Theater der Zeit

III. Stanislawski und die Folgen

Stanislawski und die Folgen

von Bernd Stegemann

Erschienen in: Lektionen 3: Schauspielen Theorie (12/2010)

Assoziationen: Theatergeschichte Schauspiel

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„Wir können Gefühle nicht ausdrücken. Niemals. Gefühle, welcher Art auch immer, drücken sich selbst in uns aus, ob wir wollen oder nicht.“1 Die absichtliche Darstellung von Gefühlen löst im Gegenüber sofort Misstrauen aus. Ein Gefühl ist nur dann glaubwürdig, wenn es sich ohne erkennbare Intention, gegen den Willen des Menschen, im Ausdruck, in der Stimme, im Körper zeigt. Die Entwicklung dieser Gefühlsökonomie, die zum Maßstab des Vertrauens und zum Wesen der bürgerlichen Kommunikation seit dem 18. Jahrhundert geworden ist, findet ihre Entsprechung im Bild des Schauspielers. Im 18. Jahrhundert galt die Fähigkeit, sich Gefühle anmerken zu lassen, als bürgerliche Tugend, die vom neuen Typus des Menschendarstellers perfekt verkörpert wurde. Der Widerspruch zwischen den lesbaren Gefühlen in einem codierten, höfischen Verhaltensvokabular und den individuellen Gefühlswallungen, denen der Mensch ohnmächtig ausgeliefert ist, fand ihre schauspieltheoretische Form in Diderots Paradox über den Schauspieler (Quelle 6). Der blinde Fleck dieses Paradoxes liegt aus der Perspektive des psychologischen 19. Jahrhunderts darin, dass Diderot die Trennung zwischen den gefühlten Gefühlen und den nur dargestellten Gefühlen zu gegensätzlich denkt. Diderots Schlussfolgerung, dass nur der kalkulierende, kalte Schauspieler wiederholbare Gefühle darstellen könne, ist dieser absoluten Trennung geschuldet, in der nicht vorstellbar scheint, dass auch die inneren Bewegungen des Menschen seinem Bewusstsein unterworfen werden können. Genau diese Verschiebung der Perspektive auf das schauspielerische wie menschliche Handeln wird im 19. und 20. Jahrhundert vollzogen. Der Blick wendet sich nun auf das seelische Vermögen des Schauspielers, das er benötigt, um den neuen, unabsichtlichen Gefühlsausdruck professionell und damit absichtlich herstellen zu können. Hierfür reicht es nicht mehr, die gestischen, stimmlichen und motorischen Fähigkeiten auf ihre Bühnenwirksamkeit hin zu trainieren. Jetzt rückt die innere Beteiligung an jeder Art von menschlichem Verhalten ins Zentrum der Aufmerksamkeit. |98|Gemäß der Freudschen Bemerkung, dass nur ein Achtel der Seele dem menschlichen Bewusstsein zugängig ist, sieben Achtel hingegen dem Unterbewusstsein zuzurechnen sind, beginnt eine Erkundungsreise in diesen verborgenen Kontinent. Die Wege und Karten hierfür sind dürftig und sehr ungenau. Ein Königsweg sind die Träume, in denen sich Spuren des Verdrängten und des Vorbewussten formulieren, während die alles überwachende Kontrollinstanz des Tagesbewusstseins schläft. Doch auch diese Botschaften aus dem schwarzen Kontinent müssen, wollen sie mitgeteilt werden, durch die Zensur des wachen Bewusstseins gehen. Es werden für die Analyse der Träume Formulierungen gesucht, die den Fluss der Bilder und Emotionen in Sprache fassen können. Das Unvermögen, nächtliche Traumereignisse beschreiben zu können, resultiert aus der Begegnung des Tagesbewusstseins mit seinem unbekannten Fundament. Genau an dieser Grenze, an der das Bewusstsein ein Geheimnis preisgeben soll, beginnt die Beobachtung der menschlichen Psyche zum Schauspiel zu werden: Wie wird der Traum erzählt? Welche Worte und Wendungen werden verwendet, um Peinliches und Beschämendes zu umschiffen? Welche Versprecher, Witze und Fehlleistungen durchlöchern die absichtliche Selbstdarstellung und eröffnen kleine Durchblicke in die verborgenen psychischen Bewegungen? In einer berühmten Beschreibung einer Traumerzählung2 lässt Sigmund Freud einen jungen Mann davon berichten, dass in seinem Traum eine ältere Frau eine wesentliche, auch erotische Rolle gespielt habe. Während der Erzählung dieses Traumes betont der junge Mann häufig, dass es sich bei dieser Frau auf keinen Fall um seine Mutter handeln könne. Die Betonung der Negation lässt einige Rückschlüsse auf die Trauminhalte und die darin verdrängten psychischen Bewegungen zu. Die Kontrollinstanz des wachen Bewusstseins wird sich während der Erzählung über den Gehalt des Traumes klar und antwortet auf diese Ahnung mit einer sofortigen Zensur. Sie will das ins Unterbewusstsein Verdrängte nicht ans Licht kommen lassen und beginnt mit einer erneuten Verdrängungsarbeit. Die „talking cure“ der Analyse beginnt. Der Arbeit des Ich-Bewusstseins kann nun live zugeschaut werden. Der junge Mann führt nun ein Schauspiel auf, in dem |99|seine Scham, seine Verdrängungen und Gefühle den unmittelbaren Anlass für sein Verhalten und Handeln geben.

Das Schauspiel der Seele dient dem Drama und der Schauspieltheorie der Moderne als Modell einer Aufführung. In der Ästhetik des Dramas entstehen die Dramaturgien des Realismus und des Naturalismus.3 Die Situation des Sprechenden wird durch den realistischen Dialog neu bestimmt. Für die dramatische Rede war bisher die Frage zentral, welche Sätze überhaupt sinnvoll so laut gesprochen werden können, dass sie sich für das Theater mit seinen Zwängen zur Vergrößerung und Vergröberung eignen. Rhetorik, Deklamation und rhythmisierte Sprache waren hierfür von der Antike bis zur Deutschen Klassik im 18. Jahrhundert bestimmende sprachliche Mittel. Mit dem Aufkommen des bürgerlichen Realismus gerät nun ein anderes Kommunikationsverhalten in den Fokus der Aufmerksamkeit. So wie die bürgerliche Interaktion davon bestimmt ist, integer erscheinen zu wollen, ohne diese Integrität absichtlich zu produzieren, so ist auch die bürgerliche Kommunikation von einer doppelten Funktionsweise bestimmt. Jeder Sprechakt wird hier in einer zweifachen Perspektive ausgeführt und vom Gegenüber verstanden als Mitteilung einer Information. Die einfache Mitteilung der Information: „Mir ist kalt“ bekommt in der Kommunikation einen zweifachen Sinn. Zum einen ist sie die Beschreibung eines Erlebens, dem man glauben kann oder nicht. Zum anderen bekommt diese Erlebnisbeschreibung die Eigenschaft, eine Handlungsaufforderung zu sein. Sitzen z. B. Sprecher und Hörer in einem Zugabteil und das Fenster ist offen, so könnte der Hörende das Erleben des Sprechers als Bitte verstehen, doch das Fenster zu schließen. Auf diese Mitteilung kann nun in vielfacher Hinsicht reagiert werden: Sie kann ignoriert werden, da sie ja nur implizit gemacht worden ist, sie kann selbst thematisiert werden („warum sagst du nicht einfach, was du willst“), und sie kann befolgt werden. In jedem Fall ist durch die doppelte Wahrnehmung des Sprechaktes eine Situation gegeben, in der Entscheidungen getroffen werden müssen, um die Kommunikation fortzusetzen. Jede Kommunikation hat in der Moderne die Eigenschaft dieser doppelten |100|Kontingenz. Das meint, sie besteht immer aus den zwei Ebenen der inhaltlichen Mitteilung und des Beziehungsaspekts, in dem eine Information mitgeteilt wird. Der jeweils andere hat die Möglichkeit, diese Differenz zu verstehen oder nicht, und die Wahl, auf welche der beiden Ebenen er reagieren will.4 Das Drama der Moderne macht diese Kommunikationsform zum Gegenstand seiner Darstellung und verwendet sie zugleich als Mittel seiner Darstellung.5 Die Ehedramen, Familien- und Gesellschaftsstücke bilden die Probleme einer solchen Gesprächsform ab, indem sie genau diese Gesprächsform benutzen. Der Dialog im Drama wiederholt die moderne Kommunikation der doppelten Kontingenz.

Durch die Verwendung der modernen doppelbödigen Kommunikation sind die Figurenzeichnung, Dialoge und dramatischen Situationen dementsprechend gebaut. Die zentralen Forderungen, die hierdurch an die Kunst des Schauspielers gestellt werden, erzwingen eine Weiterentwicklung der psychologischen Spielweise. Alle kanonisierten Ausdrucksregeln, wie Zorn, Wut, Liebe oder Verzweiflung, die körperlich und mimisch dargestellt werden können, werden zusehends als Ansammlung von Klischees erkannt. Es mag im Alltagstheater üblich sein, dass ein zorniger Mensch wütend mit dem Fuß aufstampft, die Hände zu Fäusten ballt und mit vorgerecktem Kopf schreit. Werden diese Bewegungen jedoch als Ausdruck auf der Bühne einfach wiederholt, entsteht ein allgemeiner und nicht individueller Ausdruck für Zorn. Es fehlen ihm die für das Theater des Realismus wesentlichen Eigenschaften: die Besonderheit des Individuums und die Komplexität der seelischen Bewegungen, die diesem Gefühlsausdruck zugrunde liegen. Die Aufmerksamkeit in der Beobachtung der Menschen verschiebt sich zusehends auf den inneren Kontinent der Seele. Die äußerlichen Taten, durch die die Helden der klassischen Dramen auf der Bühne in Erscheinung traten, liegen nun meistens vor dem Beginn des Dramas. Wenn der Mensch auf der Bühne erscheint, trägt er bereits seine Bürde des |101|Daseins mit sich. Die Entfaltung dieser individuellen Geschichte macht nun die Handlung des Dramas aus. Für den Schauspieler heißt das, dass die zu spielenden Bewegungen in seinem Inneren stattfinden müssen. Das dramatische Spielmaterial hierfür ist der Dialog, dessen Bewegung zwischen dem zu verhandelnden Inhalt und der darin gestifteten Beziehung oszilliert. Um diese ständige Bewegung lebendig zu halten und die zahlreichen kleinen und großen Entscheidungen, die hierfür notwendig sind, vollziehen zu können, muss der Schauspieler nicht nur als Agierender, sondern vor allem als Reagierender auf der Bühne präsent sein. Die doppelte Kontingenz der modernen Kommunikation entsteht nur, wenn alle daran Beteiligten sowohl als Sprecher wie auch als Zuhörer auf beiden Ebenen gleichzeitig wach sind. Die hierbei zu spielenden inneren Abläufe benötigen die volle Komplexität der menschlichen Seele, damit sie im Dialog die spezifische Wahrheit des einzelnen besonderen Individuums, die sich durch diese Kommunikation entwickelt, darstellen können. Die schauspielerische Herausforderung besteht nun in der Verkörperung eines konkreten, erkennbaren Menschen, der sich in bestimmten Situationen auf besondere Art und Weise erlebend und handelnd verhält. Hierzu bedarf es einer inneren Bewegung des Erlebens, die sich in seinem Gesicht, seinem Körper und seiner Stimme ausdrückt. Diese innere Bewegung muss vor dem Auftritt beginnen und bis zum Abgang in einem kontinuierlichen Fluss bleiben. Jede Unterbrechung oder jede unglaubwürdige Schwankung ließe den dargestellten Menschen als bloße Theaterbehauptung erscheinen und wäre ihrem Wesen nach komisch. Die Unterbrechung dieses Spielflusses würde die Figur zerstören oder zumindest unglaubwürdig erscheinen lassen. Mit genau diesem schauspielerischen Mittel der Unterbrechung werden spätere Schauspielmethoden arbeiten (siehe Kapitel 4 und 5).

Den durchgängigen Spielfluss in jeder Sekunde lebendig und der Situation gemäß zu halten und dadurch vor Zuschauern den Anschein eines realen Erlebens zu erwecken, erfordert eine komplexe psychische Leistung. Die einfache Opposition, mit der das schauspielerische Handeln beschrieben wird, ist die Unterscheidung zwischen dem Handeln von „innen nach außen“ und dem von „außen nach innen“. Mit Letzterem ist die Spielweise gemeint, die sich im 18. Jahrhundert entwickelt hat, und die in der Nachahmung |102|realer menschlicher Verhaltensweisen besteht. Die Grenzen der Darstellung dieser Verkörperungstechnik liegen in den situativen Anforderungen des Dramas des Realismus und in der sich entwickelnden Differenzierung der menschlichen Wahrnehmung. Basiert das schauspielerische Handeln auf psychischen Bewegungen, die sich im Dialog entwickeln, und besteht die theatralische Faszination in der Beobachtung genau dieser eigentlich unsichtbaren seelischen Regungen, kann die Darstellung nicht in der Nachahmung des äußerlichen Verhaltens ihren Grund haben. Die umgekehrte Bewegung, von „innen nach außen“, muss zum Ausgangspunkt des Spiels werden. Diesen Weg zu beschreiten, ist Stanislawski um 1900 aufgebrochen, indem er das Künstlertheater und eine angeschlossene Schauspielschule gegründet hat. In einer Jahrzehnte dauernden Forschungs- und Lehrtätigkeit hat er sein „System“ des schauspielerischen Handelns entwickelt und in einer ausufernden Textmenge festgehalten. Zum Ende seines Lebens beklagt er, nicht zu Unrecht, dass er die Menge seiner Aufzeichnungen nicht mehr zum abgeschlossenen System zusammenzufassen vermag. Die Arbeit des Schauspielers an sich selbst und Die Arbeit des Schauspielers an der Rolle sind die für unseren Bereich zentralen Bücher, von denen Letzteres aber von ihm selbst nicht mehr fertiggestellt werden konnte.

In der Arbeit des Schauspielers an sich selbst beschreibt Stanislawski anhand einer fiktiven Schauspielklasse die Unterrichte und Probleme der angehenden Schauspielschüler. Beginnend mit der ersten Stunde und der oben zitierten Erfahrung6, lässt er seine Schüler Schritt für Schritt die „psychophysischen“ Zusammenhänge erfahren. Sie erleben ihre Blockaden und Glücksmomente und werden mit den methodischen Ratschlägen und Übungen vertraut gemacht, die ihr „inneres Befinden“ auf der Bühne trainieren, sodass es wach und reaktionsschnell agieren und reagieren kann. Viele dieser Übungen sind bis heute im Schauspielunterricht präsent, sei es in der Form, die Stanislawski selbst für sie gefunden hat, oder in den Variationen, die seine unzähligen Nachfolger entwickelt haben. Die Einzigartigkeit des „Stanislawski-Systems“ besteht aber bis heute in seiner methodischen Komplexität. Denn zum einen beschreibt er in praktischen |103|Übungen die Entwicklung eines Spielvermögens, das auf der Wahrhaftigkeit des Erlebens beruht und dadurch zu einer Wahrhaftigkeit des Handelns führt. Und zum anderen ist er sich der Dialektik bewusst, die allem menschlichen Handeln innewohnt. Die Opposition zwischen „innen“ und „außen“ ist eine methodische Vereinfachung, die für bestimmte Unterrichtsschritte sinnvoll ist. Sie ist jedoch in Bezug auf das menschliche Handeln und Erleben eine zu einfache Beschreibung. Dieser methodischen Eingrenzung war sich Stanislawski im Gegensatz zu vielen seiner Nachfolger bewusst. Mit dem Begriff der „physischen Handlung“ hat er neben dem „inneren Erleben“ den zweiten Pol des schauspielerischen Handelns gefunden. Denn es ist im alltäglichen Handeln nicht immer klar zu unterscheiden, ob zuerst ein Gefühl entsteht und daraus eine bestimmte Äußerung folgt, oder ob nicht durch das Handeln überhaupt erst ein Gefühl entsteht. In eine einfache Frage zusammengefasst, die Ariane Mnouchkine einst formulierte: Muss ich beten, um mich gläubig hinknien zu können, oder reicht es, dass ich mich hinknie, und dann zu beten beginnen werde? Bestimmte physische Handlungen reizen bestimmte innere Erlebnisse und umgekehrt. Beim Schreien ist dieser Effekt am offensichtlichsten. Wer schreit, erregt in sich die Gefühle von Empörung, Zorn und Aggression. Dieses Mittel des Sich-Hineinsteigerns durch eine Aktion wurde im 18. Jahrhundert noch selbstverständlich genutzt und ist in die Form der Dialoge eingegangen. Hier werden die Dinge oft mehrfach benannt, sodass der Schauspieler sich wie über eine Treppe Schritt für Schritt in sein Gefühl hineinsteigern kann. Der moderne Dialog bildet genau diese Absprungrampen nicht mehr, da er einen anderen Aspekt der Kommunikation abbildet. Für die Schauspielausbildung hat diese Veränderung drastische Konsequenzen, da die darstellerischen Fähigkeiten insoweit entwickelt sein müssen, dass die Schauspieler bereits vor dem Beginn des Dialogs die Situation erspielen können und nicht erst auf den Text als Spielhilfe warten dürfen.

Die organische Verbindung zwischen Handeln und Erleben wollte Stanislawski durch seine zahlreichen Übungen bewusst machen und fördern. Ist das Band zwischen innen und außen erst einmal so geknüpft, dass jede Bewegung – sei es auf der einen Seite oder der anderen – zu einer entsprechenden Reaktion führt, ist der Schauspieler frei in der Wahl seiner Mittel. |104|Das Erleben wird folgen, wenn die Handlung ausgeführt wird, und die Handlung wird folgerichtig sein, wenn das Erleben sie notwendig macht. Dieses Stadium der dialektischen Lebendigkeit ist dem Menschen zwar von Natur aus gegeben, doch führen zwei Hindernisse dazu, dass die meisten Menschen diese Verbindung in sich nur noch schwach erleben können. Zum einen ist es Teil der Erziehung, die unmittelbaren Impulse, in denen sich das Erleben unwillkürlich im Ausdruck niederschlägt, zu unterdrücken. Wir alle haben gelernt, im Alltag nicht zu zeigen, was wir gerade empfinden, begehren oder verabscheuen. Wir sitzen in der U-Bahn neben Menschen, die uns fremd, begehrenswert oder unsympathisch erscheinen, mit der immergleichen äußerlichen Ruhe. Wir schreien nicht gleich auf, wenn uns etwas ärgert oder schmerzt. Dieses Verhalten, das im wahren Sinne des Wortes ein Zurückhalten der inneren Bewegungen ist, ermöglicht, den Alltag einigermaßen reibungslos zu überleben.7 Man stelle sich nur einmal vor, was in einer U-Bahn alles vor sich ginge, wenn jeder seinen Impulsen freien Lauf ließe. Die zweite Hemmung, die dem organischen Zusammenspiel von Erleben und Handeln entgegensteht, ist das Lampenfieber. Selbst wenn es jemandem gelingt, im Alltag seine Gefühle weitgehend auszuagieren, wird er doch, sobald er eine Bühne betritt, den größten Teil dieses Ausdrucksvermögens einbüßen. Gerade bei besonders expressiven Mitmenschen ist diese Implosion fast immer zu beobachten. Die Unbekümmertheit im Alltag wird in der Sekunde, in der das Angeschautwerden zu Bewusstsein kommt, zu einem peinlichen Verhalten. Der Mensch scheint sich nun gerade seiner Expressivität zu schämen. Stanislawskis Methode setzt an beiden Blockaden zugleich an. Er versucht, die kindliche Unbekümmertheit wiederzuerwecken, und er will sie zugleich mit der Robustheit ausstatten, dass sie auch im Stress des Lampenfiebers spielerisch frei bleiben kann. So wie es ein dialektisches Verhältnis zwischen Innen und Außen, zwischen Erleben und Handeln gibt, gibt es eines zwischen der Befreiung und dem Training, das diese Freiheit aktiv und zuverlässig wiederholbar macht. Viele der heute etwas militärisch anmutenden Übungen „Training und Drill“ |105|haben ihren Grund in genau diesem Ziel, den Schauspieler zu einem professionellen Menschen zu machen, d. h. zu einem Menschen, der unter schwierigen psychischen und physischen Bedingungen in der Lage ist, spielerisch sein Erleben und Handeln lebendig zu erhalten.

Die zentrale Übung hierfür ist das Spielen mit dem „magischen Wenn“. Da auf der Bühne immer Realitäten erschaffen werden müssen, die anders sind als die tatsächliche Realität der Bühne, und da diese sekundären Realitäten zentral durch das Spiel der Schauspieler und nicht durch Dekoration oder Kostüme erschaffen werden, muss dieser über Vergegenwärtigungstechniken verfügen. Um diese zu erlernen, beginnt Stanislawski mit einfachen Übungen, in denen die Spieler sich eine Situation vorstellen, um dann in der fiktionalen Wirklichkeit dieser Situation glaubwürdig zu spielen. Die Aufgabe ist hierbei immer eine doppelte. Zum einen muss durch das Spiel überhaupt die Situation mit der ihr zugehörigen Welt auf der Bühne entstehen, zum anderen muss das Handeln in der Situation glaubwürdig und folgerichtig sein. Das Erlernen dieser komplexen schauspielerischen Technik erfordert eine lange Übung und wird in unterschiedlichen Ansätzen und Etüden immer wieder erarbeitet. (Quelle 7)

Dabei gehen Stanislawski und die meisten seiner Nachfolger immer von einer realen, in der Lebenswirklichkeit möglichen Situation aus. Um diese auf der Bühne, in einer fiktiven Realität, möglichst plausibel und wahrhaftig wiedererstehen lassen zu können, braucht es einer umfangreichen Vorbereitung. Wenn das spielerische Vermögen und die darzustellende Situation in ein produktives Verhältnis zueinander kommen sollen, muss sowohl die Möglichkeit des Schauspielers, auf die Ereignisse der Situation reagieren zu können, entwickelt sein, als auch die Situation selbst vom Spieler in ihrer Komplexität sowohl in der Vorbereitung als auch im Verlauf erfasst werden. Um diesen Prozess, der für das Schauspiel innerhalb der Ästhetik der realistischen Menschendarstellung zentral ist, zu erlernen, gebraucht es zahlreicher Übungen, die das Handeln und Erleben in vorgestellten Situationen zusehends plausibler und komplexer machen. Das Fundament dieser Übungen stellt die vorgestellte Situation dar. In einer Situation treffen verschiedene Absichten und Haltungen aufeinander. Eine Bank wird auf die Bühne gestellt, eine Tasche liegt darauf. Ein Schauspielschüler betritt die |106|Bühne. Was wird er nun tun? Um zu einer schauspielerischen Handlung zu kommen, stellt er sich vor seinem Auftritt die W-Fragen. Wer bin ich? Woher komme ich? Wo bin ich? Was will ich? Warum will ich das? Wann und wozu passiert dieses? Durch die Beantwortung dieser Fragen kommt er zu einer konkreten Phantasie, die ihn dann in der vorgestellten Situation der Bühne real handeln und erleben lässt. Ich komme aus dem Gefängnis. Ich bin hungrig und arm. Ich bin alleine im Park und finde eine Tasche. Ich will sie klauen, weiß aber, dass ich, wenn ich dabei erwischt werde, wieder ins Gefängnis muss. Diese Kette von Antworten würde ein völlig anderes Spiel erzeugen als: ich bin ein müßiger Spaziergänger, komme von zu Hause, finde eine Tasche und möchte sie ihrem Besitzer zurückgeben. Beide Antwortketten und die unendliche Zahl an weiteren Möglichkeiten sind zuerst nur in der Phantasie des Schauspielers vorhanden. Erst dadurch, dass er durch seine Vorstellung ins Spiel kommt, fängt er an, sich der vorgestellten Situation gemäß zu verhalten, Entscheidungen zu treffen, Erfahrungen zu machen, diese zu bewerten und daraus Handlungsimpulse zu gewinnen. Würde etwa im ersten Beispiel der Taschendieb ein Geräusch hören, hätte es gänzlich andere Konsequenzen als im zweiten Beispiel des Taschenfinders. Die Fähigkeit, auf einer Bühne, in Kulissen, unter Kunstlicht vor den Augen zahlreicher Zuschauer, diese Erlebnisse glaubwürdig zu machen und die resultierenden Handlungsimpulse zu haben, stellt das schauspielerische Vermögen dar. Die Wege der Ausbildung, um diese Fähigkeiten zu entwickeln, sind unterschiedlich. Doch letztlich sind sie sich im Ziel ihrer Bemühungen einig. Der Schauspieler soll zu einem glaubwürdigen Spiel innerhalb einer vorgestellten Situation befähigt werden. Was in der jeweiligen Theaterästhetik nun „glaubwürdig“ heißt, unterscheidet sich stark. Und auch welche Anforderungen die vorgestellte Situation vom Spiel verlangt, ist in den Epochen des Dramas von sehr großer Unterschiedlichkeit.

Stanislawskis Methode orientiert sich ästhetisch an den Forderungen, die das realistische und naturalistische Drama des 19. Jahrhunderts an die Schauspielkunst stellen. Seine methodische Antwort, die er als Schauspielkunst in seinem System ausformuliert, ist eine Dialektik der Wahrheit des inneren Erlebens mit der Realität der physischen Handlung. Ein Teil seiner Übungen zielt auf die Entwicklung der Fähigkeit, in der künstlichen Situation |107|der Bühne und der vorgestellten Situation der dramatischen Handlung die realen Erlebnisse machen zu können. Der andere Teil seiner Übungen geht den umgekehrten Weg und macht die Realität der physischen Handlungen zum Motor des schauspielerischen Ausdrucks. Nun beginnt der Spieler mit einfachen physischen Handlungen, um durch die so hergestellte und erlebte Realität zu einem glaubwürdigen Spiel auf der Bühne zu gelangen. Dialektisch sind diese beiden Methoden aufeinander bezogen, da das wahre Erleben zu glaubwürdigem Verhalten und die reale Handlung zu glaubwürdigen Erlebnissen führen. Dabei bekommt im Laufe der Ausformulierung seines Systems die physische Handlung immer größere Bedeutung. In ihr kristallisiert sich schließlich das Wesen des schauspielerischen Geheimnisses, da in ihr das doppelte Bewusstsein des „realen Spielens“ am deutlichsten zur Anschauung kommt. „Obwohl der Handlung die Fähigkeit, szenische Gefühle zu erzeugen, eigen ist, kann sie nicht nur als Mittel zur Erlangung dieses Zieles betrachtet werden. Das Bühnengefühl ist lediglich ein Attribut der Handlung. Die Handlung aber ist der Träger des die Schauspielkunst darstellenden Ganzen. Mit der Entdeckung dieser Wahrheit hat Stanislawski das Wesen der Eigenart des Theaters, die wirkliche Wahrheit der Schauspielkunst offenbart, die endgültige Lösung der Frage nach dem Material des Schauspielerschaffens gefunden und somit eine totale Umwälzung auf dem Gebiete der Pädagogik des Theaters und der Methodologie des Schauspielerschaffens erzielt. [...] Worin zeigt sich nun diese Einheit [von Körper und Seele] am sinnfälligsten? In welchem Akt oder Prozeß verbindet sich das Physische mit Psychischem zur Synthese? Diesen Prozeß bildet die Handlung. An der Handlung nimmt der ganze Mensch teil – seine Seele und sein Körper. Durch die Handlung offenbart sich der Mensch ganz und restlos. Daher sind wir berechtigt zu sagen, daß das Material in der Schauspielkunst die Handlung ist, und zwar bildet sie die spezifische Eigentümlichkeit der Schauspielkunst.“8

Das darstellerische Ziel besteht nun in der Erfindung und Verteidigung einer Figur. Die Figur ist ein vom Autor des Dramas erfundener und durch den Dialog und die Situationen zu erschaffender Mensch. Der Schauspieler |108|muss also über zwei Fähigkeiten zugleich verfügen, um dieser künstlerischen Herausforderung, eine Figur spielen zu können, zu genügen: Er muss imstande sein, das Drama so zu lesen, dass sich ihm die unterschiedlichen Facetten seiner Figur entschlüsseln. Und er muss über die schauspielerischen Möglichkeiten verfügen, um die so gewonnenen Erkenntnisse auf der Bühne real werden zu lassen. Er verteidigt seine Figur dabei im doppelten Sinne: Zum einen soll die Figur nicht seiner schauspielerischen Virtuosität zum Opfer fallen, da er einen realistischen Zeitgenossen spielen und nicht eine bühnenwirksame Schau darbieten will.9 Zum anderen will er durch die lange Auseinandersetzung während der Proben und Vorbereitung seine Figur so weit erkunden, dass sie zu einem besonderen und konkreten Menschen wird und nicht das Klischee einer Behauptung bleibt. Auf dem Weg zu einem solchen Spiel liegen viele Hindernisse. Werden die schauspielerischen Ausdrucksmittel in den Dienst einer Figurendarstellung gestellt, verlieren sie vorderhand viel von ihrer Bühnenwirksamkeit. Stanislawskis Übungen lehrten die Schauspielvirtuosen des 19. Jahrhunderts zuerst einmal wieder Demut vor der dramatischen Vorlage und beschnitten sie in dem ungezügelten Drang, ihr Repertoire an bühnenwirksamen Effekten zum Zwecke der Unterhaltung und Steigerung des eigenen Ruhms auszubreiten. Vorne an der Rampe mit wohltönender Stimme, Augenrollen, ausladenden Gesten, grotesken Grimassen die Zuschauer zu beeindrucken, stellt für das realistische Theater Verrat an der Kunst dar. Die Rückschritte, die ein Schauspieler macht, wenn er sein Spiel von diesem virtuosen Rampenspiel zu einer realistischen Figurendarstellung entwickeln will, sind entmutigend. „Die Schauspielerin S., erfolgreich und beliebt beim Publikum, interessierte sich für das ‚System‘. Sie entschloß sich, von Grund auf umzulernen, und ging deshalb eine Zeitlang von der Bühne ab. Einige Jahre studierte Frau S. die neue Methode bei verschiedenen Lehrern, absolvierte den ganzen Kursus und kehrte dann wieder zur Bühne zurück.

|109|Erstaunlicherweise hatte sie nicht mehr die früheren Erfolge. Man fand, daß die einstige Berühmtheit ihr Wertvollstes eingebüßt habe: Unmittelbarkeit, Schwung, Augenblicke hinreißender Inspiration. Stattdessen seien Pedanterie, naturalistische Details, formale Spielmethoden und ähnliche Mängel aufgetaucht. Gewiß können Sie sich die Lage der armen Schauspielerin vorstellen. Jedes Auftreten wurde eine Prüfung für sie. Das beeinträchtigte ihr Spiel, steigerte ihre Verwirrung, ihre Ratlosigkeit, die allmählich in Verzweiflung überging. Sie versuchte es in mehreren anderen Städten, in dem Glauben, daß in der Hauptstadt Gegner des ‚Systems‘ gegen ihre neue Methode voreingenommen seien. Aber in der Provinz wiederholte sich dasselbe. Die arme Schauspielerin verfluchte schon das ‚System‘, sie versuchte sich davon frei zu machen, zur alten Methode zurückzukehren. Es gelang ihr aber nicht. Erstens hatte sie den Glauben an die handwerksmäßige mimenhafte Routine verloren, und zweitens hatte sie den Unsinn der früheren Spielmethode im Vergleich mit der neuen Spielweise begriffen, die ihr lieb geworden war. Sie hatte sich vom Alten losgemacht, aber das Neue nicht erreicht. Nun saß sie zwischen zwei Stühlen. Man sprach davon, daß Frau S. vom Theater abgehen und heiraten wollte. Dann hieß es, sie wollte sich das Leben nehmen.“10 Am Tiefpunkt der Entmutigung betritt nun Stanislawski selbst die Szene und rettet die verzweifelte Seele mit dem methodisch nächsten Schritt seines Systems. Denn was die arme Schauspielerin noch nicht wusste, sie hatte das Geheimnis der „durchgehenden Handlung“ noch nicht begriffen. „Wenn Sie ohne durchgehende Handlung spielen, dann handeln Sie auf der Bühne nicht unter den vorgeschlagenen Situationen, nicht mit dem ‚Wenn‘, dann beziehen Sie Ihre eigentliche Natur, Ihr Unbewusstes nicht mit in das Schaffen ein, dann gestalten Sie in der Rolle nicht das ‚Leben des menschlichen Geistes‘. Das ist aber die Grundidee, die Quintessenz unserer Kunstrichtung. Fehlt es, wird auch das ‚System‘ hinfällig. Sie gestalten also nicht Ihre Figur auf der Bühne, sondern exerzieren einfach einzelne, durch nichts miteinander verbundene Übungen nach den Buchstaben des ‚Systems‘ durch. Die Übungen nützen wohl im Unterricht, aber nicht in der Vorstellung. Sie vergessen, daß alle |110|Übungen, alles, was im ‚System‘ vorkommt, in erster Linie für die durchgehende Handlung und für die Überaufgabe da ist. Darum bleiben die im einzelnen vorzüglichen Abschnitte Ihrer Rolle wirkungslos und können im ganzen nicht befriedigen.“

An diesem Beispiel zeigt Stanislawski, wie unauflöslich das Schauspielen für ihn mit der dramatischen Vorlage verbunden ist. Das reine Virtuosentum ist ebenso wie das „exerzieren“ seiner Etüden leblose Kunst. Nur wenn sich die gesamte schauspielerische Befähigung entlang der Dramaturgie der Situationen entfaltet und diese dadurch auf der Bühne zur theatralischen Wirklichkeit kommen lässt, und nur wenn umgekehrt durch die dramatischen Situationen die schauspielerischen Möglichkeiten inspiriert werden und damit zu ungeahnter Komplexität gelangen, erreicht das Schauspiel den Gipfel seiner künstlerischen Möglichkeiten. „Die Schlußfolgerung aus allem lautet: Sorgfältiger als alles andere Überaufgabe und durchgehende Handlung wahren, auf der Hut sein vor einer gewaltsam herbeigezerrten Tendenz und vor Absichten und Bestrebungen, die dem Stück fremd sind! Wenn es mir heute gelungen ist, Ihnen die außerordentliche, beherrschende Rolle der Überaufgabe und der durchgehenden Handlung für unser Schaffen klarzumachen, so preise ich mich glücklich, denn damit habe ich die Hauptaufgabe erfüllt – ich habe Ihnen den wichtigsten Punkt im ‚System‘ erklärt. […] Jede Handlung trifft auf die Gegenhandlung, wobei diese die Handlung herausfordert und verstärkt. Darum läuft durch jedes Schauspiel neben der durchgehenden Handlung in entgegengesetzter Richtung die gegensätzliche, feindliche durchgehende Gegenhandlung.

Es ist gut so und höchst begrüßenswert für uns, denn die Gegenhandlung löst ganz selbstverständlich neue Handlungen aus. Wir brauchen diesen ständigen Zusammenprall: Er erzeugt Kampf, Auseinandersetzung, Streit, viele entsprechende Aufgaben mit ihren Lösungen. Er fordert Aktivität und Handlung heraus, die Grundlagen unserer Kunst.“11

Die gesamte Ausbildung des Schauspielers dient nach Stanislawski der Entwicklung der spielerischen Möglichkeiten und der seelischen Empfänglichkeit für die komplizierten Anforderungen, die die dramatischen Situationen |111|darstellen. Das Ziel dieser Vorübungen ist es, dem Schauspieler zu einer Befähigung zu verhelfen, dass er auf die Anregungen der Situation, des Partners auf der Bühne und der Absichten seiner Figur „unbewußt“ zu reagieren in der Lage ist. Der lange, übungsreiche Weg des Systems dient am Ende der Erzeugung einer sekundären Naivität, in der das unbewusste und damit besonders glaubwürdige Verhalten und Reagieren, unter der doppelten Anforderung des Lampenfiebers und der vorgeschlagenen Situationen des Dramas, sich ereignen kann.

In unserer Gegenwart, die den heiligen Duktus, in den Stanislawski seine Ausbildung zur Kunst des Schauspielens häufig kleidet, scheut, wird dieses Phänomen des „lockeren“, präsenten Schauspielers gleichwohl bewundert. Wie das unabsichtlich Wirkende absichtlich herzustellen ist, darüber gehen die Meinungen sehr weit auseinander. Für die Menschendarstellung innerhalb des ästhetischen Konzepts des Realismus ist die Stanislawski-Methode unerlässlich. Die große Zahl seiner Nachfolger, Schüler und selbsternannten Meister dominiert bis heute die Schauspielausbildung. Die meisten Versuche seiner Nachfolger weisen jedoch eine bemerkenswerte Reduktion der Stanislawskischen Komplexität auf. Entweder werden das „innere Befinden“ und seine psychischen Voraussetzungen zum Fundament des Schauspiels erklärt (Quelle 7 und 10) oder die „physischen Handlungen“ (Quelle 8 und 19) und die Wahrnehmungen und Erlebnisse auf der Bühne bilden das Fundament der Ausbildung (Quelle 9 und 11). In der materialistischen Ästhetik der Sowjetunion galt die Tendenz, die seelischen Quellen der Kunst besonders niedrig zu bewerten. Die US-amerikanischen Schauspieltheorien, von denen es unzählige gibt, weisen hingegen eine bemerkenswert eindimensionale Abhängigkeit von der Erlebens-Seite des „Systems“ auf. Sie fixieren sich häufig auf den Aspekt des „Alltagstheaters“, das durch ein reales, ungekünsteltes Erleben auf der Bühne wiederholbar gemacht werden soll. Die Darstellungsmöglichkeiten des täglichen Verhaltens werden durch Wahrnehmungs- und Nachspielübungen bewusst gemacht und damit für die Bühne zu einer reproduzierbaren Technik entwickelt. Die künstlerische Tendenz besteht hier in einem „Realismus“, der sehr bestimmend nur das, was in der gegenwärtigen Mode des Verhaltens und des Ausdrucks als plausibel erscheint, gelten lässt. Das |112|professionelle Schauspiel wiederholt dann das Alltagsschauspiel unter den Bedingungen der Bühne, die eine theatralische Vergrößerung erfordert. Die naturalistischen Etüden Stanislawskis, in denen alltägliche Verrichtungen auf der Bühne nachgeahmt werden, um ein reales Handeln einzuüben, werden hier zum Ziel der Darstellung. Dieses mag seine Ursache in einer besonders strengen Form des „Realismus“ haben oder in dem theatralischeren Alltagsverhalten. Für die Ausbildung hat diese Reduktion jedoch große Einschränkungen zur Folge. Dass gerade diese reduzierten Schauspieltheorien so großen Zuspruch erfahren, lässt bedenkliche Rückschlüsse auf den Zustand der Kunst des Schauspiels zu. Der Abstand zwischen einer „kunstlosen“ Nachahmung des menschlichen Alltags und einem Schauspiel, das den „Eigenwert“ des Spiels feiert (siehe Kapitel 5), scheint sich unaufhaltsam zu vergrößern. Die Menschendarstellung möchte den Anteil der Kunst an ihrer Darstellung möglichst unsichtbar halten, und die Eigen-Spiele der Postdramatik und Performance möchten keine Berührung mit dem ursprünglichen Impuls der Mimesis im Schauspiel mehr haben.

1

Declan Donnellan: Der Schauspieler und das Ziel, Berlin 2008, S. 200.

2

Sigmund Freud: „Die Verneinung“, in: ders.: Psychologie des Unbewußten, Studienausgabe Band III, Frankfurt am Main 1975, S. 371 ff. (Erstveröffentlichung 1925).

3

Hierzu ausführlich: Lektionen 2 Dramaturgie, Kapitel VI und VII. Als weitere künstlerische Antwort auf die Traumdeutung entsteht die Traumspiel-Dramaturgie. Hier wird die Dramaturgie der fließenden und assoziativen Übergänge in Aufbau und Abfolge der Szenen wiederholt. Die berühmtesten Beispiele hierfür sind August Strindbergs Traumspiel und Nach Damaskus.

4

Hierzu ausführlich: Lektionen 2 Dramaturgie, Kapitel XII und Niklas Luhmanns zahlreiche Ausführungen zu diesem Kommunikationsbegriff und seine vielfältigen Folgen, z. B. in Soziale Systeme und Die Kunst der Gesellschaft.

5

In der Dramengeschichte wird diese Kommunikationsform dann häufig als „Konversationsstück“ bezeichnet. Diese Benennung beschreibt etwas ungenau den Unterschied zwischen der öffentlich gesprochenen Rede und der Verwendung von Sprache als Kommunikationsmedium in dem oben beschriebenen Sinne.

6

Siehe Seite 16.

7

Diese erwachsenen Hemmungen meint Max Reinhardt, wenn er davon spricht, dass Schauspieler ihre „Kindheit in die Tasche gesteckt“ haben, damit sie ihr ganzes Leben damit weiterspielen können.

8

Boris Sachawa: „Die Natur der Schauspielkunst“, in: Der schauspielerische Weg zur Rolle. Fünf Aufsätze über Stanislawskis „Methode der physischen Handlungen“, Berlin 1952, S. 143 ff.

9

Hierdurch wendet sich diese Spielweise gegen die solistischen Schauspielvirtuosen, die im 19. Jahrhundert durch die Theater tourten. Deren rhetorische und emotionale Darstellungskraft ließ sie zu gefeierten Stars werden. Doch war ihr Schauspiel losgelöst von jedem inszenatorischen Rahmen oder einem gemeinsam spielenden Ensemble. Die klassischen Rollen des Repertoires dienten ihrem Bühnenfuror nur noch als Material, wie in unserer Zeit die „Drei Tenöre“ die Arien als Hits aus den Opern isoliert singen. Die Figuren des Realismus und Naturalismus verlangten ein gemeinsames Ensemblespiel, das mit diesem Solistentum nicht vereinbar war.

10

Konstantin Stanislawski: „Überaufgabe und durchgehende Handlung“, in: Stanislawski Reader, hg. von Bernd Stegemann, Berlin 2007, S. 122 f.

11

Ebd., S. 125.

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"Passion Play Oberammergau 2022"
Recherchen 163 "Der Faden der Ariadne und das Netz von Mahagonny  im Spiegel von Mythos und Religion"
Passionsspiele Oberammergau 2022
"Theater der Vereinnahmung"
Recherchen 156 "Ästhetiken der Intervention"
"Theater unser"
"Pledge and Play"