Theater der Zeit

Staatstheater Augsburg: Es lebe die Widerständigkeit!

„Frauen der Unterwelt. Sieben hysterische Akte“ von Tine Rahel Völcker (UA) – Regie Nicole Schneiderbauer, Bühne und Kostüme Miriam Busch Live-Musik Fabian Löbhard

von Sabine Leucht

Assoziationen: Bayern Theaterkritiken Staatstheater Augsburg

„Frauen der Unterwelt. Sieben hysterische Akte“ , in der Regie von Nicole Schneiderbauer Foto: Jan-Pieter Fuhr
„Frauen der Unterwelt. Sieben hysterische Akte“ , in der Regie von Nicole SchneiderbauerFoto: Jan-Pieter Fuhr

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„Wir trauern um 7 Menschen/ stellvertretend für mindestens 13.712 weitere/ die in den Jahren 1940 und 41 in der Tötungsanstalt Pirna-Sonnenstein ermordet wurden.“ So adressiert das Augsburger Ensemble das Publikum. Und so fängt auf der Brechtbühne im Gaswerk das Gedenken an sieben gewaltsam ums Leben gekommene Frauen an, das gut zwei Stunden später mit den Worten enden wird: „Was stört, das lebt.“ Es wird hier nämlich nicht nur ein Requiem angestimmt, ein Erinnerungs- und Totenlied für all jene, die von den Nazis als „lebensunwert“ erachtet wurden. Ebenso sehr wie um die NS-Krankenmorde geht es hier um das Leben in seiner anarchischen Individualität, das Tine Rahel Völcker geradezu feiert. Das Frauenleben zumal. Denn das, was nicht gepasst oder gestört hat an Frieda, Lina, Christel und den anderen, hatte meist unmittelbar mit ihrer Weiblichkeit zu tun oder damit, dass sie diese nicht hinreichend kanalisiert haben. Acht Kinder oder ein uneheliches, Spaß an einem froschgrünen Sportwagen, aber „kein Händchen“ fürs Familiäre, queer oder nicht standesgemäß verliebt, ein zu großes Lachen oder eine zu tiefe Wochenbettdepression. Etwas war immer falsch. Oder – wie es Völcker die Journalistin Ann Esser sagen lässt: „Immer ist irgendwas mit meinem Körper, entweder zu stark für 'ne Frau oder für 'n Menschen zu schwach.“ Der lesbischen Kommunistin gehört einer der „sieben hysterischen Akte“, in die die Berliner Dramatikerin ihr Recherche-Stück gliedert. „Frauen der Unterwelt“ heißt es, ist den Opfern von Sexismus und Ableismus gewidmet und an realen Biografien entlang geschrieben, von denen es sich kraftvoll abstößt. „Biografiktion“ nennt Völcker das, die mit dem Motiv des Aktes wie dem der Hysterie auf sexualisierte und biologistische weibliche Zuschreibungen anspielt, die sie ebenso wenig zu bedienen gedenkt wie die Konventionen des Dokumentartheaters. Ganz im Gegenteil gibt die Autorin der Regie das Bild eines „aufstehenden“ Aktes sowie einen Dokumentartheatervermeidungsauftrag mit, dem Nicole Schneiderbauer bei der Uraufführung nur allzu gerne nachkommt. Die Hausregisseurin am Staatstheater Augsburg, das in diesem Frühling mit einem Themenschwerpunkt an neunzig Jahre Machtergreifung erinnert, bietet vier Schauspielerinnen und zwei Schauspieler auf, die neben den sieben Protagonistinnen auch deren Arbeitgeber, Geliebte, pflichtbewusste Krankenschwestern, regimetreue Eltern oder Nachbarinnen übernehmen. Selten bleibt mal jemand länger einer Figur treu, wie Ute Fiedler als Frieda W., die sich für das Überleben ihrer Kinder prostituiert, die Fiedler als Puppen direkt am Herzen trägt. Andere Frauenschicksale werden oft schon nach einem Satz an Kolleg:innen weitergereicht, die nebenbei noch den Livemusiker Fabian Löbhard beim Trommeln und gelegentlichen Singen unterstützen.

Kostüm- und Bühnenbildnerin Miriam Busch hat den streckenweise hyperaktiven Cast in leicht individualisierte nude-beige-weiße Kostüme gesteckt und die beträchtliche Höhe der Gaswerk-Bühne mit einem Schwarm semitransparenter Anstaltskittel zugehängt, die sich sachte im künstlichen Wind bewegen. Zwei mobile Klettergerüste lassen sich vielfältig ersteigen; in ihren würfelförmigen Modulen kann man sich passgenau zusammenkauern. Dafür, dass der Text selbst schon ziemlich stark ist und Akt für Akt einen neuen Ton anschlägt, der zur darin porträtierten Frau passt, ist extrem viel los auf dieser Bühne. Papierstapel werden geräuschvoll auf den Boden gedonnert, es wird auf Waagen gesteppt und auf Schreibmaschinen geklappert oder parallel getrommelt und gesprochen. Mal summiert sich das zu einem rhythmischen Gesamtkunstwerk, oft aber muss man sich nur unnötig stark aufs Zuhören konzentrieren, um nicht komplett den Faden zu verlieren. Aber es gibt auch bestechende Bilder wie das bühnengroße Leintuch, durch dessen Mitte Christina Jung als Lina steigt. Das arme Mädchen hat sich in den Sohn eines reichen Bauern verliebt und wird damit den eigenen Eltern so lästig, dass sie sie einen Tag vor Heiligabend selbst in die Psychiatrie einweisen lassen. Sie ziehen uns zerren an dem weißen Tuch, das Jung wie eine Mischung aus Braut- und Totenkleid trägt und dabei verkündet „ich weiß, dass man Licht nicht einsperren kann!“

Weiblichen Rollenstereotypen und Vorschriften, wie frau zu sein hat, will diese Lina ebenso wenig gehorchen wie die emanzipierte Geschäftsfrau Johanna S. oder das behinderte Euthanasieopfer Christa, deren unbändiges Lachen Florian Gerteis als ihr überlebender Zwillingsbruder auf der Bühne wieder aufleben lässt. Es ist ein Verzweiflungslachen, das in einen Schrei mündet. Und etwas von beidem zieht sich durch den ganzen sehenswerten, aber bisweilen sehr bemühten Abend. Seine Quintessenz: Sie wurden gemordet, nivelliert, aus dem Weg geschafft, aber ihre wilde Selbstbehauptungskraft und ihre Widerständigkeit leben fort. Wie sagt es Frieda? „Solang mein Herz schlägt wird mein Mund nicht still sein. Ihr müsst mich schon entherzigen, um mich zu entmündigen.“ Und nach dem einen Herz käme das nächste. Und immer so fort.

Erschienen am 15.3.2023

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