Auftritt
Theaterhaus Jena: Ein Ensemble der Romantiker
„Carol. Shakespeare in Jena“, Stückentwicklung des Ensembles – Regie Lizzy Timmers, Dramaturgie Hannah Baumann, Bühne Maarten van Otterdijk, Kostüme Bettina Kirmair, Musik Moritz Bossmann
von Michael Helbing
Assoziationen: Theaterkritiken Thüringen Lizzy Timmers Theaterhaus Jena
Huch, was ist das denn!? Das kann doch wohl nicht ihr Ernst sein. Sechs Jahre lang ließen sie den dramatischen Kanon links liegen, pfiffen aufs literarische Theater, recherchierten, schrieben, improvisierten, probten sie sich ihre Stücke lieber konsequent selbst zusammen – die ersten vier Jahre mit dem Kollektiv Wunderbaum, dann mehr oder weniger in Eigenregie – und nun, auf den allerletzten Metern, kommen sie mit Shakespeare um die Ecke? „Romeo und Julia“, ausgerechnet. Die Straße, der Ball, der Balkon, mit Mercutios Tod und Tybalts Ende, mit Nachtigall oder Lerche.
Klassisches Versmaß und Fechtszene in des Abends Mitte. Und der Regisseur will auch noch Goethes Regeln für Schauspieler durchsetzen. Was daran liegen mag, dass der Regisseur Goethe himself ist, der ein Spiel im Dreiviertelprofil bevorzugt. Das geht dann aber doch zu weit, das gibt diese große runde Bühne mit hellem Holzboden auch gar nicht her, die sie vor halbrundem dreigeschossigem Baugerüst, das sie ebenfalls bespielen, in die sommerliche Kulturarena auf dem Theatervorplatz stellten. Derart skizzieren sie uns Shakespeares Globe. „Das Publikum ist überall; das ist schwierig.“
Nein, das alles ist natürlich nicht ihr Ernst, aber auch sehr viel mehr als eine Albernheit zum einem Jenaer Turnus gemäßen Abschied, bevor eine neue Kollektivleitung antritt. Es geht zwar lustig zu, aber auch listig, mit Augenzwinkern und Träne im Knopfloch. Auf so intelligente wie unterhaltsame Weise zieht hier eine letzte Stückentwicklung, in der sich wiederum Lokales und Globales spiegeln, ganz nebenbei die Summe einer Ensemblearbeit, die soeben ihren Höhepunkt erreichte: „Die Hundekot-Attacke“ fuhr jüngst zum Heidelberger Stückemarkt sowie zum Berliner Theatertreffen, nebst 3sat-Preis für alle und Alfred-Kerr-Darstellerpreis für Nikita Buldyrski.
Und nun tritt Novalis auf und zitiert sich selbst: „In dem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehen, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe, so romantisiere ich es.“ Das klingt hier plötzlich wie eine Definition dessen, was sich seit 2018 am Theaterhaus Jena ereignete; es erklärt diese Truppe auf, vor und hinter der Bühne zu Romantikern, wenn auch mit einer wohl unvermeidlichen Selbstironie. Aber immerhin versammelte sich der Kreis Jenaer Frühromantiker, den sie hier durchlaufen, um 1800 auch für sechs Jahre in der Stadt, um eine Welt aus den Angeln zu heben. Das hallt bis heute nach.
„Carol. Shakespeare in Jena“ heißt diese traditionell Sommerspektakel genannte Eröffnung der Kulturarena, obwohl die Zeit solcher Spektakel, bei denen gleichsam die halbe Stadt mitspielte, schon lange vorbei ist; die Stadt ist inzwischen eher gedanklich integriert. Das fand jetzt, wie üblich, nur an fünf aufeinanderfolgenden Juli-Abenden statt (was ein Aufwand, was eine Verschwendung im Grunde!).
Der Titel verweist auf Caroline Schlegel (später Schelling), die mit ihrem zweiten Mann, August Wilhelm Schlegel nach Jena kam, nachdem er sie und ihre achtjährige Tochter Auguste aus dem Gefängnis holte, wohin sie ihr Engagement für die Mainzer Republik gebracht hatte. Das Paar übersetzte wirkmächtig siebzehn Shakespeare-Dramen; ihre Anteile sind in Manuskripten mit „Carol.“ markiert.
Caroline, eine Frau von messerscharfem Verstand und mit ebensolcher Zunge, aber jenseits dessen so gut wie ohne eigenständiges Werk geblieben, war das Zentrum ihres heimischen Salons in der Jenaer Leutragasse 5, den die Aufführung jetzt als wilde Wohngemeinschaft der halbwegs offenen Beziehungen nachzeichnet. Neben ihr sowie August und Auguste treten auf: Augusts Bruder Friedrich, Novalis und Friedrich Schelling sowie, aus Weimar, Goethe. Die Beziehung zu Schiller ist bereits abgekühlt; Caroline verortet ihn einsam schreibend in seinem Gartenhaus nebenan (das hier ja tatsächlich in Sichtweite steht).
Caroline rezitiert höhnisch und deprimiert aus Schillers „Die berühmte Frau. Epistel eines Ehemanns an einen andern“, womit sie unter anderem erklärt, weshalb sie sich des Romaneschreibens enthielt: um dem Manne weiblich zu bleiben. Pina Bergemann schwingt sich hier zu einem großen Solo des Haderns auf – so wie jeder hier nochmal seinen eigenen starken Auftritt erhält – und variiert derart mit Verve ihre Auseinandersetzungen mit Frauenrollen zwischen Mutterschaft und Karriere, die sie mit Anna Gschnitzer auf die Bühne brachte („Leaving Carthago“, „Die Entführung der Amygdala“).
Bergemanns Caroline stellt ihr Licht untern Scheffel, Mona Vojacek Kopers Auguste lässt im fröhlichen Überschwang ihre Mutter leuchten, bevor sie später mit einem berührend verschämten Lachen stirbt und als Hamlet im Geiste aufersteht. Leon Pfannenmüllers August Schlegel lebt meistens in seiner eigenen Welt, sein Bruder Friedrich (Henrike Commichau) besteht aus emphatisch vorgetragenem Enthusiasmus, Anna K. Seidels Novalis steigt tief hinab in den Steinbruch seiner Verse, Linde Dercons Schelling schleicht als ganz durchlässiges Wesen um Caroline herum und fällt ihn Ohnmacht, wenn er vom Küssen spricht. Sie spielen dann alle zusammen also „Romeo und Julia“, Nikita Buldyrskis Goethe inszeniert seine Fassung nach den Schlegels eifrig und fiebrig, bevor ihm auf dem Gerüst, von wo aus er seinen Erlkönig in die Nacht schickt, die Höhenangst ereilt…
Und fast immer ist die Band dabei, bei lauter rockig-poppigen Songs, noch mehr mit Musik, die dem Abend (neben und mit einer glänzenden dramaturgischen Arbeit) Struktur gibt und Atmosphäre verleiht, die Szenen lässig untermalt, sie aber bisweilen auch unzulässig übertüncht. Das alles findet immer auf doppeltem Boden statt: Schauspieler als ihre Alter Egos in und außerhalb ihrer klugerweise nicht gänzlich in Deckung gebrachten Rollen, eine Stadt als Absender und Empfänger einer welthaltigen Erzählung. Das kippt am Ende ganz ins Hier und Jetzt, wenn Caroline und August in freundschaftlicher Vertrautheit auf ihre Scheidung zusteuern und dabei zugleich die zwei Schauspieler aufs nahe Scheiden, was ihnen kurz günstig für eine folgenlose heiße Affäre erscheint…
„So this is how it ends”, singen sie im Finale und fragen: „Will you remember us?” Es ist ein angemessenes Ende, mit einem Abend, der zärtlich und impulsiv daherkommt, ein bisschen verwundert und auch verwundet. Der zum Abschied Aufbruchstimmung verbreitet. Und der die Gewissheit in sich trägt, dass diese sechs Jahre Spuren hinterlassen haben. Dahinter kann niemand mehr zurück, darauf kann man nur aufbauen.
Erschienen am 5.7.2024