Theater der Zeit

Thema

Kraftvoll, zart, luzide

Der Schauspieler André Jung – ein Protagonist ohne Allüren

von Christoph Leibold

Erschienen in: Theater der Zeit: Berliner Theatertreffen: Unendliches Spiel – Der Schauspieler André Jung (05/2019)

Assoziationen: Münchner Kammerspiele Sophiensaele Schauspielhaus Hamburg

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Ein Montag im März. Von den vier Stühlen rund um den ­Kaffeehaustisch wählt André Jung zufällig den aus, der zwanzig Zentimeter kleiner ist als die übrigen. Mit dem Ergebnis, dass er nun deutlich tiefer sitzt als sein Gegenüber. Ob ihn das nicht ­störe, so von oben herab befragt zu werden? Jung winkt lächelnd ab: „Darüber bin ich längst hinaus!“

65 Jahre ist er jetzt alt und hat im Theater so ziemlich alles erlebt. Wieso sollten ihn da Kleinigkeiten irritieren? Dazu die vielen Auszeichnungen. Zwei Mal „Schauspieler des Jahres“ zum Beispiel. Und am Tag vor dem Interview ist er aus Bensheim gekommen, wo ihm der Gertrud-Eysoldt-Ring verliehen wurde. Die Jury würdigte ihn als einen der „feinsinnigsten, radikalsten und erstaunlichsten Bühnenkünstler unserer Zeit“.

„Ich habe tolle Sachen über mich gehört!“, freut sich Jung. Die Auszeichnung hat ihn aber auch ins Grübeln gebracht. Zum Beispiel über den Preis, den man als viel beschäftigter Schauspieler im ­Privaten zahlt. Sein sechzehnjähriger Sohn hat ihn nach Bensheim begleitet. Er kommt auch oft zu Besuch aufs Filmset, wenn André Jung auswärts dreht. „Wir vermissen einander halt auch ab und zu.“

In der Nachdenklichkeit im Gespräch findet man jenen ­André Jung wieder, den man von der Bühne kennt. Es ist dieser intensive Blick aus irgendwie traurigen Augen, der einen auch dann berührt, wenn man in den hinteren Reihen des Zuschauerraumes sitzt. Aus der Nähe betrachtet fällt einem dagegen noch stärker ein spitzbübischer Zug um die Mundwinkel auf. Nimmt man beides zusammen – die melancholischen Augen und das verschmitzte Lächeln –, könnte man das Bild vom traurigen Clown bemühen. Wenn es nur nicht so ein Klischee wäre. Allerdings: André Jung bekennt sich selbst dazu. „Clownerie ist mir nicht fern. Ein guter Clown lebt vom Understatement.“

Was das bedeutet, ist in Thorsten Lensings Bühnenfassung des Romanwälzers „Unendlicher Spaß“ von David Foster Wallace zu erleben. In der Inszenierung, die zum diesjährigen Theatertreffen eingeladen ist, spielt Jung einen der drei Incandenza-­Brüder, deren Vater Selbstmord begangen hat. Die Söhne Orin und Hal kommen damit nicht wirklich klar. Orin, der älteste, ist ein sexbesessener Footballspieler. Hal, der jüngste, ein Tennis­crack und Nervenbündel. André Jung spielt das Sandwichkind in der Mitte: den schwerbehinderten Mario.

Lensings Inszenierung ist ein Allstar-Projekt (mit Schauspielgrößen wie Ursina Lardi, Devid Striesow oder Sebastian Blomberg) und eine Art Nummernrevue, die jeder Figur ihren Moment schenkt. Vor allem Striesow und Blomberg ziehen dabei große Slapstick-Shows ab und geben die Stars in der Manege. ­André Jung sieht ihnen gern dabei zu. Ganz ähnlich wie er als Mario das Treiben seiner beiden Brüder aufmerksam verfolgt. Und während die Rampensäue Striesow und Blomberg dem lauthals lachenden Publikum unendlich albernen Spaß bescheren, erfüllt einen Jungs Spiel eher mit stiller, aber umso tieferer Freude. „Man kann mit körperlichen Defiziten nicht rampensäuisch umgehen“, sagt Jung. Und auch nicht, indem man solche Gebrechen möglichst naturgetreu zu kopieren versucht. In Hollywood war es eine Weile so etwas wie Leistungssport für Großschauspieler, Menschen mit Handicaps zu spielen. Daniel Day-Lewis in „Mein linker Fuß“. Dustin Hoffman als „Rainman“. Oder Robert De Niro in „Zeit des Erwachens“. André Jung ist daran nicht interessiert. „Es wäre mir höchst suspekt, wenn ich eine bekannte Krankheit imitieren würde. Die Abstraktion ist viel stärker.“ Also hat er sich einfach einen simplen Haushaltsgummi um den Kiefer geschnallt, der ihm die Mundwinkel einschneidet. Das erschwert die Artikulation. Zudem steckt seine linke Hand unter einem Gürtel am Bauch, um die Bewegungsfreiheit einzuschränken. Wenn André Jung dann mit der freien Hand ein hellblaues Kissen an seine Wange hält (wie einst das Comic-Kind Linus in den „Peanuts“ seine Schmusedecke) steht da tatsächlich ein kleiner, gehandicapter Junge auf der Bühne, der aus neugierigen Augen erstaunlich schlau in die Welt blickt. Denn dieser vermeintlich zurückgebliebene Mario Incandenza hat seinen Brüdern – zumal so wie André Jung ihn spielt – einiges an Wissen über das Leben voraus. Auch, weil er als Einziger der Brüder den Gedanken an den toten Vater an sich heranlässt.

Im Grunde war auch schon der Hund, den André Jung in Lensings Dostojewski-Adaption „Karamasow“ spielte, so ein stiller Beobachter. Wobei der weniger an tiefen Einsichten als an der Befriedigung primärer Bedürfnisse interessiert war. „Erst sollte ich auf allen Vieren gehen und mir einen Schwanz umbinden“, erinnert sich Jung, „aber man kann einen Hund auch auf zwei Beinen spielen und mit der Hand wedeln.“ Anfangs einmal bellen, das hat gereicht, damit die Leute wissen, um was für eine Kreatur es sich handelt. Ansonsten entwickelte André Jung seinen Hund aus der Frage, was so ein Tier bewegt. Antwort: „Der interessiert sich für nix außer Fressen. Und vielleicht noch für eine Fliege, die er ausgiebig mit den Augen verfolgt.“ Was Jung denn auch getan hat mit einem imaginären Insekt, das er kopfwiegend betrachtete.

Als Meister des Understatements wird André Jung für diese Art der Darstellungskunst regelmäßig gefeiert. „André zeigt im Kleinen das Brillante. Aber das wird dann automatisch groß. Es reicht, wenn er wenig tut, um die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen“, meint dazu Frank Baumbauer, unter dessen Intendanz Jung am Theater Basel engagiert war und später auch am Hamburger Schauspielhaus sowie den Münchner Kammerspielen.

Diese große Karriere war ihm allerdings nicht vorgezeichnet. An der Schauspielschule in Stuttgart, erzählt Jung, habe ein Lehrer prophezeit: „André wird immer am Theater bleiben. Er ist zwar nicht besonders gut. Aber er sitzt gern in der Kantine!“ Zunächst lernte Jung tatsächlich eher die Kantinen von Bühnen in der sogenannten Provinz kennen. Engagements führten ihn nach Esslingen, Ulm und Heidelberg. Zwischendurch dann aber auch an größere Häuser in Frankfurt am Main und Zürich. Dort fiel er Baumbauer auf, als der seine Basler Mannschaft zusammenstellte. Jung wurde einer der Schlüsselspieler in Baumbauers Erfolgs­team. Ein Protagonist ohne Allüren. Ein Ensemblespieler, der mehr noch als Kantinen die Kontinuität in der Zusammenarbeit mit Kollegen wie Regisseuren schätzt. Mit Christoph Marthaler, dem er während dessen Intendanz nach Zürich folgte, verbindet ihn die clowneske Ader. Werner Düggelin, prägender Regisseur seiner frühen Jahre, fühlt er sich bis heute verbunden. Den Eysoldt-Ring bekam er für die Rolle als Erzähler in Büchners „Lenz“ in Zürich – unter Düggelins Regie. Die Laudatio hielt Jossi Wieler, mit dem André Jung viele wichtige Arbeiten verbinden, unter anderem Elfriede Jelineks „Rechnitz“ an den Münchner Kammerspielen (2008). Wieler lobte in Bensheim die „Luzidität, Sensibilität und Zartheit“, mit der Jung im „Lenz“ auftrete. Und er rühmte Jung als einen, der wie kaum ein Zweiter „erhaben und würdevoll Scheitern“ spielen könne: „Ich glaube, neben Buster Keaton kann das nur André in dieser Perfektion.“ Da ist er wieder: der Clown-Vergleich!

Trotz der Treue zu einigen Regisseuren, sagt Frank Baumbauer, „war André nie ein Schauspieler, der nur mit bestimmten Leuten arbeiten wollte. Es ging auch nie um die Frage: Was spielt André Jung? Er hat immer mit derselben Offenheit mit Regie-Neulingen in kleinen Spielstätten gearbeitet wie mit namhaften Regisseuren auf der großen Bühne.“

Jung blieb den Münchner Kammerspielen auch treu, als 2010 Johan Simons auf Frank Baumbauer als Intendant folgte. Unter Simons Regie hatte er schon vorher regelmäßig gespielt. Heiner Müllers „Anatomie Titus“ (2003) sowie „Hiob“ nach dem Roman von Joseph Roth waren gemeinsame Meilensteine. Simons reduktionistischer Regiestil, der auf wenige, dafür umso ausdrucks­stärkere Zeichen setzt, kam Jung dabei sicher entgegen. Ebenso sicher ist es kein Zufall, dass die letzte gemeinsame Arbeit von Jung und Simons floppte, weil hier die eher üppige Ausstattung die Auseinandersetzung mit dem Stück ersetzte. 2013 zeigt Simons Shakespeares „König Lear“ als Großbauern, umgeben von leibhaftigen Schweinen als Live-Deko in Dorfkulisse. Recht viel mehr als die hilflos gegen ihre grunzenden Konkurrenten anspielenden Schauspieler ist von dieser Aufführung denn auch nicht in Erinnerung geblieben. „Das haben wir in den Sand gesetzt“, stellt ­André Jung lakonisch fest. Mehr will er dazu nicht sagen. Er deutet nur an, dass seine und Simons Vorstellungen von Theater damals begonnen hatte auseinanderzudriften. Das und die Ankunft von Matthias Lilienthal in München bewogen Jung 2015 dazu, fortan frei zu arbeiten. Nach rund vier Jahrzehnten in festen Engagements. Er dreht nun verstärkt. Zuletzt war er in seiner Heimat Luxemburg, wo er 1953 geboren wurde, in „Superjhemp retörns“ auf der Leinwand zu erleben, als Titelfigur einer Superhelden­parodie. Superjhemp ist eigentlich einfacher Staatsbeamter, der aber Superkräfte entfaltet, wenn er Kachkéis verzehrt. Kochkäse ist eine luxemburgische Spezialität. Im Großherzogtum war der Film 2018 ein Kassenschlager.

André Jung hat der Part diebische Freude bereitet. Wenn er davon erzählt, weitet sich das spitzbübische Lächeln zu einem breiten Grinsen. Und wahrscheinlich sind solche Auftritte auch ein gesunder Ausgleich zu Rollen von der Art, wie er gerade eine in Hamburg am Schauspielhaus spielt. „Die Übriggebliebenen“ hat Regisseurin Karin Henkel ihre Kompilation aus drei Texten von Thomas Bernhard genannt, darunter die finstere Komödie „Vor dem Ruhestand“. André Jung spielt darin den einstigen SS-Offizier Rudolf Höller, einen Ewiggestrigen, der auch nach dem Ende des NS-Regimes regelmäßig den Geburtstag Heinrich Himmlers feiert. Bei Jung wirkt dieser Höller, trotz blitzblanker SS-Uniform, nicht wie ein Fanatiker. Eher wie einer, der tatsächlich nicht begreifen kann, was an der Ideologie, die ihn fürs Leben geprägt hat, falsch gewesen sein soll. Jungs Höller ist ein melancholisches Monster, aber natürlich trotzdem eine „verkommene Drecksau“, wie Jung betont. Nur eben erschreckend normal. Sanft beinahe.

Zu diesem Eindruck trägt auch Jungs weich modulierte Sprache bei. Als Kind hat er zunächst Luxemburgisch und Französisch gelernt. Deutsch kam dann in der Grundschule dazu. Er beherrscht es akzentfrei. Und doch liegt stets etwas Fremdes, Plastisches in seiner Rede. So, als würde er sich behutsam durch die Sätze tasten und ihnen nicht ganz über den Weg trauen. Ja, fast scheint es, als lauschte er den Worten hinterher, ehe er sie freigibt. Und in der Luft bleiben dabei Fragezeichen hängen. So macht Jung Texte transparent, verleiht ihnen zugleich etwas Fremdes, und lädt das Publikum ein, das Gesagte förmlich zu betrachten und abzuwägen. „Manchmal kommen mir ganz normale Wörter vollkommen absurd vor“, beschreibt André Jung dieses jähe Befremden, aus dem eine Befragung von Texten erwächst. Eine Auseinandersetzung, die so nur auf der Bühne möglich scheint und für ihn essenziell ist. Bei aller Leidenschaft fürs Drehen sind es eben nicht nur die Kantinen, die André Jung am Theater nicht missen möchte. Noch so ein Preis, den man als (freier) Schauspieler zahlen muss: Man ist viel auf Achse und geht daher oft ­auswärts essen. Das ist teuer. André Jung sagt dazu die schönen Sätze: „Ohne den Film könnte ich nicht ins Restaurant gehen. Aber ohne das Theater kann ich nicht leben.“ Er ist über vieles längst hinaus. Nur ganz bestimmt nicht über das Theaterspielen. //

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