Auftritt
Bochum: Ein bitterer Abgesang auf die Familie
Schauspielhaus Bochum: „King Lear“ von William Shakespeare in der Neuübersetzung von Miroslava Svolikova. Regie Johan Simons, Bühne Johannes Schütz, Kostüme Greta Goiris
von Martin Krumbholz
Erschienen in: Theater der Zeit: House of Arts – Über Macht und Struktur am Theater (10/2020)
Assoziationen: Schauspielhaus Bochum
Harold Bloom, der große amerikanische Shakespeare-Forscher, ein fast unübertroffener Meister des „close reading“, meinte, unsere Epoche sei dem „King Lear“ nicht gewachsen. Und Bloom hat noch mehr Interessantes herausgefunden. Die Titelfigur des Dramas bezeichnet er fast wortwörtlich als die letztgültige Verkörperung des alten weißen Mannes. Wenn man bedenkt, dass das Stück in grauer Vorzeit spielt, Jahrhunderte vor Christus …
Als hätte Johan Simons in seiner Bochumer Inszenierung Bloom irgendwie zustimmen wollen, lässt er gegen Ende ein wenig die Zügel schleifen. Das fast unerträgliche Pathos der Tragödie wird unterlaufen, die fabelhafte Anna Drexler, zuvor Cordelia und Narr, zitiert die Regieanweisungen („Lear stirbt“), die Toten liegen zuckend auf der Bühne, und das wirkt dann wie eine schale Parodie. Schade, denn bis dahin, also vier Akte lang, war im Bochumer Schauspielhaus ein fesselnder, glasklarer „Lear“ zu erleben. Pierre Bokma mit seinem feinen niederländischen Akzent, ohne Blumen im Haar, stattdessen mit einem Pelzhut geschmückt (Kostüme Greta Goiris), interpretiert den Achtzigjährigen als einen impulsiven, nicht sehr intelligenten, aber dennoch nachdenklichen und vor allem hochsympathischen Aristokraten. Seine Begegnungen mit Cordelia sind herzzerreißend. Die jüngste Tochter (die beiden anderen sind Travestien, von Männern gespielt) reagiert keineswegs demütig oder zerknirscht, als der Vater die Stoisch-Störrische vom Hof jagt. Im Gegenteil, „ganz der Papa“, bekommt sie ihrerseits einen Wutanfall, wirft mit Erdklumpen nach dem Erzeuger, verlässt das Heim türenknallend.
Man wird sich bald wiedersehen, aber dann hat sich Anna Drexler, indem sie einfach ein kariertes Röckchen über ihrer roten Kluft auszog, in den Narren verwandelt, der den König fast bis zu seinem Ende begleitet. Die Doppelbesetzung erfolgt nicht zufällig: Der Narr ist eine Art Lookalike der Cordelia, dessen absurde Spottreden den König methodisch irritieren und ungefähr in dem Moment zur Räson bringen, da er tatsächlich durchgeknallt ist. Mit Paradoxien und Metamorphosen arbeitet der Text, vielleicht doch der größte und tiefste von Shakespeare überhaupt, ja immer wieder. Etwa, wenn Edgar, der gute Sohn des Grafen Gloster, sich in einen aus dem Irrenhaus entlaufenen „Tom“ verwandelt. Konstantin Bühler spielt ihn beeindruckend, halb nackt, mit ätzender Ironie. Der böse Halbbruder Edmund (Patrick Berg), eigentlich eine Paraderolle wie alle großen Schurken, kommt dagegen ein wenig zu kurz.
Nicht absichtsvoll brillierend, sondern lakonisch und ganz und gar menschlich gibt Steven Scharf den geschundenen Grafen Gloster. Faszinierend gelöst die Szene seiner Blendung: Nur ein Weißlichtblitz markiert den Akt. Kurz zuvor hat Scharf sich nachdenklich eine Zigarette angezündet, im Dialog mit seinem verlorenen Sohn, den er nicht erkennt. „Wie Ihr mit den Töchtern, hab ich’s mit dem Vater“, erklärt Edgar in der schönen Neuübersetzung von Miroslava Svolikova vielsagend dem wahnsinnigen Lear. Dieses Drama ist ja, und darauf hat wiederum Bloom nachdrücklich hingewiesen, ein bitterer Abgesang nicht etwa lediglich auf den „alten weißen Mann“, sondern auf die scheinbar so wundervolle und langlebige Idee der Familie.
Johannes Schütz‘ Bühnen sind allesamt Variationen des leeren Raums. Diesmal gibt es darin einen Erdhaufen und auf der Hinterbühne eine abgetrennte Lounge, in der eine um sich rotierende Kamera Schwarz-Weiß-Bilder von den Schauspielern erzeugt, die eben abgegangen sind oder sich auf ihren Auftritt konzentrieren. Das ist eine weitere Variante des Live-Video-Acting, das sich diesmal nicht auf ganze Szenen, sondern auf Fragmente, Interjektionen und so weiter stützt; mit relativ geringem Aufwand wird eine zweite Ebene installiert.
Die konsequent eingehaltenen „Abstandsregeln“ – auf der Bühne wie im Saal – stören übrigens nicht weiter. Über dergleichen ist ein Werk von Shakespeare, das während einer Pestepidemie entstand, weit erhaben. Und eine Inszenierung von Johan Simons letztlich auch.