Theater der Zeit

Magazin

Im Jahrhundertschritt

Günther Rühle: Theater in Deutschland 1967–1995. Seine Ereignisse – seine Menschen. Hrsg. von Hermann Beil und Stephan Dörschel, S. Fischer Verlag 2022, 795 S., 98 Euro.

von Thomas Irmer

Erschienen in: Theater der Zeit: Publikumskrise (11/2022)

Assoziationen: Buchrezensionen Theatergeschichte

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Nun ist dieses in der deutschen Theater­geschichtsschreibung wohl einzigartige Werk zwar nicht ganz zu Ende gebracht, aber doch abgeschlossen. Nach den Bänden zu den Jahren 1887 bis 1945 und 1945 bis 1966 (erschienen 2007 und 2014) ist jetzt der dritte Band knapp ein Jahr nach dem Tod von ­Günther Rühle erschienen. Der Autor konnte das ehrgeizige Projekt selbst nicht mehr ­vollenden, da seine Sehkraft für das Studium schriftlicher Quellen schwand. Andererseits hat Rühle gerade für die dargestellte Zeit von 1967 bis 1995 wohl die allermeisten „Ereignisse“ und „Menschen“, wie es im Untertitel heißt, selbst erlebt und erzählen können. Seine Methode bestand aber darin, eine bedeutende Aufführung sowohl in ihrem gesellschaftlichen Kontext wie auch im Licht der besonderen künstlerischen Bedingungen zu schildern, die Macher auch mit Selbstaus­sagen auftreten zu lassen oder treffende Beschreibungen und Wertungen aus zeitgenössischen Kritiken heranzuziehen. Das war ihm zum Ende seines Arbeitslebens nicht mehr möglich, und die beiden von Rühle gebe­tenen Herausgeber, der Dramaturg Hermann Beil und der Leiter des Archivs Darstellende Kunst an der Berliner Akademie der Künste Stephan Dörschel, haben einige Lücken in dem etwa zu zwei Dritteln abgeschlossenen Manuskript ausgefüllt, nachrecherchiert und mit anderswo veröffentlichten Artikeln Rühles ergänzt.

Was nun für das ganze Projekt sichtbar wird, ist die von Rühle vorgenommene Periodisierung. Stieg der erste Band mit dem ­Naturalismus und der Durchsetzung von Hauptmann und Ibsen als erstem Höhepunkt des bürgerlichen Theaters in Deutschland ein, folgte noch im selben Band das Theater der 1920er Jahre als weitere Glanzzeit – mit Max Reinhardt und Erwin Piscator als Gegenpole der Regie. Der zweite Band widmete sich vor allem dem Wiederaufbau des Theaters im nach der Katastrophe geteilten Deutschland. Der dritte Band schildert ab 1967 mit dem Aufstieg der neuen Regie-Generation und ­ihrer Autoren eine dritte Hochphase im (vor allem westdeutschen) Theater, findet aber auch Parallelen bei Adolf Dresen und Benno Besson in der anders ausgerichteten Grun­dierung des Theaters in der DDR. Zu dieser Periodisierung gehört auch der Abschluss des Bandes mit dem Tod Heiner Müllers 1995. Rühle erklärt ihn sogar als das Ende des ­bürgerlichen Theaters, wie er es aus der Aufführungspraxis und Publikumskultur heraus definiert. Der Band erzählt die Theater­geschichte aber durchaus noch über 1995 hinaus, zum Beispiel mit Thomas Ostermeier und Nicolas Stemann, mit dem bekannten Paradigmenwechsel vom Regietheater zum Regisseurstheater und einem grundsätzlich negativen Ton („Tollhaus“, „Zumutungen“), was die Subjektivität der Jungen angeht. Da wird es wohl Widerspruch und Diskussionen geben.

Auch die methodische Anlage der gesamten Trilogie ist durchaus zu hinterfragen. Eine Theatergeschichte allein mit ihren ­Höhepunkten im Schauspielbereich der Stadt- und Staatstheater bei konsequenter Auslassung von Tanz, Musiktheater, freier Szene und noch anderen Theaterformen zu erzählen, ist wohl nur einem Günther Rühle noch möglich, der über Jahrzehnte dafür seine spezielle Darstellungsform und Technik entwickelte und verfeinerte.

Sehr interessant und bislang wenig erprobt ist, wie Rühle mit dem Theater aus der DDR „im Exil“ umgeht und die Wechsel­wirkungen des westdeutschen Theaters mit den einzelnen, auf unterschiedliche Weise aus der DDR verstoßenen oder anderweitig ins deutsche Ausland Gekommenen beschreibt. Anschaulich schildert er Adolf ­Dresens Scheitern mit der Idee eines neuen Nationaltheaters in Frankfurt am Main – die Leute dort verstanden ja nicht einmal, was er damit meinte. Rühle wird dann der unmittelbare Nachfolger Dresens als Intendant in Frankfurt und erhält von diesem zur Be­grüßung (oder zum Abschied) ein DDR-Fähnchen überreicht. Rühle, der dafür seinen komfortablen Posten im Feuilleton der FAZ verlassen hat, ist für diese Abschnitte auch Zeitzeuge in eigener Sache – vor allem die Durchsetzung Schleefs und die Ent­deckung von Martin Wuttke und Thomas Thieme zählen zu seinen Heldentaten, die er hier auch mit einem Schuss Humor zu erzählen weiß.

Nach der Wiedervereinigung trat Rühle in Theater der Zeit (1/91) mit dem Aufsatz „Die neue Gemeinsamkeit“ hervor, einer re­lativ optimistischen Bestandsaufnahme der beiden zu vereinigenden Theaterkulturen. Das Thema hat ihn offensichtlich nicht mehr losgelassen, liest man die ausführlich geschilderten Kämpfe zwischen Peter Zadek und Heiner Müller um das Berliner Ensemble, die darin wohl staunend einige Irrtümer besagter Bestandsaufnahme bekennen. Aber selten sind die Probleme und gegensätz­lichen Anschauungen von Zadek und Müller so auf den Punkt gebracht wie hier. Und das in einem unaufgeregten Ton, wie es sich für einen Historiker ohne Hass und Eifer geziemt. Auch der Fragment-Band ist somit ein großes Stück Theaterliteratur geworden. //

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