Theater der Zeit

Aktuelle Inszenierung

Stille Tage im Kaukasus

An der Berliner Volksbühne verspricht Frank Castorf mit Tschechows „Das Duell“ an alte Großtaten anzuknüpfen

von Sebastian Kirsch

Erschienen in: Theater der Zeit: Aleksandar Denic: Realität des Absurden – Bühnen für Castorf in Berlin und Bayreuth (06/2013)

Assoziationen: Theaterkritiken Volksbühne Berlin

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Im Interesse der Menschheit müssen solche Menschen vernichtet werden“, sagt der darwinistische Biologe Nikolai von Koren über den nichtsnutzigen Beamten Iwan Lajewski. Anton Tschechows Kurzroman „Das Duell“ spielt in einem beschaulichen kaukasischen Provinzstädtchen des späten 19. Jahrhunderts, doch gerade hier kündigen sich bereits die gewaltigen Katastrophen an, die vom 20. Jahrhundert bis in unsere Gegenwart reichen. Dabei stammt Lajewski eigentlich aus Petersburg, doch weil er aufgrund einer wilden Ehe mit der (ihrerseits verheirateten) Nadeshda Fjodorowna dort nicht mehr allzu gut angesehen ist, flüchtete er zusammen mit der Geliebten in die Provinz. Ziemlich erfolglos allerdings: Mit Nadeshda läuft es immer schlechter, das kaukasische Niemandsland ist sterbenslangweilig, und den Mitgliedern der Provinzgesellschaft, dem Diakon und eben besagtem Biologen, sind der Lebemann und die Kokotte aus der Großstadt erst recht suspekt. Nur der friedliebende Arzt Samoilenko ist milder gestimmt. Doch auch er kann nicht verhindern, dass sich von Koren in einen Hass gegen Lajewski steigert, der schließlich zum titelgebenden Duell zwischen den beiden führt. Tschechows Ironie will es allerdings, dass keiner der Beteiligten recht weiß, wie ein solches Duell eigentlich durchzuführen ist; am Schluss schießt von Koren daneben, weil der Diakon dazwischenfährt. Wenigstens findet Lajewski nach dieser Erfahrung zu Nadeshda zurück …

„Das Duell“ porträtiert eine Welt irgendwo zwischen „nicht mehr“ und „noch nicht“, absurd, haltlos, dabei immer am Rand der Katastrophe. In der Volksbühne übersetzt Frank Castorf dieses Tschechow’sche Niemandsland (das, über dem wandernden Riss zwischen Ost und West gelegen, dennoch einen präzisen Ort hat) in eine verwinkelte Bühnenlandschaft mit exzessiv genutzter Videoleinwand. Bis auf die Rolle des Arztes (Hermann Beyer) werden dabei alle Figuren von Frauen gespielt, darunter Kathrin Angerer (Diakon), Silvia Rieger (von Koren) und Sophie Rois (Lajewski) – und diese wenigen Stichworte und Namen verraten bereits, dass die Produktion noch einmal an die ausufernden Umsetzungen russischer Romane anknüpfen möchte, mit denen Castorfs Theater um die Jahrtausendwende herum einen glanzvollen Höhepunkt erreichte. Allerdings ist diese Zeit mittlerweile eine gefühlte Ewigkeit her, und darum mag es ratsam sein, vor einer genaueren Einschätzung des „Duells“ zunächst noch einmal kurz dieses „Es war einmal“ zu würdigen. Denn Produktionen wie „Dämonen“ (1999), „Erniedrigte und Beleidigte“ (2001) und „Der Idiot“ (2002) waren geniale Arbeiten, die einen neuen Standard markierten: Castorf, seinem Dramaturgen Carl Hegemann, dem Bühnenbildner Bert Neumann und einem hinreißenden Ensemble um Angerer, Rois, Henry Hübchen und Martin Wuttke gelang es, die komplexen geopolitischen Verwerfungen zwischen westlichen Territorien und der „Zeitkammer“ des sibirischen „Riesenrückens“ (Heiner Müller) auf den Punkt zu bringen, die postsozialistische Tristesse des ausgehenden 20. Jahrhunderts in den russischen Wartesälen des 19. zu spiegeln und dabei obendrein eine Ästhetik zu entwickeln, die das serielle Erzählen der Dostojewski’schen (Zeitungs-)Romane geschickt mit den rahmenlosen Soap-Opera-Möglichkeiten des Videozeitalters verknüpfte.

Was dann allerdings folgte, war einer der abruptesten und schmerzhaftesten künstlerischen Abstürze der neueren Theatergeschichte: ein Ensemble, das in alle Richtungen floh, ein Intendant, der den „Stalin in sich“ offenbar nicht mehr bekämpfte (wie Castorf einst das Stalin-Porträt im Intendantenzimmer erklärt hatte), sondern sich ihm zu überlassen schien, Hausverbot für Hegemann und vor allem eine quälende Abfolge immer uninspirierter daherkommender Inszenierungsversuche. Am ärgerlichsten war dabei, dass Castorf einfach immer weitermachte, bis seine Arbeiten vielen ehemals leidenschaftlichen Anhängern (einschließlich mir) schlicht egal wurden.

Warum muss man das noch einmal so ausführlich erzählen? Weil „Das Duell“ nicht nur die alten Großtaten fortzusetzen verspricht, sondern weil die Inszenierung auch von nicht wenigen Stimmen als „bester Castorf seit Jahren“ gepriesen wird. Die Ausgangssituation lässt tatsächlich hoffen: Mit Angerer, Rieger und Rois sind einige der profiliertesten Castorf-Spielerinnen beteiligt, und die Bühnenanlage von Aleksandar Denic, ein hybrides Gebilde zwischen Datsche, morschem Bretterverschlag und russischem Palast mit Zwiebeltürmchen, erinnert an frühere Neumann-Bühnen. Charakteristisch ist auch, dass Castorf verschiedene inhaltliche Ebenen schichtet und ein Ineinander von derben Spielszenen und langen weltanschaulichen Monologen zu schaffen sucht. Am auffälligsten ist dabei die Besetzung: Dass bis auf Beyer nur Frauen anwesend sind, zitiert laut Programmzettel den tschechischen Film „Late August at the Hotel Ozone“ von 1967 (der bisweilen auch über die Leinwand flimmert). Doch zugleich zeigt sich hier bereits eine grundsätzliche Schwäche: Letztlich erscheint die Besetzungsentscheidung unmotiviert und aufgesetzt, selbst wenn man sie neben dem Film auch noch auf den finalen Monolog Angerers beziehen mag: ein sozialdarwinistisches Bienengleichnis über schwache Drohnen, die sich zu Herren gemacht hätten und ausgerottet gehörten. (Beyer/Samoilenko erschießt sich daraufhin.) Hier ernsthaft von einer Beschäftigung mit Genderfragen zu sprechen, scheint jedenfalls arg hochgegriffen. Eher schon dürfte man sich mit dem „letzten Mann“ (Angerer) und der Frauenhorde im Reich der Männerphantasien bewegen (die bei Castorf ja schon immer recht ungeniert über die Bühne staksten): ein achtköpfiger Harem zwischen Kindfrau und Domina.

Doch die Inszenierung belässt es nicht bei der vorgeblichen Geschlechterfrage. Der Tschetschenienkrieg wird auch noch hineingemischt, Tarkowski, Spekulationen über und auf amerikanische Befreier, eine dänische Verfilmung von Henry Millers „Stille Tage in Clichy“, „Papillon“ und, und, und. Dabei könnten solche rhizomatischen Verkettungen natürlich höchst produktiv sein. Das Problem ist aber, dass in Castorfs unaufhörlichen Assoziationen ein Element fehlt, das in seinen großen Inszenierungen immer vorhanden war und das man mit einem Begriff des französischen Philosophen Gilles Deleuze als „stratigrafisch“ bezeichnen könnte: eine Ebene, die die ins Spiel gebrachten Bezüge zwar nicht synthetisch verklammert, sie aber rückläufig verdichtet. Dazu müsste man die assoziierten Materialien allerdings in ihrer Offenheit, in ihrem je eigenen „Werden“ erfassen – was um einiges mehr Mühe macht, als sie einfach aneinanderzustückeln wie Readymades. So krankt aber auch „Das Duell“ an einem Mangel, der Castorfs Theater seit geraumer Zeit durchzieht: Die Inszenierung bleibt in einer Reihung von Einzelaspekten stecken, die sich allzu bequem als postmoderne Unübersichtlichkeit ausgibt und den Abend auseinanderfallen lässt. Viele Szenen (Fische zerlegen, eine endlose „Mein Licht ist aus, ich geh nach Haus“-Polonaise, das Blutbad am Schluss) wirken darum beliebig und irgendwie angepappt. Das heißt nicht, dass es nicht auch einige Glanzlichter gäbe, vielleicht tatsächlich mehr als in anderen jüngeren Castorf- Inszenierungen. Sie sind vor allem der großartigen Sophie Rois zu verdanken, die etwa in einer Saufszene mit Beyer zu komödiantischer Hochform aufläuft (während Angerers Schlussmonolog noch einmal an den Sprachschwall denken lässt, mit dem einst Herbert Fritsch das Publikum nach sechs Stunden „Idiot“ in die Besinnungslosigkeit redete). Insgesamt kann aber auch „Das Duell“ nicht verbergen, dass hier etwas nicht mehr greift, das vor langer Zeit einmal Maßstäbe gesetzt hat. //

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