Theater der Zeit

Auftritt

Heidelberg: Ein Vaudeville kluger Lebensfragen

Theater und Orchester Heidelberg: „Der Kitschgarten“ nach Motiven von Anton Tschechow. Regie und Textfassung Milan Peschel, Bühne/Kostüme Nicole Timm

von Elisabeth Maier

Erschienen in: Theater der Zeit: Thema Ukraine: Serhij Zhadan „Lieder von Vertreibung und Nimmerwiederkehr“ (04/2022)

Assoziationen: Sprechtheater Theaterkritiken Baden-Württemberg Theater und Orchester Heidelberg

Balance von Schwermut und Leichtigkeit: Christina Rubruck, Esra Schreier, Daniel Friedel, Lisa Förster und Katharina Quast in der Inszenierung von „Der Kitschgarten“ von Milan Peschel am Theater Heidelberg. Foto Susanne Reichardt
Balance von Schwermut und Leichtigkeit: Christina Rubruck, Esra Schreier, Daniel Friedel, Lisa Förster und Katharina Quast in der Inszenierung von „Der Kitschgarten“ von Milan Peschel am Theater Heidelberg.Foto: Susanne Reichardt

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Zu kitschig, zu altbacken, zu dröge? Keineswegs, findet Milan Peschel. „Der Kirschgarten“ des russischen Dramatikers Anton Tschechow aus dem Jahr 1903 hat den Regisseur am Theater Heidelberg inspiriert, die Tragi­komödie auf ihre Aktualität abzuklopfen. Und da geht der Regisseur, dem auch als Schauspieler die skurrilen Rollen am besten liegen, ungewöhnliche Wege. In der Rolle des „Beckenrand Sheriffs“ spielte Peschel 2021 seine ungewöhnliche Gabe vor der Filmkamera aus, die schrägen Seiten des Lebens zu zeigen. Im „Kitschgarten“ dreht er nun Tschechows düsteren, von der russischen Melancholie getränkten Text durch die Mangel seiner eigenen Perspektive. Dabei fällt er bisweilen in einen übertriebenen Aktualitätsrausch.

Vor der Pandemie hatte sich das Theater Heidelberg mit Peschel verabredet, Tschechows „Kirschgarten“ auf die Bühne zu bringen. Wegen erschwerter Probenbedingungen durch die Abstands- und Hygieneregeln war eine Inszenierung mit so vielen Figuren aber nicht mehr machbar. Eine Steilvorlage für den innovativen Regisseur, seine eigene Tschechow-Collage zu erschaffen. Dabei driftet Peschel aber keineswegs ab vom Universum des großen Dramatikers. Motive aus dem „Kirschgarten“, in dem es um den Verkauf des großen Gartengrundstücks geht, um die Existenz der dekadenten Großgrundbesitzer zu retten, hat Peschel mit anderen Dramen sowie mit Einaktern und Erzählungen kombiniert. Im „Kitschgarten“ jongliert der faszinierende, auf der Bühne und vor der Kamera unergründliche Spieler Peschel so grandios mit Tschechows Motiven, dass selbst Kenner seiner Texte bisweilen ins Schleudern geraten. Wo spricht Tschechow, wo Peschel? Das virtuose Spiel mit den Perspektiven verwirrt und zeigt Tschechows Zeitlosigkeit.

Statt den Kampf um Landbesitz im 19. Jahrhundert lustlos aufzuwärmen, kreist der Vaudeville-Abend, den Peschel im Alten Saal des Heidelberger Theaters geschaffen hat, um nichts Geringeres als um den Sinn des Lebens. Mit einer Musikauswahl, die von Richard Strauss’ „Also sprach Zarathustra“ bis zur Hippie-Hymne „Going Up the Country“ von Canned Heat reicht, punktet der Abend auch auf der sinnlichen Ebene. Mit dem Format des burlesken Singspiels schafft es der Regisseur, tragische und komische Momente in Tschechows ästhetischem Universum klug zu balancieren. Das karge, in dunkles Schwarz getauchte Bühnenbild und die Kostüme hat Nicole Timm der Uraufführung im Moskauer Künstlertheater aus dem Jahr 1904 nachempfunden. Klug tarieren Karsten Rischer und Ralph Schanz mit ihrem Lichtdesign die Stimmungen aus, die im „Kitschgarten“ in Sekundenschnelle wechseln.

„Die überwiegende Mehrheit der Russen sucht nichts, tut nichts und jammert herum. Sie sind alle so ernst, machen wichtige Gesichter, philosophieren, und zur selben Zeit haben die Arbeiter nichts zu essen, schlafen auf dem Fußboden, dreißig, vierzig in einem Zimmer, mit Wanzen, Gestank, Feuchtigkeit und moralischem Verfall.“ Aus den Worten der Schauspielerin Lisa Förster spricht tiefe Trauer über den Verfall eines Systems, das sich buchstäblich aufreibt. Dass es Peschel keineswegs darum geht, die klugen Lebensfragen ins Lächerliche zu ziehen, die der russische Dramatiker in seinen Texten aufwirft, zeigt seine kluge Stückentwicklung. Die Textzitate nutzen Thomas Braschs und Peter Urbans Übertragungen aus dem Russischen.

Peschel gelingt über weite Strecken das Kunststück, Schwermut und Leichtigkeit auszubalancieren. Wenn Andreas Seifert als schrulliger Professor über die Schädlichkeit der Wanzen philosophiert, darf das Publikum herzhaft lachen. Da läuft der Schauspieler, dessen komödiantische Gabe fasziniert, zu Höchstform auf. Wunderschön träumt sich die junge Esra Schreiner in die Lebensentwürfe von Tschechows „Drei Schwestern“ hinein.

Zu plakativ geraten Peschel dagegen die Aktualisierungen. Ehegattensplitting, das Mittagessen in der Kindertagesstätte, der ­Familienstreit um die Elternzeit – da spannt der Regisseur den Bogen einfach zu weit. Nicht zuletzt wirkt das deshalb so aufgesetzt, weil Peschels kluge Stückfassung doch aufs Schönste zeigt, wie aktuell Tschechows Theater noch immer ist. //

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