Auftritt
Theater Marie: Freunde gut, alles gut
„Dunst. Das Orakel von Kaffmatt“ von Benjamin Burger – Regie und Ko-Leitung Benjamin Burger, Ko-Leitung, Schauspieltraining Dimitri Stapfer, Theaterpädagogik, Ko-Leitung Andrea Brunner, Bühne und Kostüme Mikki Levy-Strasser, Video Michelle Ettlin, Sounddesign/Musik Lara Wedekind, Adrian Würsch
Assoziationen: Kinder- & Jugendtheater Schweiz Theaterkritiken Theater Marie

Die Stimmung passt schon mal. Über Aarau liegt ein Schleier leichten Niesels, als solle man auf dem Weg ins Theater Tuchlaube, wo die Inszenierung unter anderem gezeigt wird, schon mal auf „Dunst“ eingeschworen werden. So heißt das Stück, das Benjamin Burger und Dimitri Stapfer mit den Teilnehmenden der Jungen Marie, dem Nachwuchsprojekt des Theater Marie, entwickelt haben und das den Untertitel „Das Orakel von Kaffmatt“ trägt.
Auf der Bühne ist es ein weiß-milchiger Vorhang, der für die Unschärfe sorgt. Dahinter zupft Sunny (Charlie Nemeth) sporadisch auf einer orange-roten E-Gitarre, ein Bein angewinkelt, das andere ausgestreckt, während das Publikum Platz nimmt. Der durchsichtige Vorhang markiert die Grenze: Das Publikum sitzt im Nebel, der das Dorf Kaffmatt befallen und von der Außenwelt abgeschirmt hat. Wer in den Nebel geht, kehrt nicht zurück, so sagt es die „Nebelpolizei“ und die Erfahrung der Hinterbliebenen. Davon zu erzählen, weiß auch Sunny, dessen Eltern hineingingen, wie später klar wird. Vielleicht auch deshalb erklärt er dem Publikum, nachdem ihm das Zupfen auf der Gitarre öde geworden ist, dass „sich ficken kann“, wer gegangen ist. Ein langer schwarzer Mantel und leicht verzottelte Haar runden das Bild des edgy Teens ab.
Auch Sunnys fünf Freund:innen erscheinen in gewisser Weise wie Farbtöne auf einem Fächer pubertärer Identitätssuche. Da ist Zora (Annina Deubelbeiss), die vor zehn Jahren sicherlich auf Tumblr unterwegs gewesen wäre und, wenn auch etwas weniger pathetisch in ihrem Auftritt, mindestens so sarkastisch ist wie Sunny. Nachwuchspolitiker Natel (Jonas Schaerer) gibt den „Nebelgeborenen“ – denen, „die ohne Horizont aufwuchsen“ – eine Stimme. Cilla (Noemi Klauser) hat drei Jobs und muss für ihre Zukunft deutlich härter schuften als Fabrikantentochter Cleo (Lara Raselli), die das alles trotzdem irgendwie fair findet. Und Matz (Willy Krähenbühl), der die Freund:innen für seinen Dokumentarfilm vor die Linse nimmt und das Bühnengeschehen auf den Nebelvorhang wirft. Treffpunkt der sechs ist eine Aussichtsplattform, einst Touristenattraktion Kaffmatts – seit dem Nebel der ideale Ort, um postapokalyptischen Weltschmerz nachzuhängen und sich mit Schaumwein zu besaufen (im Jugendtheater, empfohlen ab 14 Jahren, ist es natürlich eine Sprühsahnedose, für die die Nebelgeborenen die Köpfe in den Nacken legen).
Es dauert nicht lange, bis die ewige Wiederkehr gestört wird. In Feuerwehrmontur (einer der drei Jobs) verkündet Cilla per Megafon, dass er in diesem Jahr nicht brennen will, der Weihnachtsbaum, den die Kaffmatter:innen Jahr für Jahr anstecken, um dem Tag zu gedenken, als so fast mal das ganze Dorf niedergebrannt wäre (was für Sunny die eigentliche Tragödie ist). Schon bald stellt sie sich dann aber doch ein, die echte Veränderung, nach der die in der Horizontlosigkeit Gefangenen zu lechzen scheinen. Blöd nur, dass das Schicksal ein spalterisches ist. Als ein Golfplatz-Orakel beginnt, auf Pingpongbälle geschriebene Verheißungen aus dem Nebel zu spucken, wird klar: Es gibt ein Leben nach dem Nebel! Nur nicht für alle.
Im Ringen um die Zukunft brechen die Konfliktlinien der ungleichen Freund:innen endgültig auf. Während Cilla zur Uni kann, weil sich ihre Eltern eine „Nebelschneise“ leisten können, wüsste Natel mit dem Geld lokalpolitisch ganz andere Sachen anzufangen und Cilla würde mit ihren drei Jobs auf Lebtag keine Nebelschneise zusammenbekommen. Eine Realität, wie sie nicht nur in Kaffmatt herrscht: Wer vermögend aufwächst, wird sehr viel wahrscheinlicher einen Uniabschluss machen als jemand, dessen Eltern keinen haben. Das dann zwischendurch mal als Fact auf die Bühne zu projizieren, wäre vielleicht nicht unbedingt nötig gewesen. So hart die Tatsache, ist das nicht wirklich eine Neuigkeit. Außerdem weckt die Nennung statistischer Fakten die Erwartung einer analytischen Auseinandersetzung, die dann nicht erfüllt wird. Auch fragt man sich zwischendurch, ob es wirklich realistisch ist, dass Fabrikantentochter Cleo so wenig Empathie für ihre Freundin mit Arbeiter-Hintergrund hat, auch wenn diese Form der Ignoranz (nicht nur) in der Schweiz sicherlich existiert.
Diese wenigen, plakativen Momente lassen einen eine bestechende Portion Selbstironie und der sich durch den Abend ziehende Humor aber schnell wieder vergessen: Wenn die Freund:innen im Chor zusammenkommen, um in selten gesehener Dramatik „Wonderwall“ über die Bretter zu schmettern (natürlich begleitet von Sunnys E-Gitarre). Oder wenn sie sich am Schluss nicht mehr einig sind, für welches Ende man sich entschieden hatte. Das „kitschige“, bei dem Cleo ihr Erbe aufgibt und bei allen Reichen für ein Umdenken sorgt? Oder doch das, wo sie den Mars kauft, damit Zora dort das lange geplante Festival ausrichten kann? Oder das, bei dem Sunny Kaffmatt doch abfackelt? Am Ende ist es dann ein Post-Golfplatz-Festival, auf dem natürlich Matz Dokumentarfilm gezeigt wird, der das Verschwinden des Nebels dokumentiert, wie auch Bande der Freundschaft über Klassengrenzen hinaus.
Erschienen am 18.2.2025