Theaterarbeit als Reproduktionsarbeit
Über spekulatives Fabulieren im pandemischen Theater
von Yana Prinsloo
Erschienen in: Recherchen 165: #CoronaTheater – Der Wandel der performativen Künste in der Pandemie (08/2022)
Assoziationen: Dossier: Digitales Theater Dossier: Corona
Können Sie Homeoffice?1 Der Schreibtisch in den eigenen vier Wänden ist eine Herausforderung. Immer wieder wird die Work-Life-Balance und das Abschalten nach einem Arbeitsalltag durch die digitale Erreichbarkeit boykottiert. Seit der Erklärung des COVID-19-Ausbruchs zur Pandemie durch die WHO am 11. März 2020 sind die Grenzen zwischen Job und Privatleben fließend. Die Vor- und Nachteile der Heimarbeit werden volatil diskutiert. Im Januar 2021 publizierte deutschlandfunk nova Tipps gegen den Lockdown-Wohnungskoller von einer Astronautin, einer Expertin für engste und dauerhafte Raumsituationen.2 Die Astronautin Suzanna Randall empfiehlt, Routinen zu planen und (endlich) vernachlässigten Hobbys nachzugehen. Das Homeoffice, das zeigt die aktuelle Debatte, ist sowohl eine Revolution als auch ein Problem für das Verständnis von Arbeit.
Die Diskussion offenbart (mindestens) drei Aspekte der Arbeitswelt: Es gibt Berufsgruppen, die ihre Tätigkeit nicht im Homeoffice ausüben können und in der Gesundheitskrise eine existentielle Bedrohung erfahren. Es gibt Haushalte oder Personengruppen, die nicht über die nötigen Ressourcen verfügen, um sich den eigenen Zugang zum Arbeitsmarkt zu erhalten. Und es gibt Care-Arbeit, verstanden in der englischen Mehrdeutigkeit als fürsorgliche Praxis, Sorge- und Reproduktionsarbeit, die in der Pandemie überdeutlich als zentraler Motor des gesellschaftlichen Wohlergehens Sichtbarkeit erlangt – eine (oft unterbezahlte oder ganz und gar unbezahlte) Tätigkeit, die keinen routinierten Arbeitsalltag zulässt.3
Arbeiten ist keine wertneutrale Tätigkeit. Die altbekannte Tatsache erfährt durch die Coronapandemie eine neue/andere Verhältnismäßigkeit. Die Abwertung reproduktiver Tätigkeiten und die Aufwertung von produktiven Tätigkeiten hat in der westlichen Welt Hochkonjunktur. In diesem Zusammenhang wird auch die Mehrfachbelastung von Frauen* im Familien- und Arbeitsleben unter Soziolog*innen als Sorge um die Retraditionalisierung der Geschlechterverhältnisse diskutiert.4
Die Krise macht gerade die Kontinuitäten sichtbar, die sonst das Arbeiten als vermeintliche Natur des Menschen verschleiern: Im Krisenfall zeigt sich überwiegend ein Rückfall in heteronormative Muster der Aufgabenteilung. Berufe aus der Pflege, die in ihrer Selbstverständlichkeit weniger Beachtung finden, werden als systemrelevant deutlich. Die Sorgearbeit im privaten Raum beziehungsweise ihre Privatisierung werden aufgrund des Wegfalls wohlfahrtsstaatlicher Institutionen zum öffentlichen Missstand. Tendenzen der strukturellen Ungleichheit qua Vergeschlechtlichung zeigen sich in der Krise in aller Deutlichkeit: in der dichotomen Unterscheidung zwischen Arbeit und Nicht-Arbeit, zwischen sichtbarer und unsichtbarer Arbeit. Ein zentrales Legitimationsmuster hierfür ist die Naturalisierung, welche die Soziologin Nina Degele bereits 2011 beschreibt: »Frauen sind fürsorglicher, empathischer und verfügen über mehr soziale Kompetenz, weil sie im Zuge geschlechtskonstituierender Arbeitsteilung dazu gemacht wurden und werden, und genau dies wird für die Ausbildung neuer gesellschaftlicher Strukturen funktionalisiert.«5
Der Missstand macht demnach eine grundsätzliche Schieflage im Care-Bereich sichtbar, welcher sich auch durch eine Tendenz der Naturalisierung beruflicher Strukturen erklären lässt. Neben dem Care-Bereich werden diese Tendenzen auch in anderen Berufsfeldern wie den künstlerischen Berufen im Zuge der Pandemie deutlich: Der gesetzlich verfügte, pandemische Stillstand des Theaterlebens verdeutlichte auch einen theaterwissenschaftlichen, theaterpraktischen und -politischen Nachholbedarf für eine akzeptable Definition von Theaterarbeit, die nicht das Was (Was und woran arbeiten freie Theatermacher*innen?), sondern das Wie(Wie arbeiten Theatermacher*innen?) berücksichtigt und welche die Dichotomien von Arbeit/Nicht-Arbeit, Normalarbeitsvertrag/Solo-Selbstständige, Systemrelevanz/Systemirrelevanz und Institution/kollektive Einzelkämpfer*innen zurücklässt/überwinden helfen könnte.
In welchem Verhältnis steht das Arbeiten im Theater und Care-Arbeit mit Blick auf diese Prozesse der Naturalisierung? Im Folgenden möchte ich diese Tendenzen vor dem Hintergrund des Theaterfilms A Room of Our Own (2021) des feministischen Performance-Kollektivs Swoosh Lieu diskutieren: Inwiefern deuten Theaterproduktionen, die während der Pandemie entstanden sind, auf das Bedürfnis einer Re-Definition von (Theater-)Arbeit als fürsorgliche Tätigkeit hin? Inwiefern er/schaffen die Performer*innen Zukunftsvisionen, die als Formen spekulativen Fabulierens6 alternative Formen der Care-Arbeit (mit-)denken/verhandeln?
#coronatheater – über die Un/Möglichkeit zu arbeiten
Die polarisierende Debatte bezüglich der Arbeitsverhältnisse am Theater, ausgelöst durch Engpässe, Finanzierungslücken und Mehrfachbelastungen von Künstler*innen und Theatermacher*innen, veranschaulichen folgende drei Beobachtungen:
Erste Beobachtung: Die 274. Ausgabe des Fachmagazins Kunstforum fragte im Mai 2021 in seiner Ausgabe zum Thema ÜberLeben und Kunst nach den Bedingungen künstlerischer Existenz(en). Der Leitartikel, verfasst von Martin Seidel, wurde mit dem Gemälde Der arme Poet des spätromantischen Malers Carl Spitzweg aus dem Jahre 1839 illustriert.7 Ohne näher auf die aktuellen staatlichen Hilfsprogramme im Sinne eines Informations- und Servicedienstes für Künstler*innen und Theatermacher*innen einzugehen, reproduzierten und hinterfragten die Herausgeber*innen lediglich die Gelingensbedingungen und Darstellungsformen künstlerischer Arbeit. Konnotiert als unsichere Arbeitsverhältnisse wurde die traditionelle und die aktuelle prekäre Situation von Künstler*innen als eine Existenz in Armut und Ressourcenknappheit dokumentiert. Künstlerisches Schaffen wurde durch den Leitartikel und die Coverabbildung individualisiert und mit einem (angeblichen) Sogewordensein verknüpft.
Zweite Beobachtung: Das Düsseldorfer Theaterfestival Favoriten wählte für seine 20. Ausgabe vom 10. bis 20. September 2020 das Motto While We Are Working. Die Korrespondenz zwischen den Kuratorinnen Fanti Baum und Olivia Ebert mit der Dortmunder Intendantin Julia Wissert über einen möglichen Beitrag auf dem Festival ist mit Blick auf die Definition von (Theater-)Arbeit aufschlussreich: In der im Magazin abgedruckten E-Mail lehnte Wissert ihre Beteiligung mit der Begründung auf ihren Anspruch/Bedarf auf Erholung und Regeneration ab:
Wir haben in unseren Sitzungen immer wieder über Arbeit gesprochen, aber nie über Erholung. Wie können wir über Erschöpfung nachdenken, ohne im selben Atemzug über Strategien zur Regeneration zu sprechen? Ich befürchte, dass wir uns die Strukturen, die wir verändern wollten, übergestülpt haben, ohne es zu merken.8
Wissert erläuterte ihre Position sodann mit künstlerischen Zugängen zum Thema:
In den Sitzungen habe ich euch von niv Acostas und Fannie Sosas Arbeit Black Power Naps erzählt. Eine Performance, die im Kern Erholung und Heilung von marginalisierten Körpern behandelt. Die beiden Performer:innen verbinden Schlaf und Erholung mit der Frage nach Reparationen und damit antikapitalistischem Widerstand. ›So when we talk about rest in terms of reparations, we’re not only talking about sleeping per se, we’re also talking about downtime; leisure time that you don’t spend sleeping, that you are able to spend cultivating yourself, imagining yourself, just existing; to basically rest up, to stop having a function in society for a bit.‹9
In Wisserts E-Mail zeigt sich eine interessante Umkehrung der soziologischen Gegenwartsdiagnosen zur Müdigkeits-/Burnoutgesellschaft.10 Statt den Anforderungen der Leistungsgesellschaft zu entsprechen, trat sie einen Schritt zurück und hinterfragte nicht nur das eigene Zutun und die eigenen Grenzen innerhalb des Leistungsnarrativs, sondern auch die Zugänglichkeit zu dieser selbst mitzuverantwortenden Arbeitskultur für andere.
Dritte Beobachtung: Im Laufe der Pandemie wurden auf Bundesund Länderebene mehrere Hilfsprogramme für freischaffende Künstler*innen und Solo-Selbstständige verabschiedet. Grund für die Aktualisierungen war die unplanbare Länge des Lockdowns und ein ständiger Bedarf der Nachjustierung. Die jeweiligen Gesetzesinitiativen/Maßnahmen entlarvten die Tatsache, dass den Gesetzgeber*innen die Arbeitsbedingungen und -realitäten von Künstler*innen nicht annähernd vertraut waren. Die Abweichungen von Normalarbeitsverhältnissen und (Ausnahme-)Regelungen für die in der Künstlersozialkasse Versicherten waren nicht ohne Weiteres kompatibel. Zu Pandemiebeginn wurden zum Beispiel freischaffende Künstler*innen nicht mehr über die KSK weiterversichert, wenn sie einen Zuverdienst von über 450 Euro monatlich erwirtschaften konnten. Erst Ende Juli 2021 trat die Sonderregel in Kraft, demnach bis zu 1300 Euro außerhalb der künstlerischen Arbeit verdient werden konnte, ohne den KSK-Versicherungsschutz zu verlieren, sozusagen ohne nicht mehr als Künstler*in zu gelten.11 Die coronabedingten Einschränkungen haben nicht nur den Arbeitsmarkt Kultur erschüttert, sondern auch den Kultursektor hinsichtlich seiner arbeitsrechtlichen und arbeitssichernden Perspektiven in Deutschland als fragil, flexibel und atypisch kenntlich gemacht.
Die angeführten Beispiel verlangen eine multiperspektivische Analyse von Theaterarbeit, welche in den verschiedenen Phasen der Pandemie diskutiert und geleistet werden musste/muss: Während in Presse und medialer Öffentlichkeit das Narrativ vom singulären Künstlersubjekt immer wieder aktualisiert und reproduziert wurde, diskutierten die Düsseldorfer Theaterkuratorinnen bereits über die Asymmetrien, die sich bei der Be- und Entwertung von un-/sichtbaren Formen von Arbeit, von Care-Arbeit, dem Zugang zum Arbeitsmarkt und dem Recht auf Erschöpfung und Regeneration im Theaterbetrieb zeigt.
Während sich die zwei diametral unterschiedlichen Ansichten zur Arbeitswelt Theater als antagonistisch herausstellten, verkomplizierten sich zugleich die Auseinandersetzungen über Theaterarbeit als Lohnarbeit unter Pandemiebedingungen: Theatermacher*innen arbeiten überwiegend in Mehrfachtätigkeit. Sie sind oftmals Produzent*innen ihrer eigenen Performances, sind Dienstleister*innen im Haupt- oder Nebenerwerb, wechseln zwangsläufig zwischen Selbstständigkeit, Erwerbstätigkeit und temporärer Arbeitslosigkeit, zwischen dem Arbeiten in der Freien Szene, im Stadt- und Staatstheaterbetrieb sowie in internationalen Engagements. Das Nicht-Wissen über Arbeitsprozesse und Arbeitsweisen im künstlerischen Theaterbereich verdeutlichte die Berichterstattung und die öffentlich geführte Debatte über Kulturpolitik. Die systemimmanente Leerstelle zum Schutz von künstlerisch Tätigen wurde zum Politikum.
Das Forschungsprojekt Systemcheck des Bundesverband Freie Darstellende Künste e.V., welches gemeinsam mit dem ensemble-netzwerk e.V., dem Institute for Cultural Governance und dem Institut für interdisziplinäre Arbeitswissenschaft der Leibniz Universität Hannover eine Bestandsanalyse anstrebt, ist in diesem Zusammenhang ein Novum: Für drei Jahre sollen die Beschäftigungsverhältnisse und Konditionen von Solo-Selbstständigen und Hybrid-Beschäftigen in der Freien Szene untersucht und im engen Austausch mit politischen Akteur*innen mit Blick auf ihre soziale Absicherung angepasst werden.12 Es belegt die Notwendigkeit, die Grauzone künstlerischen Schaffens nicht weiterhin auf dem Hintergrund eines romantischen Geniegedankens, verknüpft mit einem individuell gewählten Leistungsdruck, zu verharmlosen, sondern eine auf Gegenseitigkeit fußende Aufklärung der Verhältnisse von Arbeit im Theater zu initiieren.
Eine kurze Geschichte der Arbeit
Arbeit ist ein gängiger und hochkomplexer Begriff: Er beschreibt sowohl ein physikalisches Energieverhältnis, eine ökonomische und soziale Form der Teilhabe als auch eine identitätsstiftende und zumeist leistungsorientierte Tätigkeit.13 Definitionen und Verständnis sind sowohl durch historische sowie (inter-)nationale industrielle und finanzpolitische Entwicklungen geprägt, als auch von der spezifischen Situation und Interaktion der Gesellschaft bestimmt, was sich gerade in Momenten der Abweichung – des Nicht-Arbeitens – zeigt: Nicht-Arbeiten kann als selbstbestimmte Auszeit und Freiheitsversprechen einer Studentin, als negativer Dauerzustand eines ›Arbeitslosen‹ oder im Fall von Theatermacher*innen der Freien Szene als Phase der Arbeitsbeschaffung (durch das Schreiben von Projekt- und Finanzierungsanträgen) kategorisiert werden. Sorgearbeit kann sich in der sozialen Figur der ›Hausfrau‹ als weibliche konnotierte und vorausgesetzte Eigenschaft14 oder als Form der Arbeitsteilung in einer Partnerschaft konstituieren. Die Selbstständigkeit eines*einer Theatermacher*in kann sich als extreme Belastung auswirken, als bohèmehafter Lebensstil oder als Vorbote flexibler Arbeitsweisen gelesen werden.
Der Aushandlungsprozess von Sichtweisen und Definitionen mäandert zwischen den extremen Positionen der Naturalisierung (Arbeiten gehört zur Natur des Menschen) und der Kulturalisierung (Wie wir in der westlichen Industrienation Deutschland arbeiten, ist ein Produkt gesellschaftlicher und kultureller Prozesse). Trotz einer unendlichen Vielzahl von individuellen Arbeitsbiografien und Arbeitszusammenhängen dominiert die leistungsorientierte und männlich dominierte Praxis die westliche Arbeitskultur. Diese lässt sich in Bezug auf verschiedene Entwicklungen und Diskursivierungen von Arbeit beziehen:
Erstens: Die aktuellen Erscheinungsformen von Arbeit verändern sich ständig. Der Soziologe Gerd Voß definiert die Beziehung des Menschen zur Arbeit daher als ein »grundlegend ambivalentes Verhältnis«.15
Zweitens: Die Kulturwissenschaften belegen die Ambivalenzen der Arbeit durch die Definition ihrer antagonistischer (Extrem-)Pole: einer Humanisierung/Individualisierung der Arbeit auf der einen Seite und der Enthumanisierung/Mechanisierung auf der anderen Seite, das heißt zwischen dem Beharren auf einem künstlerischen Gestaltungswillen des Subjekts und der Ablehnung einer technischen Rationalisierung seiner Körpermaße und -funktionen. Ein auffälliger Akteur in der Deutung dieser Gegensätze ist die Figur des Künstlers: Die Ökonomen Karl Marx und Friedrich Engels stellen ihren Thesen zu einer »Entfremdung der Arbeit« ein romantisches Verständnis vom Künstlertum, als nicht von seiner Arbeit entfremdeter Arbeiter, als vorbildhaft gegenüber.16 Die Philosophin Hannah Arendt unterscheidet hundert Jahre später in der Vita activa oder Vom tätigen Leben zwischen Arbeit als einer existentiellen Notwendigkeit (animal laborans) und dem Herstellen von etwas als eigenverantwortliche künstlerische Hervorbringung (homo faber). Arendts Konzept nutzt auch die Theaterwissenschaftlerin Annemarie Matzke für die Definition von Theaterarbeit als Prozess zwischen Herstellen und Handeln.17
Drittens: Die Neueinordnung der Künstlerfigur wurde ab den 1990er Jahren zum zentralen Wendepunkt in der Debatte. In Der neue Geist des Kapitalismus (1999) konstatieren Luc Boltanski und Ève Chiapello, dass die »Künstlerkritik« nicht den Anfang vom Ende des Kapitalismus, sondern das Gegenteil bewirkt habe: Der Angriff auf die Konventionen »der alten, familien-kapitalistischen Welt« habe zu neuen und effektiveren, weil schärferen Kontrollformen des Kapitalismus geführt und gleichzeitig auch die Inkorporation »neue [r], individualisierte[r] und ›authentischere[r]‹ Güter in die Warenwelt« bestärkt.18 Das neue Paradigma habe zu einer Kulturalisierung und Ästhetisierung der Ökonomie geführt. Boltanski und Chiapello enthüllen die schöpferische und innovative Tätigkeit der Künstler*innen als produktives Paradigma einer neokapitalistischen westlichen Welt der Profitinteressen und des konsumorientierten Subjekts. Insbesondere Künstler*innen, so ihre These, wirkten nicht als widerständige Kraft gegenüber den kapitalistischen Verwertungslogiken. Sie seien die Anführer*innen eines kulturellen Kapitalismus.
Die Subjektivierung von Arbeit, welche durch Konzepte von Pongratz’ und Voß’ Arbeitskraftunternehmer, Sennetts flexiblem Menschen, Bröcklings unternehmerischem Selbst und Reckwitz’ konsumtorischem Kreativsubjekt aus soziologischer Perspektive diskutiert wurden und werden, wirkt sich auf das Verhältnis der Gegenpositionen aus. Konzepte des Unternehmertums und des Künstlertums werden längst nicht mehr als antagonistische Positionen verstanden, sondern sind zwei Seiten einer Medaille. Das Arbeitscredo der Künstler*innen und Theatermacher*innen nach dem Motto »Doing Work is Fun, Finding the Work is the Job« erfährt eine Demokratisierung und eine Übertragung auf die postindustrielle Arbeitskultur. Theatermacher*innen oszillieren im (historisch gewachsenen) Widerspruch: Einerseits dienen Künstler*innen und Theatermacher*innen als Vorbild für die Subjektivierung von Arbeit, andererseits werden sie als deren Wegbereiter*innen einer unsicher gewordenen Arbeitswelt der Postmoderne verantwortlich gemacht.
Diese holzschnittartige dichotome Behauptung, die in den Gegenwartsdiagnosen meist männlicher Soziologen reproduziert wird, wird in der Debatte zur Systemrelevanz von Künstler*innen und Theatermacher*innen verkompliziert. In dieser steht die Künstlerfigur bereits nicht mehr als Vorbild oder widerständiges Subjekt (als Avantgarde/Vorhut) den anderen Subjekten gegenüber, sondern ordnet sich im kulturellen Kapitalismus als Arbeitssubjekt unter vielen ein.
Im Austausch mit Praktiker*innen und nach einer Analyse ihrer Arbeitspraxis zeigt sich die deutliche Schieflage der soziologischen Interpretationsversuche. Denn inwiefern korrespondiert das daily business der Theatermacher*innen mit den soziologischen Prämissen der Selbstorganisation des kreativen Subjekts, welche zum Großteil durch mediatorische Konfliktbearbeitung, das Schreiben von Anträgen, organisatorische Fleißarbeiten und andere Formen der Büroarbeit bestimmt ist?
Theaterarbeit als Reproduktionsarbeit
Die soziologischen Diagnosen bedienen die Dynamiken der Arbeitswelt offenbar nur in eine Richtung: Sie reflektieren das Gegenwartssubjekt als im hohen Maße selbstoptimiert, flexibel und kreativ. Die Position der Künstler*innen und der Theatermacher*innen wird vernachlässigt beziehungsweise untertheoretisiert. Der Arbeitsdiskurs läuft der Theaterpraxis hinterher.
Die Untersuchung von Arbeitsstrukturen in den Stadt- und Staatstheatern und im Freien Theater hat seit den 2010er Jahren Konjunktur. Während einige Theaterwissenschaftler*innen das Freie Theater als prekären und unsicheren Arbeitsplatz mit spezifischer Arbeitsweise tendenziell idealisieren,19 um aus diesen Bedingungen deren ästhetische Innovationskraft abzuleiten, debattieren kulturpolitische Studien und diverse theaterwissenschaftliche Publikationen mit institutionskritischer Perspektive die enge Verknüpfung zwischen kulturpolitischen Entscheidungen, gesellschaftlichen Debatten und ästhetischen Normen im Theatermanagement20 und in der Theaterorganisation.21
Theatermacher*innen der Freien Szene, so meine Beobachtung, arbeiten ihrerseits bereits an der Überwindung der Dichotomien. Auch im Zentrum der Arbeiten des feministischen Kollektivs Swoosh Lieu stehen die Themen Fürsorge und Care-Arbeit. In Arbeiten wie A Room Of Our Own, Stages of Work und Everything But Solo problematisieren sie die Besetzung des (Theater-)Raums und die (Un-)Sichtbarkeit von Positionen auf der Theaterbühne in Analogie zum politischen Diskurs.
»A Room Of Our Own«
Die französische und englische Wortkombination Swoosh Lieu bedeutet »rauschender Ort«. Der Name impliziert einen doppelten Anspruch: Zum einen geht es der Gruppe darum, die Arbeitsprozesse und Gewerke des Theaters sichtbar zu machen, zum anderen erhoffen sie sich, in ihren Arbeiten die Orte, die sie bespielen, zum Rauschen zu bringen. Das heißt, diese Räume sowohl durch gleichförmige (Gegen-) Bewegungen als auch durch die Erzeugung von Störungen in Form von Bildern, Geräuschen und Perspektiven zu irritieren sowie durch neue Muster/Erzählungen zu besetzen.
Gegründet hat sich das feministische Performance-Kollektiv 2009 während des Studiums am Gießener Institut für Angewandte Theaterwissenschaft. Den Kern bilden Johanna Castell, Katharina Pelosi und Rosa Wernecke. Sie definieren sich als »Performance- und Medienkunstkollektiv«, als »Theatermaschinistinnen« und »Spezialistinnen der Gewerke«,22 was auf ihre intermedialen Arbeitsweisen und Expertisen verweist. Statt vorproduzierte Textmaterialen zu verwenden oder eindeutige Regiehandschriften zu entwickeln, verstehen sie ihre Zusammenarbeit als ein gemeinsames und solidarisches Komponieren. Die Arbeitsbereiche Ton, Licht und Video teilen Swoosh Lieu daher untereinander auf. Kollektives Arbeiten bedeutet für sie nicht, dass jedes Kollektivmitglied an allen Arbeits- und Entscheidungsprozessen beteiligt ist, sondern nach der gemeinsamen Konzeptionsphase auf das Können der anderen Mitglieder zu vertrauen.
A Room Of Our Own – Vorstellung für Browser:in und variables Publikum wurde am 22. Januar 2021 im »Digitalen Mousonturm« uraufgeführt. Swoosh Lieu nimmt im Titel Bezug auf Virginia Woolfs 1929 erschienenen Essay A Room of One’s Own. Woolfs Plädoyer für finanzielle und damit auch räumliche Unabhängigkeit als berufstätige Schriftstellerin nehmen sie zum Anlass für eine Bestandsaufnahme der pandemiebedingten Situation von Frauen* aus dezidiert feministischer und gemeinschaftsstiftender Perspektive, was sich in der Abwandlung des Titels von »One’s« zu »Our« zeigt. Ihr Fazit: »Während wir in der Corona Krise einen feministischen Backlash erleben, verschließen sich für Frauen* immer wieder Türen, werden ihre Räume immer kleiner gemacht oder ganz weggenommen.«23 A Room Of Our Own verfolgt das Ziel, Perspektiven, Sichtbarkeiten, Zugänge und Begrenzungen zum Thema aufzuzeigen und zu aktualisieren.
Swoosh Lieus audiovisuelle Bearbeitung von Woolfs Thesen beginnt im Film mit Kopfhörern mit einer auditiven Positionsbestimmung: Die Stimme Judith spricht erst in das linke Ohr, dann in das rechte Ohr. Sie sei 465 Jahre alt, nicht geboren, jedoch immer schon da. Im Weiteren ist die Inszenierung bestimmt von permanenten Suchbewegungen nach Zugehörigkeit und Sichtbarkeit. Nach der Vorstellung von Judith wird ein leerer (Theater-)Raum gezeigt, dessen Boden von einem einzelnen Scheinwerfer beleuchtet wird, dem die Kamera immer näherkommt. »Wer ist da?«, fragt Judith, und während sie darüber spricht, dass »alle das Theater« vermissen, dessen Systemrelevanz diskutiert wird, wandert der Scheinwerfer über leere Zuschauerränge.
»Ehrlich gesagt, das Theater, das ich vermisse, gibt es nicht«, sagt die Stimme nach wenigen Minuten und markiert die Performance als eine institutionskritische (Re-)Positionierung. Der Suchscheinwerfer suggeriert ein unendliches, unbestimmbares, grenzenloses schwarzes Nichts, während Judith über die ungesehenen queeren, diskriminierten Menschen im Theaterbetrieb spricht, welche gar nicht alle in diesen Theaterraum hineinpassen würden.
Das Bild wechselt vom dunklen Raum zu einem roten Theatervorhang, welcher aufgezogen wird und eine Frankfurter U-Bahn-Station zeigt. Der Schriftzug »Willy Brandt Platz« wird vom schwarzgekleideten Kollektiv mit einem grünen Plakat mit blauer Schrift mit den Worten »Judith Shakespeare Platz« überklebt. Ein Kollektivmitglied trägt bei der Aktion einen Säugling in einem Tragetuch. In den nächsten Szenen wird das Ausstaffieren/Machen von menschlichen Körpern durch die Einbeziehung einer Computerspiel-Ästhetik thematisiert. Eingeblendet werden Sätze wie »glitch normality« oder »be whatever you want«, während eine Art Feuerwerk zu sehen ist.
Im letzten Teil der Produktion tritt eine fiktive Figur auf: Professor Woolf (Mariana Senne), Expertin für Ektogenese. Sie klärt am Modell einer künstlichen Gebärmutter über die Möglichkeit einer elektronischen Plazenta auf, welche von der Krankenkasse bezahlt und die gewünschte Form eines gelingenden Familienlebens ermöglichen würde: die Gender-befreiende Reproduktion und die Gleichberechtigung in der Kindererziehung. Stolz präsentiert sie die Erfindung, die an eine Art Plastiktüte, gefüllt mit grüner Flüssigkeit und diversen Schläuchen, erinnert.
Föten und Glitches – spekulatives Fabulieren eines (anderen) Arbeitens
Swoosh Lieu beziehen sich in ihren Arbeiten auf Autor*innen wie Donna Haraway, Paul B. Preciado und Legacy Russell. Im Sinne Haraways problematisieren und erproben Swoosh Lieu ihre Vorschläge einer spekulativen Fabulation am Beispiel des Fötus und des menschlichen Körpers, aufgelöst in digitale (Spiel-)Welten. Das spekulative Fabulieren wird mit Haraways technokritischen Denken ergänzt. Haraway arbeitet im Aufsatz Fötus. Das virtuelle Spekulum in der Neuen Weltordnung dezidiert zur technologischen Visualisierung des Fötus, welcher zusammen mit dem Planeten Erde die »Zwillingskeimwelten der Technowissenschaften« darstellten.24
Diese Visualisierungstechniken, die den Planeten und den Fötus als öffentliche Objekte sichtbar machten, würden die »ideologische Spannung zwischen Körper und Maschine, Natur und Kultur, weiblich und männlich, tropisch und nördlich, of color und Weiß, traditionell und modern sowie zwischen gelebter Erfahrung und beherrschender Objektivierung […]«25 festschreiben und materialisieren. Haraway beschreibt auch ihre Vorstellung einer möglichen Gegenstrategie:
In Kunst, Literatur und Wissenschaft ist der Gegenstand meines Interesses Technologie, die den Körper zu einer Geschichte macht und umgekehrt – und dabei sowohl das, was als real betrachtet werden kann, als auch die Zeug_innen dieser Realität hervorbringt. […] Ich versuche einige der Möglichkeitsbedingungen jener Geschichten neu zu erzählen, die wir uns als technowissenschaftliche Menschen weiterhin gegenseitig erzählen.26
Die Erfindung des Gebärix und die Darstellung des Lebens in einer »glitch normality« verstehen Swoosh Lieu als Störung und neue Erzählung des Ordnungssystems der (Theater-)Arbeit. Das Fabulieren drückt sich für Haraway im making/Machen von »wilden Fakten« aus, das heißt in der Hervorbringung von Tatsachen, die durch ständige Veränderungen und Modifikationen gekennzeichnet sind. Der Glitch Feminism, ein Begriff, der 2012 von der Kuratorin Legacy Russell vorgeschlagen wurde, re-interpretiert den Glitch/die Störung als eine »non-performance«. Statt eines ungewollten Fehlers im System verstehen Russell und Swoosh Lieu den Glitch als feministische Korrektur, als eine Intervention des fehlerhaften Systems.27
Swoosh Lieu suchen in zwei Räumen, die bereits als männliche gesteuerte Entitäten diskutiert worden sind, nach Störungen/alternativen Formen der Zusammen- und Care-Arbeit: sowohl im digitalen und technischen Raum medialer Kommunikations- und Visualisierungstechnologien als auch im Theater. Diese Parallelisierung ermöglicht dem Kollektiv, von den Rändern zu denken und eine Doppelung der Problematiken der Repräsentation auf der Bühne und im politischen Raum sichtbar werden zu lassen. Swoosh Lieu korrigieren die Fehler im System durch Prozesse des Überschreibens, Experimentierens und Fabulierens. A Room Of Our Own zeigt diese Momente: Die vorgestellten Welten und technischen Erfindungen sind Fabulationen, da sie eine konkrete Community für ein solidarisches Miteinander über den Theaterrahmen hinaus hervorbringen. Sie sind spekulativ, da im konkreten Vorhaben alternative Zukunftsvisionen für ein solidarisches Leben nach der Pandemie gefordert und vorgestellt werden. Haraways Vision eines spekulativen Fabulierens sind in der Performance sowohl als Überlagerungen von technischem Handwerk und Theaterwissen als auch in der Vorstellung alternativer Erfindungen ubiquitär, die die (skizzierte) Geschichte der Arbeit durch ihre Fabulation irritieren.
Swoosh Lieu stellen ihre Forderungen über den Theaterrahmen hinaus zur Diskussion. In einer der ersten Corona-Publikationen problematisieren sie die Auswirkungen der Krise auf die Care-Arbeit:
Covid-19 hat uns wieder gezeigt, was die Basis unserer Gesellschaft ist: bezahlte und unbezahlte Care-Tätigkeiten (und wer diese trägt). Covid-19 hat uns aber auch gezeigt, was wir brauchen: solidarische Gemeinschaften, Nachbarschaften, kooperative und kollektive Zusammenhänge. […] Wir brauchen neue Modelle, in denen wir Leben und Arbeit organisieren, in denen sich unsere Sorgeverhältnisse anders konstituieren können und die auf ganz andere Formen von Gesellschaft (und Kunstproduktion) verweisen. Ein echtes Zuhause.28
Wie ein solidarisches Zuhause aussehen könnte, wird sich in den nächsten Monaten und Jahren zeigen. Festzuhalten ist das eindeutige Bedürfnis nach der Mitgestaltung zukünftiger Formen der (Theater-) Arbeit als einer fürsorglichen Tätigkeit. Die Debatte zeigt die dringende Notwendigkeit eines theaterinternen und eines gesamtgesellschaftlichen Umdenkens im Sinne des Glitch Feminism: als Korrektur eines fehlerhaften (Arbeits-)Systems.
1 Diese Frage wird auch zentral im umfangreichen Spiegel-Coaching »So geht’s mir gut im Job« 2 (2021) gestellt.
2 Schottner, Dominik: »Tipps gegen den Lockdown-Wohnungskoller von einer Astronautin«, in: deutschlandfunk nova, 19. Januar 2021.
3 Gather, Claudia u. a.: »Einleitung« in: Feministische Studien 31/2 (2013), S. 203.
4 Allmendinger, Jutta: »Die Frauen verlieren ihre Würde«, in: Die Zeit Online, 12. Mai 2020.
5 Degele, Nina: »Differenzierung und Ungleichheit«, in: Thomas Schwinn (Hg.): Differenzierung und soziale Ungleichheit, Frankfurt a. M. 2004, S. 392.
6 Vgl. Donna Haraway: »Story Telling for Earthly Survival«.
7 Vgl. Seidel, Martin: »Einkommen ohne Auskommen und umgekehrt«, in: Kunstforum 247 (2021), S. 56 – 73.
8 Wissert, Julia: »Ich will es nicht schaffen«, in: Fanti Baum und Olivia Ebert (Hg.): Programmbuch 2020, Dortmund 2020, S. 21.
10 Vgl. Han, Byung-Chul: Müdigkeitsgesellschaft. Berlin 2010, S. 57.
11 KSK: Meldungen, 24. November 2021.
12 Vgl. Bundesverband Freie Darstellende Künste: Presse, 09. Dezember 2021.
13 Vgl. Reckwitz Andreas: Das hybride Subjekt, Weilerwirst 2006/2020; Kunst, Bojana: Artist at work, proximity of art and capitalism, Winchester u. a. 2015.
14 Vgl. von Redecker, Eva: Revolution für das Leben, Frankfurt a. M. 2020, S. 77.
15 Voß, Günter G.: »Arbeit«, in: Johannes Kopp, Anja Steinbach (Hg.): Grundbegriffe der Soziologie, Wiesbaden 2018, S. 15 – 16.
16 Vgl. Hoesch, Matthias: Marx-Handbuch, Stuttgart 2016, S. 166.
17 Matzke, Annemarie: Arbeit am Theater, Bielefeld 2012, S. 66.
18 Boltanski, Luc/Chiapello, Ève: Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz 2003, S. 506 – 507.
19 Vgl. hierzu die Vorwürfe von Henning Fülle an die Theaterwissenschaft: Fülle, Henning: Freies Theater, Berlin 2016, S. 21ff.
20 Vgl. Schmidt, Thomas: Theater, Krise und Reform, Wiesbaden 2017.
21 Vgl. Mandel, Birgit; Zimmer, Annette (Hg.): Cultural Governance, Wiesbaden 2021.
22 Vgl. https://swooshlieu.com/ueber-uns. (Abruf: 01. Juni 2022)
23 Zitat aus dem Film A Room of One’s Own von Swoosh Lieu.
24 Haraway, Donna: »Fötus. Das virtuelle Spekulum in der Neuen Weltordnung (1997)«, in: Kathrin Peters und Andrea Seier (Hg.): Gender und Medienreader, Zürich u. a. 2016, S. 249.
27 Russell, Legacy: Glitch feminism, London u. a. 2020, S. 15.
28 Swoosh Lieu: »Demokratie Der Mittel«, in: Haiko Pfost u. a. (Hg.): Lernen aus dem Lockdown?, Berlin 2020, S. 133.