Stück
Die einzige Gewissheit, die es gibt, ist die, dass es keine Gewissheiten mehr gibt
Alexander Eisenach über sein neues Stück „Stunde der Hochstapler“ im Gespräch mit Jakob Hayner
von Alexander Eisenach und Jakob Hayner
Erschienen in: Theater der Zeit: Subversive Affirmation – Performances von Julian Hetzel (01/2020)
Assoziationen: Dramatik Volksbühne Berlin
Alexander Eisenach, nachdem Sie „Felix Krull – Stunde der Hochstapler“ nach Thomas Mann am Berliner Ensemble inszeniert haben, folgte nun mit „Stunde der Hochstapler“ Ihr eigenes Stück zum Thema. Die Uraufführung am Berliner Ensemble haben Sie selbst inszeniert. Was fasziniert Sie an dem Stoff?
Zu Beginn stand der Gedanke, dass wir durch die veränderten Formen der Kommunikation im Zuge der Digitalisierung vermehrt Plattformen der Hochstapelei hervorgebracht haben. Die Formen der Hochstapelei sind dabei vielfältig und durchdringen alle Sphären, von Jugendkultur über Wirtschaft und Politik. Überall geht es darum, ein Selbstbild zu produzieren, Geschichten über sich und die Welt zu erfinden und mit diesen Geschichten andere Menschen zu überzeugen und zu verführen. Das hochstaplerische Selbst ist die logische Fortsetzung des „unternehmerischen Selbst“, wie es der Soziologe Ulrich Bröckling definiert hat. Der Hochstapler ist die Figur der Stunde, weil er in sich das ökonomische Gebot der Selbstinszenierung mit der Auflösung medialer Wahrheitsinstanzen verbindet.
„Wir sind Hochstapler“, heißt es in dem Stück. Was ist es, das die Lüge zur Notwendigkeit macht? Kann der Mensch ohne Fiktion nicht leben?
Wir brauchen Geschichten über uns und die Unseren, um stabile Verhältnisse zu erzeugen. Allerdings haben wir diesen Geschichten immer eine Wahrheit zugesprochen: unseren Erinnerungen, unserer Geschichtsschreibung, unserem Lebenslauf und so weiter. Heute wissen wir von Neurologen, dass unsere Erinnerungen unzuverlässig und teilweise gänzlich erfunden sind, wir erleben, wie Menschen sich in völlig unterschiedlichen Weltwahrheiten und -wahrnehmungen bewegen und sich gegenseitig als fake bezeichnen. Kurz: Der fiktionale Charakter unserer Erzählungen steht uns klarer vor Augen, und wir erleben Verunsicherung. Die Prämisse des Stücks ist, dass wir diese Verunsicherung nicht als Verlust, sondern als Chance begreifen. Und zwar als Chance, nicht nur andere Geschichten zu erzählen, sondern Geschichten anders zu erzählen.
Es gibt in dem Stück einen Filmproduzenten, dem es auch nach Lügen verlangt. Wie verhält es sich mit der Kunst und der Lüge? Ist das der Sonderfall einer wahren Lüge?
Der Produzent will die erste Lüge. Jenen Moment, an dem die Lüge in die Welt kommt. Im Stück ist das gleichgesetzt mit der Geburt des menschlichen Bewusstseins. Es ist also ein bisschen alttestamentarisch. Ich habe versucht, die Auseinandersetzung mit dem Thema so weit zu treiben, dass sich letztlich die ganze Zivilisationsgeschichte als Hochstapelei herausstellt. Es gibt ja immer eine zweite Wahrheit unserer Geschichte oder wie Walter Benjamin sagt: „Es gibt kein Zeugnis der Kultur, das nicht zugleich eines der Barbarei ist.“ Gerade erleben wir den Moment, in dem uns die Natur, die wir immer als Bühne unseres Handelns empfunden haben, als Hochstapler entlarvt. Die Wahrheit, die sich uns jetzt zeigt, ist, dass unsere Zivilisation – die ja eine Befreiungsgeschichte sein soll – gleichzeitig unseren Untergang programmiert. Das ist natürlich unzulässig verkürzt und zugespitzt, aber es macht Spaß, den Gedanken eines hochstaplerischen Selbst so weit zu treiben.
Eine Prophetin im Stück verkündet die Entgrenzung des Individuums. „Materie ist eine Illusion“, ruft sie aus. Die neoliberale Ideologie basiert auf der falschen Behauptung der individuellen Machbarkeit auf einem grenzenlosen Markt. Wie lässt sich die Lüge der Ideologie von den anderen Lügen unterscheiden?
Die ideologische Lüge kennt kein Spiel. Sie ist starr und beansprucht Allgemeingültigkeit. Sie ist eigentlich eher eine Wahrheit. Der Hochstapler lügt flexibel, aus dem Stegreif. Die Geschichte, die gerade noch gültig war, bedeutet ihm nichts, er kann sie fahren lassen und eine neue, bessere erfinden. Der Ideologie ist ihre Lüge heilig.
Sie zeigen in dem Stück auch die Krise eines Autors – oder des Autors schlechthin. Was ist diese Krise? Und anschließend gefragt: Wenn überall Illusionen hergestellt werden, wenn jeder dazu selbst in der Lage ist, was macht dann eigentlich noch das Theater?
Diese Frage taucht ja auf im Stück: Während sich unser Alltag immer stärker illusioniert, also die Gewissheiten schwinden, will man im Raum der Kunst das „Echte“. Der Text, der ja über den Text hinaus eine Inszenierung ist, die ich für das Berliner Ensemble gemacht habe, reflektiert diesen Bruch. Wir schlagen verschiedene Formen und Töne an, um die Krise der Wahrheit auszuloten. Wenn ich Krise der Wahrheit sage, dann meine ich jenen Zustand der Unsicherheit darüber, was eigentlich unsere gültigen Narrative sind. Über diese Deutungshoheit gibt es einen Kampf, und diesen Kampf trage ich letztlich auch in mir selbst aus. Und wir tragen ihn formal und ästhetisch auch auf der Bühne aus. Die sich verzettelnden Denkspiralen, die dabei entstehen, können wiederum vielleicht eine Antwort auf die Frage geben, wie wir unsere Geschichten erzählen. Frei nach dem Motto: Die einzige Gewissheit, die es gibt, ist die, dass es keine Gewissheiten mehr gibt.
Ihr Stück wirkt wie ein Gespräch zwischen Kunst, Wissenschaft und Psychologie, drei Ansätze zur Bestimmung des Menschlichen und Außermenschlichen. In welchem Verhältnis stehen diese zueinander?
These, Antithese, Synthese? Ich weiß es nicht genau, aber für mich wird es spannend, wenn Theater (also die Kunst) die beiden anderen Sphären amalgamiert. Das ist ja ein alter Gedanke, das Wechselspiel vom Apollinischen und Dionysischen und die Synthese in der Kunst. Ich arbeite nicht bewusst mit diesen Kategorien, mag es aber, mit ihnen zu spielen. Für Thomas Mann hingegen war das verbindlich, und anhand von „Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull“, das letztlich auch ein Kunstdiskurs ist, kann man das nachvollziehen. Mir persönlich ist das zu kartografisch. Es fehlt da das Moment der Freiheit, das für mich als Theatermacher zunächst das Entscheidende ist.
Unsere Gesellschaft ist in Teilen geprägt von einer Kultur des Narzissmus und der Autoerotik, nichts ist geiler als man selbst. Das geht mit einem Verlust des Anderen und des Sexuellen einher. Wäre ein Einspruch dagegen eine neue Politik der trennenden Wahrheit oder der Wahrheit der Trennungen?
Da hilft nur Praxis. Es gibt Dinge, die kann man nicht am Handy machen. //