Stanislawski und die Folgen
von Bernd Stegemann
Erschienen in: Lektionen 3: Schauspielen Theorie (12/2010)
Assoziationen: Theatergeschichte Schauspiel
„Wir können Gefühle nicht ausdrücken. Niemals. Gefühle, welcher Art auch immer, drücken sich selbst in uns aus, ob wir wollen oder nicht.“1 Die absichtliche Darstellung von Gefühlen löst im Gegenüber sofort Misstrauen aus. Ein Gefühl ist nur dann glaubwürdig, wenn es sich ohne erkennbare Intention, gegen den Willen des Menschen, im Ausdruck, in der Stimme, im Körper zeigt. Die Entwicklung dieser Gefühlsökonomie, die zum Maßstab des Vertrauens und zum Wesen der bürgerlichen Kommunikation seit dem 18. Jahrhundert geworden ist, findet ihre Entsprechung im Bild des Schauspielers. Im 18. Jahrhundert galt die Fähigkeit, sich Gefühle anmerken zu lassen, als bürgerliche Tugend, die vom neuen Typus des Menschendarstellers perfekt verkörpert wurde. Der Widerspruch zwischen den lesbaren Gefühlen in einem codierten, höfischen Verhaltensvokabular und den individuellen Gefühlswallungen, denen der Mensch ohnmächtig ausgeliefert ist, fand ihre schauspieltheoretische Form in Diderots Paradox über den Schauspieler (Quelle 6). Der blinde Fleck dieses Paradoxes liegt aus der Perspektive des psychologischen 19. Jahrhunderts darin, dass Diderot die Trennung zwischen den gefühlten Gefühlen und den nur dargestellten Gefühlen zu gegensätzlich denkt. Diderots Schlussfolgerung, dass nur der kalkulierende, kalte Schauspieler wiederholbare Gefühle darstellen könne, ist dieser absoluten Trennung geschuldet, in der nicht vorstellbar scheint, dass auch die inneren Bewegungen...