Auftritt
Staatstheater Hannover: Mitten im Sturm
„Wir sind nach dem Sturm“ von Kevin Rittverger (UA) – Regie Marie Bues, Bühne Shahrzad Rahmani, Kostüme Moran Sanderovich, Musik Johannes Frick, Video Camille Lacadee
von Lina Wölfel
Assoziationen: Niedersachsen Theaterkritiken Marie Bues Kevin Rittberger Schauspiel Hannover
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Durch den Raum wabern meditative Elektrosounds in Stereo. Tiefe Bässe wechseln sich mit gleichförmigen Wellen ab. Im Abgrund einer hektagonalen Kraterlandschaft liegt ein ruhig atmender Körper, den Kopf auf einem Stein abgestützt. Brust und Beine sind von lila-grünen Malen übersehen, die Haut ist löchrig und hängt in Fetzen von den Knochen, wie von einer Krankheit zerfressen. Und dennoch scheint er, im wellenförmig flackernden Licht, das über ihn streift, seltsam ruhig, fast schön. Langsam beginnt der Körper sich zu bewegen, tastet sich vorsichtig über die raue Oberfläche des Bodens, auf dem er liegt. Als gallertige Substanz rutscht er immer weiter in die Mitte des Abgrundes.
Es ist eine merkwürdige Situation, die Marie Bues zu Beginn ihrer Inszenierung von Kevin Rittbergers „Wir sind nach dem Sturm“ am Schauspiel Hannover schafft. Geradezu ambivalent verhalten sich die einzelnen Gestaltungselemente zueinander: das zombieeske Kostümbild von Moran Sanderovich mit seinen Wunden und Löchern und Fetzen gegen die fast bieder gesteckten Flechtfrisuren mit pudrig-pastelligem Farb-Haarspray, das beruhigende Sounddesign von Johannes Frick gegen die mondartig dystopische Bühnenlandschaft von Shahrzad Rahmani. Durch dieses Spannungsfeld dringt plötzlich die Stimme von Alrun Hofert. Sie ist das „Ich“, ein Atom, das wahrscheinlich mit dem Urknall entstanden ist und seitdem Carbonteilchen, Magma, Dinosaurier-Zelle, Buchenblütenpolle oder Teil der menschlichen Schleimhaut war und vom Kontinentaldrift bis zur Mülldeponie alles gesehen hat. Es bildet die Brücke zu den anderen Figuren, deren Geschichten sich in einer Reigenstruktur aneinanderreihen. Zum Beispiel Wilhelm August Julius Albert (Nicolas Matthews), ein Hannoveraner, der im Harz das erste Drahtseil erfindet. Robuster als alle Seile zuvor, ermöglicht es, tiefer in den Berg hinabzusteigen und neue Bodenschätze zu erschließen. Ein Symbolbild für den Raubbau des Menschen an der Natur, das durch Rittberger gleich auf die nächste (Symbol-)Ebene katapultiert wird. Der Erfinder wird von einer Psychologie-Studentin (Birte Leest) zum Gegenstand ihrer Abschlussprüfung und seine Erfindung zur Metapher. Welche Risiken sind mit dem Aufbruch ins Innere verbunden? Was liegt dort vergraben und könnte an die Oberfläche gelangen? Ihr erster Klient: ein ewig-wetternder Alt-Aktivist, gespielt von Lukas Holzhausen, der im Schmerz der kollektiven Schuld aufgehend, nicht einmal in der Lage ist „Ich“ zu sagen und sich stattdessen in wütenden Monologen und fragmentarischen Assoziationsschnipseln verliert. Ein Schutzmechanismus des Körpers, wenn das Äußere versucht, sich seine Bahnen nach innen zu schlagen? Dann doch lieber einen Tempel – oder, je nach Sichtweise, einen Bunker – bauen, wie Camino (Alrun Hofert), um das sensible Innere vor äußeren Einwirkungen zu schützen.
Auch thematisch verhält es sich in „Wir sind nach dem Sturm“, einem Auftragswerk des Schauspiels Hannover, wie mit einem Bergwerk. Erzählstränge werden entdeckt und sofort weitertransportiert, bis sie allesamt auf dem großen Haufen landen, der sich Diskurs nennt. Durch Feminismus, Kolonialismus, Holocaust, Klimakrise und Generationenkonflikte geht es so rasant bergab, bis einem schlecht wird. Rittberger scheint sich nicht darum zu scheren, dass so viel eigentlich nicht geht. Im Gegenteil, im gelingt es, gerade durch das episodische Narrativ die Ambivalenz darzustellen, die das Leben in heutigen Zeiten mit sich bringt. Die Überforderung damit umzugehen, löst sich an diesem Abend im Schauspiel Hannover nicht auf. Sie bricht mit voller Wucht über den Figuren und den Zuschauer:innen gleichermaßen ein. Insofern passt es, dass Entdecker, Aktivist, Therapeutin und Co nicht allzu viel Persönlichkeit abbekommen, sondern als Archetypen für diese „Herausforderungen der Gegenwart“, wie man so schön sagt, fungieren. Es ist ein kluger inszenatorischer Schachzug gewesen, die Dialoge nicht zu tief, die Charaktere nicht zu vielschichtig und ihre Probleme nicht zu emotional aktivierend zu gestalten.
Schlussendlich bleibt diese Grubenbahn jedoch stehen. Der Berg ist ausgeschöpft. Im Schwindel danach folgt die Moral-Klatsche. „Wir haben das beste gemacht aus der Besten aller Welten – sie hätte uns auch schon eher abstoßen können“ fasst Hofert zusammen. Ja und nein. Denn der Maßstab dafür, was „das Beste“ ist, hat sich verschoben, weg von uns, hin zur Umwelt. Was das angeht, haben wir definitiv nicht unser Bestes gegeben. Umso dreister erscheint Matthews Aufforderung an die Erde im Schlusswort: „Teile dich mit. Rüttle mich wach. Halte mich davon ab zu schlafen.“ Als wären Flutkatastrophen, Hitzerekorde und Artensterben nicht Mitteilung genug. Wir sind nicht nach dem Sturm, wir sind mittendrin.
Erschienen am 6.12.2022