Thema
Endspiel, knallbunt
Die menschliche Komödie vom Schluss her betrachtet – Über den Theatermacher Herbert Fritsch
von Gunnar Decker
Erschienen in: Theater der Zeit: Playtime! – Der Theatermacher Herbert Fritsch (05/2017)
Assoziationen: Volksbühne Berlin
Die kleinsten Geschöpfe werden zu Boten großer Geschehnisse, etwa der Offenbarung vom Ende der Welt. Ob mit oder ohne abschließendes großes Gericht: Vermutlich geht dann schnell zu Ende, was gut und gern noch hätte andauern können (vor allem wollen). Man muss gar keine voreilige Volksbühnenanalogie bemühen, aber Schlussmachen ist vor allem eins: blöd. Herbert Fritsch ist ein Katastrophen-Miniaturisierer ersten Ranges. Das sieht man an der perfektionistisch vorangetriebenen Weltnachschöpfung namens „Pfusch“, wo zuerst einige verhuschte Geschöpfe mit Riesenschleifen in den Haaren aus dem Rohrnetz der ewigen Sehnsüchte hervorkrabbeln, verirrten Mäusen nicht unähnlich. Dann aber tanken sie Kraft, machen herrlichen Krach und geraten in einen zornig über sich selbst dauergrinsenden Schöpfungsrausch. Na ja, nicht ganz das Original, aber fast. Rechne also mit den heute noch Unscheinbaren, sie haben alle wirkliche Macht: die zukünftige. Der Praktikant von gestern ist der Chef von morgen, es wird garantiert hart. Herbert Fritsch ist alt genug – 66 Jahre – das alles zu wissen. Er lehnt sich auch nicht dagegen auf, er ist in seinen Inszenierungen der unauffällige Schriftführer jener Apokalypse, die wir nennen können, wie wir wollen: Am Ende jedenfalls sind wir weg, verschluckt vom Orkus der Zeit. Jemand wie Fritsch hat in solchen Momenten die seltene Chuzpe, noch Tschüss zu sagen, vielleicht kurz zu winken.
Überhaupt besitzt er eine unheimlich scheinende Fähigkeit, die offenbar zu späten schöpferischen Ausbrüchen befähigt: Herbert Fritsch kann sich jederzeit unsichtbar machen. Ich erinnere mich, mit ihm auf einem Podium im Berliner Radialsystem gesessen zu haben. Thema der verordneten Debatte: zehn Jahre Theaterkanal. Die DVD-Zehner-Jubiläumsbox wurde allen Teilnehmern schon mal vorab in die Hände gedrückt. Man musste nicht einmal den Empfang quittieren, hier ging wirklich etwas zu Ende. Eine Handvoll Zuhörer verteilte sich im Saal, vermutlich Begleiter derer vorn auf der Bühne. Immerhin, der Theaterkanal filmte hier – aber strahlte es dann nie aus – seine ganze brutale Zuschauerabsenz.
Der Intendant, der offenbar vom beschlossenen Ende des Kanals bereits wusste, hielt würdige Nekrologe auf sich selbst, und weil sonst niemand etwas sagen wollte, polemisierte ich gegen die Fernsehästhetik des Theaterkanals. Von Großaufnahme zu Großaufnahme blendend, das sei doch Vorabendserienniveau. Der Theaterkanalintendant schaute erst in den leeren Zuschauerraum, dann auf mich, so, als hätte er gerade den Erzengel Michael erblickt. Da versaute ihm ein Ahnungsloser gerade seine schöne Beerdigung! Und was tat Herbert Fritsch? Er nippte genüsslich an seinem Glas Wasser, schwieg beharrlich und schaute aufmerksam zu. Mit anderen Worten, er recherchierte hautnah die traurige menschliche Komödie. Eigentlich macht er das immer und überall.
Jemand wie Fritsch musste zwangsläufig auf Autoren wie Dieter Roth oder Konrad Bayer treffen. Roth ist der Schöpfer von „Murmel Murmel“. Welch Expedition ins Reich jenseits der Sprache! Das ist wie Klettern im Hochgebirge. Oberhalb der Baumgrenze existieren nur noch Moose und niederes Gebüsch. In diese Höhenregionen treibt Fritsch also die Sprache: Zwischen Lauten und Gesten ringen alle Expeditionsteilnehmer schwer um Atem. Man spricht nicht mehr, man murmelt etwas Unverständliches. Das ist wie Wittgenstein, dort, wo er sich nicht mehr zuständig fühlt. Bei Konrad Bayer, der sich 1964, mit nur 32 Jahren das Leben nahm, ringen in „der die mann“ die Worte ebenfalls immerzu um Luft. Gottfried Benn wusste es mit seinem Gedicht „Satzbau“ bereits: Sinn oder Unsinn in der Welt resultiert letztlich aus der Anordnung von Worten. Satzbau ist Falle, und Wörter sind Klanggebilde, ganz im Sinne von Ernst Jandl oder H. C. Artmann. Was für Klänge es sind, hat vor allem damit zu tun, wieviel Luft jemand in seine Lungen zu füllen vermag und wie er sie wieder entweichen lässt. Geht es beim Sprechen zuletzt nicht immer um den messbaren Ausdruck innerer Panik?
Ich bin gar kein Regisseur, sagt Herbert Fritsch gern. Wie man inszeniert, das mögen andere wissen, nicht er. Er baut fantastische Bühnen, denkt sich Kostüme aus – und dann stehen die Schauspieler wie hochnervöse Puppen da, immer kurz vorm Durchbruch zum wahren Leben oder dem Kurzschluss eines Amoklaufs. Was in „der die mann“ wie von Oswald Schlemmer und dem Bauhaus geborgt wirkt, popartig gestylte Figurinen, geht unter Konrad Bayers Text schwer beladen, gebeugt, fast gebrochen. Die Folge: Einzelne Figuren vervielfältigen sich, um die Last überhaupt tragen zu können. Den „ganzen Karl“ etwa gibt es gleich sieben Mal – diese Art graumäusige Multiplikation vermehrt jedoch in Wahrheit nichts, sie löscht aus. Der Kult der Individualität kippt buchstäblich ins Gegenteil: trivialste Vermassung. Das ist die apokalyptische Pointe in dieser von Rhythmus und Choreografie getragenen Fließ- und Stolperstrecke, wo niemand von der Stelle kommt. So sind die Arbeiten von Herbert Fritsch: Puppenspiele für melancholische Metaphysiker, oder wie Max Ernst es nannte, für Pataphysiker. Das ist jene Abart der Seins-Ergründung, die aus der Kombination von Dingen resultiert, die scheinbar ganz und gar nicht zusammengehören. So wie hohe Kunst und Blödelei.
Gerade inszeniert Herbert Fritsch in Zürich „Grimmige Märchen“. Wieder so eine Provokation des allzu simplen Aufklärerbewusstseins: Die Bösen sind grausam, gewiss, aber die Guten ebenso. Die Hexe in „Hänsel und Gretel“ sperrt Kinder in Käfige, um sie erst zu mästen, dann aufzuessen. Zur Strafe wird sie am Ende selbst in den Ofen gestoßen. Was für eine brutale Märchenwelt, ein Spiel mit Urängsten und den kleinen Alltagsversuchungen, die allgegenwärtigen Verbote zu übertreten. Die amerikanische Besatzungsmacht konfiszierte nach dem Zweiten Weltkrieg schon mal Grimms Märchen, weil sie in diesen einen gefährlichen Beitrag zur Ausbildung grausamer SS-Männer erblickte. Aber das ist falsch: Der hier dargestellte Schrecken ist ja bereits seine Bannung in ästhetischer Form.
Das Spiel mit Archetypen ist ein Grundbestandteil aller Inszenierungen von Herbert Fritsch. Man staunt darüber, dass man existiert, man zittert vor Furcht, sobald man ein weiteres Exemplar der eigenen Gattung erblickt, man renommiert, stolziert, lügt sich in die erste Reihe vor, wenn Preise verteilt werden, man huscht wie die graue Maus vom Dienst ins nächste Loch, sobald ein Schuldiger gesucht wird. Es ist die ewig gleiche menschliche Komödie – hier mit den Augen eines Tragöden gelesen, oder zumindest mit einem seiner Augen. Überhaupt, es geht doch immer darum, wie jemand schaut! Das gehört zu den unumstößlichen Einsichten des Regisseurs Herbert Fritsch, der doch immer noch denkt und fühlt wie jener Volksbühnenschauspieler, der er so viele Jahre lang war. Abgesehen davon, dass er sich nun seltsame, oft knallbunte Räume ausdenkt, mitsamt schiefen Ebenen, überdimensionierten Grammophontrichtern, durch die nichts verkündet wird, kraterförmigen Löchern im Bühnenboden, Treppen ins Nirgendwo, verborgenen Trampolinen ... Fritschs Bühnen sind barocke Wunderkammern, nachdem man alles Wertvolle aus ihnen geraubt hat. Der Rest ist eine Frage der Einbildung, also surrealer Weltverzauberung. Das ist zweifellos anstrengend. Wir waren beim Schauen, genauer: beim Glotzen. So wie die Schauspieler in „Pfusch“ angesichts der Zuschauer nichts als ihre Augen haben, sich dagegen zu wehren, betrachtet zu werden. Die Bühne glotzt zurück! Der Hauptfeind bei jeder Kunstausübung, so Fritsch, sei immer der Zweifel. So stark muss die Behauptung des eigenen Ausdrucks sein, dass sie noch den stärksten Skeptiker in Bann schlägt. Zweifeln kann er dann hinterher wieder, aber nicht hier und jetzt. So das Grundaxiom seiner Bühnenästhetik, die sich ihrer manipulativen Wirkung allzeit bewusst ist.
Maskiert euch! Dieser Anspruch gefällt ihm viel besser als alle verbreiteten Versuche der Demaskierung. Demaskieren sei so unkünstlerisch wie eine polizeiliche Maßnahme. Die Maske, so Fritsch, ist das Artifizielle selbst. Ohne Maskierung, als bewusste Künstlichkeit, könne er gar nicht arbeiten. Mittels Maske reisen wir ein Stück gemeinsam durch die Zeit, sie verändert das, was wir unter Wirklichkeit verstehen. Das hat etwas von Ritual, man beschwört die Geister, man zaubert. Masken wirken wie Filter auf die Erkenntnis. Wenn er darüber nachdenke, müsse er demnächst unbedingt etwas mit Masken auf der Bühne machen. Da ergeben sich ungeahnte Möglichkeiten. Die neuen 3-D-Drucker faszinieren ihn. Wie man hier ganze Plastiken aus dem Nichts heraus schaffen kann, das hat schon etwas Gespensterhaftes. Es gespenstert ohnehin viel bei Fritsch. Steigen da unsere bösen Schatten aus dem Unterbewusstsein herauf? Im Schweriner „Biberpelz“ sahen wir einen Aufstand von Mörderpuppen, ein Comic aus Hauptmanns Kleinbürgerwelt. Die wie immer von ihm selbst geschaffene Bühne glich einer Wohnzimmerburg mit verschiebbaren Wänden wie Zugbrücken. Hier hatte man buchstäblich ein kollektives Brett vor dem Kopf. Diese Kleinbürger, das zieht sich durch alle Inszenierungen von Fritsch, sitzen gefangen im Niemandsland zwischen Sinn und Unsinn. Die Kleinbürger – wen wundert es – sind wir selbst.
Wolfram Koch sagt über Herbert Fritsch, bei ihm sei immer „Playtime“ wie bei Tati. „Die (s)panische Fliege“ ist der wohl erfolgreichste Prototyp dieser Inszenierungen. Ein Endspiel für Untergeher, oder das lange Vorspiel zur „Apokalypse“, jenem großen Gericht über uns selbst, in dem Wolfram Koch in hautnahem Kontakt zu seiner Souffleuse die Offenbarung des Johannes spricht. Hat es Koch nicht verrückt gemacht, dass ihm da immer jemand im Höllentempo vorspricht? Das habe, so Fritsch, doch einen tieferen Sinn gehabt: Johannes hört schließlich das Wort Gottes, es ist bereits fertig, er braucht es bloß noch mitzuschreiben, wie ein Medium.
Warum wird bei ihm auf der Bühne so viel geschwiegen? Um die Zeit besser zu bemerken. Sprechen lenkt davon nur ab, es ist die Quelle aller Missverständnisse. Womit wir wieder bei der „(s)panischen Fliege“ sind. Wenn der Senffabrikant Klinke ins Stolpern gerät, dann ist das seine Verbindung zur Apokalypse, ein eher bescheidener Beitrag, aber immerhin. Der Kleinbürger, der Ordnungsfetischist in uns, lebt, um zu stolpern, weil er davor die größte Angst hat. Sieht man einen anderen stolpern in seinem vorgeblich moralischen Lebenswandel, dann ist das für uns ein Anlass über ihn zu lachen – bis wir selbst für andere zum Anlass solcherart Heiterkeit werden. Die Hölle Klinkes, weiß Fritsch, hat er sich selbst geschaffen, was nicht heißt, dass er sie nach Belieben verlassen könnte. Es kreist das Rad der Apokalypse, angetrieben von lauter fleißigen Mäusen, die nicht wissen, was sie tun.
Aber er sei nun mal kein Regisseur, und alle seine Versuche, dennoch etwas auf die Bühne zu bringen, kaschierten das nur auf unzureichende Weise. Der Antrieb, dennoch ein Bild auf die Bühne zu stellen, sei jedoch groß und werde immer größer. Eigentlich sei er lebenslang ein „fauler Hund“ gewesen, aber jetzt, mit 66 Jahren, stürze er von Inszenierung zu Inszenierung. Warum? Irgendetwas treibe ihn an, immer neue Formen auszuprobieren. Es ist wohl die Lust, wie sie im Alter immer beharrlicher nach Dauer sucht: als künstliches Nachschöpfen längst vergangener Anfänge. Der Übermut alternder Männer, komponiert aus Gesten, Lauten und Rhythmen. Eigentlich ist er bloß ein handwerkelnder Bühnenarrangeur, ein bisschen aber auch Magier.
Seine größte Wunde ist, dass er den einmaligen Raum der Volksbühne verliert. Jenes Universum, wie man es in „Apokalypse“ in ganzer Weite erfährt. Alle Stücke am Haus werden zum Ende der Spielzeit abgesetzt. Man wirft sie in den Mülleimer, sagt Fritsch und kann es nicht fassen. „Die (s)panische Fliege“, seit Jahren immer ausverkauft – und nun weg. Eigentlich hat er keine Lust, beim Theatertreffen im Mai den Berliner Kunstpreis aus den Händen des Regierenden Bürgermeisters Müller zu empfangen. Aber Politiker kommen und gehen – und verdient hat er den Preis, das ist klar. Jetzt also inszeniert er in Zürich. Berliner Angebote lehnte er erst einmal alle ab. Er sei kein Label, das man kaufen könne, beschreibt er seine eigene kleine Apokalypse. Als dann Thomas Ostermeier kam, hat er doch mit ihm geredet. Wenn schon Neuanfang, dann gleich richtig. //