Theater der Zeit

Auftritt

Theater Baden-Baden: Die Würde des Menschen stirbt im Urin-Becher

„Woyzeck“ nach dem Stück von Georg Büchner – Regie Sandra Leupold, Bühne und Kostüme Jochen Hochfeld, Musikalische Leitung Hans-Georg Wilhelm

von Elisabeth Maier

Assoziationen: Baden-Württemberg Theaterkritiken Musiktheater Sandra Leupold Georg Büchner Theater Baden-Baden

Woyzeck als musikalischer Schulstoff?
Woyzeck als musikalischer Schulstoff?Foto: Jochen Klenk

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Georg Büchners Dramenfragment „Woyzeck“ ist der Stoff der Stunde. Und das nicht nur, weil das Stück 2024 Abiturthema in Baden-Württemberg ist. In einer Gesellschaft, die immer mehr Menschen in die Armut zwingt, berührt die Geschichte vom Protagonisten aus dem Prekariat. Fast gleichzeitig bringen nun zwei Theater in Baden den Stoff nach dem Konzept auf die Bühne. Die Musical-Fassung von Robert Wilson mit Songs von Tom Waits und Texten von dessen Ehefrau Kathleen Brennan hat Wolf E. Rahlfs, der neue Intendant der Badischen Landesbühne Bruchsal, für seinen Start gewählt. Kaum 60 Kilometer entfernt, hat die Opernregisseurin Sandra Leupold das Musiktheater in Baden-Baden aufgeführt. Dabei spürt die Spezialistin für das Musiktheater der Sprachmelodie in Büchners kantiger, gebrochener Sprachkunst nach.

Die Musikalität, die Leupold in der Fassung von Ann-Christin Rammen und Wolfgang Wiens zu Tage fördert, besticht. Wie einen Tanzbären treiben die Mächtigen den Soldaten Woyzeck über die Bühne. Der Underdog steht ganz am Ende der militärischen Hierarchie. Mit dem Stock scheucht ihn Karl, den Büchner als den Narren im Stück angelegt hat, herum. „Geh aufrecht“, „mach Kompliment“ schreit Berth Wesselmann mit seiner kräftigen Stimme. Die anderen lachen über die verlorene Würde des Menschen. Gerade in Gruppenszenen entfaltet Regisseurin Leupold ihr Gespür für Rhythmus.

Wie Mensch-Maschinen interpretiert das Ensemble den Song „Misery Is the River of the World“, in den Waits und Brennan das Elend der Welt in poetische Bilder fassen: „Wenn es eines über die Menschheit zu sagen gibt, dann das, dass es nichts Freundliches über sie zu sagen gibt.“ Die Band, geleitet vom Pianisten Hans-Georg Wilhelm, gibt den Takt vor. Dumpf und düster klingt die Melodie. „Blood Money“ haben Waits und Brennan ihr Album genannt, das 2002 erschienen ist. Weil Georg Büchners „Woyzeck“ den Musikfans auf dem US-amerikanischen nichts sagt, hat der Star diesen düsteren, brutalen Titel gewählt.

Auf der Bühne, die Jochen Hochfeld mit Plastikfolie in blutiges Rot getaucht hat, driften die Figuren immer weiter in die Gewalt ab. Auf einer Palette stapeln sich durchsichtige Urin-Becher aus Plastik. Die tägliche Erbsen-Ration, die Woyzeck im Rahmen eines wissenschaftlichen Experiments vertilgen muss, ist in Tüten portioniert. Dazwischen führt der Doktor seine kranke Forschung an Woyzeck durch, den er zum lebenden Objekt degradiert. Max Ruhbaum interpretiert diese Rolle leicht und komisch. So großartig Hochfelds moderne Bühne gelungen ist – die altmodischen Kostüme wie aus Soldaten-Lehrbüchern des 19. Jahrhunderts wirken da farblos und anachronistisch.

Musikalische Höhenflüge strebt die Opernregisseurin mit dem Schauspielensemble nicht an. Doch im Hauptdarsteller Lion-Russell Baumann darf sie auf einen Grenzgänger zwischen Schauspiel und Tanz bauen.  Um den einen oder anderen Groschen für Marie, die Mutter seines Kindes, zu bekommen, wälzt sich Woyzeck im Staub. Weil er das tägliche Erbsengericht nicht mehr verträgt, kotzt er die Glasscheibe voll, hinter der die Band sitzt. Mit zitternden Fingern hält Baumann das Rasiermesser in den Händen, als er bei seinem Hauptmann Dienst tut. Die Wut, die in diesem Menschen gärt, zeigt der Schauspieler in winzigen Gesten. Stumm schreit sein Körper. Doch zugleich ist dieser Getretene zu den tiefsten Gefühlen fähig. Wenn Baumann mit seiner warmen Stimme die Ballade „Coney Island Baby“ haucht, ist das einfach schön. Seine Figur zwischen den Polen auszuloten, das treibt der Spieler auf die Spitze. Gerade das junge Publikum trifft der Performer mit seinem Spiel ins Herz.

In Grautönen zeichnet Lisa Schwarzer ihre Marie. Die Mutter von Woyzecks unehelichem Kind lassen auch die Ohrringe, die ihr der Tambourmajor schenkt, nicht aufblühen. Zwar imponiert ihr der Soldat in der schmucken Uniform. Aber Carl Herten glücken in seiner Rolle nur selten erotische Augenblicke. Den überlegenen Soldaten zu spielen und Woyzeck in Hahnenkämpfe zu verstricken, das gelingt ihm. Die verzweifelte Sehnsucht Maries läuft bei ihrem Gegenpart zu oft ins Leere.

Mit einer Spielzeit von einer Stunde und 45 Minuten hat Leupold die Inszenierung auch für das Publikum der Abiturienten jugendgerecht gerafft. Woyzecks Werdegang zum Mörder zeichnet sie mit dem Ensemble so überzeugend nach, dass sich die Frage nach der Aktualität nicht mehr stellt. Die Wunde in der Gesellschaft, die der Arzt und Dichter Georg Büchner in seinem 1836 begonnenen und nie vollendeten Dramenfragment diagnostiziert hat, ist damals wie heute nicht geheilt.  

Erschienen am 27.9.2023

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