deshalb brauchen wir das Theater, weil alle diese Geschichten, egal ob analog oder digital, wichtig sind, weil sie alle erzählt werden sollten. Damit wir zusammen darüber lachen, weinen und nachdenken können, egal ob im Foyer oder im Zoom-Meeting.

Auf unserem Instagram-Account finden Sie „Theater schlägt Netflix“ als Hörtext gelesen vom Autoren Jonny Hoff – so entspannend wie ein Hörbuch, so informativ wie ein Essay, Theater durch und durch.

 

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