Bei Evgeny-Titov-Inszenierungen muss man auf Überraschungen gefasst sein. Mal fällt eine ausgewachsene Kuh vom Schnürboden – so geschehen 2017 bei der „Hexenjagd“ von Arthur Miller am Düsseldorfer Schauspielhaus –, ein anderes Mal wird der Titel eines Stücks gleich ganz neu definiert, wie jüngst am Staatstheater Wiesbaden. „Der eingebildete Kranke“ als Fall von Hypochondrie, davon will Titov nichts wissen. Starb nicht der Verfasser Molière an einem Blutsturz in der Garderobe seines Theaters?
„Einbildung“, das liest dieser Regisseur strikt im biblischen Sinn: In Argan, der Titelfigur, sei wie in uns allen die Ursünde „eingebildet“. Vermutlich hat es mit Titovs russischer Herkunft zu tun (er wurde 1980 in Kasachstan geboren), dass er anders, also genauer liest. Und diese Lesarten haben durchaus metaphysische und pathetische Aspekte. Ich denke anders, also bin ich. Ohne die geringsten Deutschkenntnisse kam Titov, nach einer Schauspielausbildung an der Theaterakademie St. Petersburg, nach Wien und studierte am Max Reinhardt Seminar bei Martin Kušej Regie. (Angenommen worden war er erst beim zweiten Anlauf. Titov erwähnt Kränkungen in seiner Biografie fast mit einer gewissen Inbrunst.) Seit gut zwei Jahren inszeniert der 38-Jährige nun selbst und fand auf Anhieb viel Beachtung.
Die Bühne in Wiesbaden ist kein bürgerlicher Salon, sondern eine kahle Gruft,...