Theater der Zeit

Auftritt

Theater an der Ruhr Mülheim: Wohltemperierte Geheimnisse

„Ödipus“ von Sophokles, übersetzt von Roland Schimmelpfennig – Regie, Konzept, Textfassung Alexander Klessinger, Regie, Maskenspiel Mats Süthoff, Bühne Christopher Dippert, Kostüm und Maskenbau Sophie Leypold, Musik und Komposition Alexander Schweiß/„Bock“ (UA) nach dem gleichnamigen Buch von Katja Lewina in einer Fassung von Glossy Pain – Regie und Text Katharina Stoll, Text Angelika Schmidt, Bühne und Kostüm Wicke Naujoks, Video Astrid Gleichmann, Musik und Komposition Hannes Gwisdek

von Stefan Keim

Assoziationen: Theaterkritiken Nordrhein-Westfalen Katharina Stoll Alexander Klessinger Leonard Grobien Glossy Pain Roland Schimmelpfennig Theater an der Ruhr

„Ödipus“ bei der ersten Spielphase am Theater an der Ruhr, Regie Alexander Klessinger & Mats Süthoff, Bühne Christopher Dippert, Kostüm und Maskenbau Sophie Leypold. Foto Franziska Götzen
„Ödipus“ bei der ersten Spielphase am Theater an der Ruhr, Regie Alexander Klessinger & Mats Süthoff, Bühne Christopher Dippert, Kostüm und Maskenbau Sophie LeypoldFoto: Franziska Götzen

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Eine Gestalt liegt im See des Raffelbergparks, an dem das Theater an der Ruhr liegt. Schilder weisen darauf hin, dass es sich nicht um einen menschlichen Körper handelt. Schließlich gehen hier auch Menschen spazieren, die nicht auf ein Kunsterlebnis vorbereitet sind. Ein Blick auf den Plan der Kunstinstallation „Curiosity didn’t kill the cat“ steht, dass es sich um eine Skulptur aus Bienenwachs handelt und Karen Fritz ihr Werk „Glitch the Ophelia“ nennt. Es ist eine schöne Irritation, präsent genug, um entdeckt zu werden, aber vor allem geheimnisvoll. Ist hier wirklich Shakespeares berühmte Wasserleiche gemeint? Oder ein seltsamer Popsong, den man entdeckt, wenn man den Titel suchmaschint?

„Geheimnis“ heißt das Motto, unter dem die gesamte Spielzeit des Theaters an der Ruhr steht. Wie letztes Jahr gibt es drei festivalartige Spielphasen, in denen die Aufführungen von Kunst, Konzerten, Gesprächen und nächtlichen Lesungen begleitet werden. Das Konzept hat gut geklappt, viel junges Publikum hat das Theater damit angelockt. Und auch diesmal ist das Eröffnungswochenende gut gefüllt.

Auf der Freilichtbühne im Park gibt es „Ödipus“ von Sophokles, in der Neuübersetzung von Roland Schimmelpfennig. Das Bühnenbild von Christopher Dippert ist grandios. Eine Ruinenlandschaft in knallrot, die an antike Ausgrabungsstätten erinnert. Darauf liegen Masken oder viel mehr halbe Köpfe in Weiß, meist mit langen blonden Haaren. Das Ensemble – ebenfalls ganz in Weiß gekleidet – nähert sich aus dem Park. Sie bleiben stumm. Nur wenn sie sich die Masken aufsetzen, können sie sprechen. Allerdings scheinen sie von den Eindrücken so schmerzhaft überflutet zu werden, dass einige wimmernd in Embryonalstellung zusammensacken und sich schnell die Masken wieder von den Köpfen reißen. Erst langsam gewöhnen sie sich daran, und das Drama kann beginnen.

Die erste Viertelstunde ist richtig packendes Theater. Die Regisseure Alexander Klessinger und Mats Süthoff formulieren ein grundlegendes Geheimnis. Wer sind diese Leute, die sich hier den alten Geschichten stellen? Außerirdische? Oder Urwesen, Ahnen der Menschheit, die sich mit archaischen Themen beschäftigen, die noch älter sind als sie? Wenn die Aufführung in Gang kommt, können die Regisseure diese Faszination nicht halten. Vor allem, weil das Ensemble keinen einheitlichen Spielstil findet. Einige pflegen einen stilisierten Ton, andere – wie Paulina Alpen als Ödipus – suchen die psychologisierende Gegenwartsnähe. Die Inszenierung läuft nun in gewohnten Bahnen. Die Geschichte, wie Ödipus das Geheimnis seiner Herkunft entdeckt und sich damit selbst entlarvt, bleibt ein Gleichnis, offen für Interpretationen. Kein starker Start in die Spielzeit, aber ordentliches Theater.

Das gilt auch für den zweiten Abend des „Geheimnis“-Projektes. Das Kollektiv Glossy Pain hat ein Sachbuch von Katja Lewina über „Bilder und Gegenbilder männlicher Sexualität“ auf die Bühne gebracht, angereichert mit Literaturzitaten und einem kurzen Videoconsulting eines Therapeuten. Auf einer Leinwand reitet ein jugendlicher Cowboy heran, steigt von seinem Pferd und betritt als reale Figur die Bühne. Dort gibt es eine Würstchenbude, eine Wiese, Campingstühle und ein Planschbecken. Der Cowboy zieht sich aus, nicht ohne dabei keck mit dem Publikum zu flirten, und legt sich hinein.

Ist mein Penis zu klein? Bin ich überhaupt attraktiv genug? Wie haben Rollstuhlfahrer Sex? Das sind die Themen, mit denen sich das vierköpfige Ensemble – drei davon mit Penis, einer davon im Rollstuhl – auseinandersetzt. Regisseurin Katharina Stoll macht daraus eine unterhaltsame Nummernrevue. Männlichkeitsgesten und Proloprahlereien bieten Stoff für nette Gags, es gibt ein bisschen Melancholie, angedeutete Verzweiflung und viel Unsicherheit, welche Rolle ein Mann einnehmen könnte und sollte. Das Ensemble spielt präzise, doch die Szenen gehen niemals in die Tiefe. Der Abend wäre interessanter, wenn er auch mal weh tun würde. Aber vielleicht ist er mehr für Schulklassen gedacht, der Pädagogiklevel ist sehr hoch.

So startet die Spielzeit im Theater an der Ruhr ganz okay, mit Aufführungen der gediegenen Mittelklasse und einigen optisch faszinierenden Momenten. Auf jeden Fall funktioniert das Drumherum. Theater und Raffelbergplatz werden zur vielfältigen Kunstmeile mit Barzelt und Foodtruck, ein Ort zum Wohlfühlen. Ein bisschen mehr Mut, in den Aufführungen aus der Feelgood-Atmosphäre auszubrechen, fände ich gut.

Erschienen am 26.8.2024

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