Auftritt
Opernhaus Zürich: Keine Oper für Putin
„Leben mit einem Idioten“ von Alfred Schnittke – Musikalische Leitung Jonathan Stockhammer, Inszenierung, Bühnenbild und Kostüme Kirill Serebrennikov, Lichtgestaltung Franck Evin, Video Ilya Shagalov
von Elisabeth Feller
Assoziationen: Theaterkritiken Musiktheater Kirill Serebrennikov Opernhaus Zürich
Unüblich früh sind die Türen zum Zuschauerraum des Opernhauses Zürich geöffnet. Beim Eintreten sind wir zwar mittendrin und gleichwohl unsicher, was wir von dem, was wir sehen, halten sollen. Denn der weisse, im Hintergrund mehrfach gestufte Raum mit Klavier, Bett und Duschkabine kann zweierlei sein: Irrenhaus genauso wie Kunstgalerie. Für Letzteres spricht, dass sich Menschen wie bei einer Vernissage zwangslos unterhalten – in gespannter Erwartung eines bald zu enthüllenden Kunstwerks. Und dann ist da noch der Orchestergraben, aus dem einige Fetzen Musik ertönen.
Hat Alfred Schnittkes, auf Viktor Jerofejews Buch und Libretto fussende Oper „Leben mit einem Idioten“ schon begonnen oder befinden wir uns noch in der Aufwärmrunde? Schliesslich passiert das, was zum immerwährenden Zauber der Oper beiträgt: Die Lichter erlöschen und sanft gleiten wir in die Inszenierung von Kirill Serebrennikov, der zugleich als Bühnen- und Kostümbildner fungiert. Dabei haben wir das Hereintreten des Dirigenten Jonathan Stockhammer nicht einmal bemerkt.
Nein, eine Kunstgalerie ist das wohl doch nicht, denn dafür ist das, was wir zu hören bekommen, zu ernst. Ein Schriftsteller, „Ich“, muss sich als Strafe für mangelndes Mitgefühl einen Idioten aussuchen. Eine milde Strafe befindet der nun auf den Stufen sitzende Chor. Somit scheint alles klar, aber dann platzt ein schwarz gekleideter, diabolisch anmutender Mann in die Szene, schiebt sich durch die Reihen und singt, stöhnt und keucht dabei ein einziges Wort: „Äch“. Das ist er also, der Idiot, den sich „Ich“ aussucht – darauf hoffend, dass sich dieser, mangels Sprachmächtigkeit, gut einfügen wird in das Familienleben. Serebrennikov belässt es allerdings nicht bei diesem Idioten. Er stellt ihm ein stummes, splitternacktes Double zur Seite, das mit artistischer Beweglichkeit performt, und sich mit Farbe bemalend als Kunstwerk inszeniert. Von da an führt dieses, stetig vom „Äch“ des Sänger-Idioten begleitete Double, ein alle und alles zerstörendes Leben, was der Chor prophezeit hat: „Das Leben mit einem Idioten ist voller Überraschungen.“
Das Double kotet eines Tages auf den Boden, frisst den Kühlschrank leer, beschmiert sich und die Wände mit Ausscheidungen, zerfetzt die Bibliothek und damit die von der Ehefrau geliebten Werke von Marcel Proust. Die Ehefrau, die das Double „Schätzchen“ nennt, lässt sich von diesem schwängern, treibt das von ihm erwartete Kind ab, was den Sänger-Idioten derart erzürnt, dass er ihr mit der Gartenschere den Kopf abschneidet. Ausserdem wird „Ich“ Opfer der sexuellen Begierde des Doubles, das sich danach in einen Bademantel hüllt, die Szene verlässt und ein gebrochenes „Ich“ zurücklässt. Unsicher beginnt es das Lied von der Birke zu intonieren, bevor es von der Polizei verhaftet wird und dort landet, wo die Geschichte begonnen hat: im Irrenhaus. Himmeltraurig ist das, was in Zürich mit einem düsteren Summchor unterstrichen wird, der Schnittkes Musik zum Film „Agonie“ entstammt.
Dies ist das beklemmende Ende einer Oper, in die Serebrennikov – mit Einverständnis von Jerofejew – textlich ziemlich viel eingegriffen hat. So klammert der seit 2022 im Westen lebende Regisseur jedes Sowjetische aus, das in der von Jerofejew 1980 in der Sowjetunion geschriebenen Erzählung in jeder Zeile aufscheint. Somit ist auch der damals und bei der Uraufführung sogleich mit Lenin gleichgesetzte Idiot in Zürich nicht mehr als solcher erkennbar. Unterstrichen wird die Negierung alles Sowjetischen auch dadurch, dass Schnittkes Werk in Zürich nicht auf Russisch, sondern auf Deutsch gesungen wird. „Leben mit einem Idioten“ sei nicht in erster Linie eine politische Oper, sagt der Autor: „Genau deshalb wäre es auch völlig falsch, diese Figur mit Putin gleichzusetzen.“ Und der Regisseur doppelt nach: „Ich will Putin kein Kunstwerk widmen. Er ist ein Kriegsverbrecher. Er verdient keine Oper.“
Um was geht es denn in der Zürcher Version? Um Gewalt. Um die Zerstörung von Beziehungen. Um menschliche Abgründe. Um den Wahnsinn. Dafür spricht, dass „Ich“ seine Ehefrauen immer wieder verwechselt. Zudem bleibt in der Schwebe, ob eventuell gar „Ich“ seine Ehefrau umgebracht hat. Ist es so, kann man sich leicht vorstellen, dass sich das gesamte Geschehen im Kopf von „Ich“ abspielt – somit die Halluzination eines inneren Idioten ist, der im Alltag tunlichst verborgene Gewaltphantasien explodieren und zur Realität werden lässt. Solches kann man mit viel Kunstblut in Szene setzen, doch Serebrennikov setzt auf symbolstarke Bilder – etwa in den minutiös getimten Arrangements des Chors - die ihre Wirkung nicht verfehlen. Und geht es beispielsweise um die Ermordung der Ehefrau reicht eine riesige Gartenschere, die der Sänger-Idiot auf- und zuklappt – und schon wird das Kopfkino eines jeden Zuschauers vervollständigen, was auf der Bühne detailliert ausgebreitet nie dieselbe Wirkung erzeugen würde.
Wirkung zeigt natürlich insbesondere Alfred Schnittkes polystilistische Musik, die vom Volkslied über Schostakowitsch-Anklänge reicht und mit diversen Selbstzitaten, darunter den berühmten Tango aus „Agonie“, aufwartet. Wer wäre berufener als der auf zeitgenössische Musik spezialisierte Dirigent Jonathan Stockhammer, Schnittkes Oper mit der wiederum erstaunlichen Philharmonia Zürich zu verlebendigen. Was heisst schon erstaunlich? Das sind schlichtweg alle, die in „Leben mit einem Idioten“ mitwirken: einerseits der wunderbar flexible Chor sowie andererseits die Sänger. Allen voran Bo Skovhus als „Ich“; ein Sänger, dessen Neugier auf zeitgenössische Oper legendär ist und der nun seine stimmlichen und schauspielerischen Mittel in verschwenderischer Fülle ausbreitet. Eine Parforceleistung sondergleichen leistet auch Susanne Elmark als Ehefrau, die ihren Sopran bis an die Grenze des kaum noch Koloratur-Machbaren treibt. Wie spannend eine einzige Silbe, nämlich „Äch“ sein kann, zeigt Matthew Newlins Sänger-Idiot mittels beeindruckender Nuancen. Zu dieser Sänger-Elite gesellt sich Campbell Caspary als Double. Er trägt die Inszenierung auf eine ebenso beklemmende wie berührende Art und Weise mit. Er ist gewalttätig, aber auch verletzlich. Er wirkt abstossend und anziehend in einem – und entspricht damit den Regieintentionen von Kirill Serebrennikov, dessen Inszenierung ein herausragender, diskussionswürdiger Höhepunkt in Andreas Homokis letzter Saison als Intendant am Opernhaus Zürich ist.
Erschienen am 19.11.2024